Donnerstag, 18. Dezember 2014
Als ich gegen elf Uhr vormittags aus dem Bett des Wikingers klettern will, hält der mich reflexartig fest.
"Wo willst du denn hin?"
-"Heim." Wohin auch sonst? "Du hast doch gesagt, um halb eins holst du deinen Sohn, und ich bin jetzt nicht davon ausgegangen, dass dem die Fickbekanntschaften seines Daddys vorgestellt werden."
"Ach, ich glaube, in dem Fall könnte das ganz nett werden. Und jetzt komm erstmal wieder her, bis halb eins haben wir noch alle Zeit der Welt."

Um halb eins stehe ich dann tatsächlich dem Miniwikinger gegenüber.
Der hat lange Haare wie sein Papa, und umklammert verängstigt dessen Knie, bis er hochgehoben wird und sich effektiver (sprich: In den Haaren des Wikingers) vor mir verstecken kann.
Bringt ihm alles nichts, die Anwohner neben der Kindertagesstätte sind schon seit 10 Minuten am Meckern,weil der Motor des Wikingermobils nonstop laufen muss (sonst springt es nicht mehr an) und das schließlich eine Belästigung sondergleichen darstellt, sodass der große Wikinger sich ihrem Zorn stellt, während der kleine bei mir im Auto geparkt wird.
Erstmal ne Kippe drehen.

Zwei Stunden später sitzen der Miniwikinger und ich auf dem Bett seines Vaters und "lesen".
Instinktiv habe ich mich zur einzig wahren Sicherheitsquelle meines Lebens, dem Bücherregal, geflüchtet, und aus der Reihe, die für den Kleinen reserviert ist, ein paar rausgezogen.
Nachdem wir mit "Wasisdaaas?" - "Das ist ein Bagger", "Wasisdaaaas?"-"Das ist ein Feuerwehrauto" bereits ein Bilderbuch durchgearbeitet haben, will er, dass ich ihm aus einem Kurzgeschichten-Bilderbuch-Hybriden vorlese.
Lesen ist gut, Lesen gibt Sicherheit, man kann sich wunderbar dahinter verstecken und so muss weder ich mich mit meiner Verunsicherung und Abneigung gegenüber Kindern, noch das Kind sich mit seiner Verunsicherung und Abneigung gegenüber Fremden beschäftigen. Als sein Vater verkündet, wir müssen noch zum Supermarkt, Pfand abgeben und Abendessen besorgen, lässt sich der Miniwikinger sogar von mir den Jackenreißverschluss schließen und weicht mir fortan nicht mehr von der Seite.

"Ich find ja, ihr macht das prima", meint der Wikinger, während er Biotomaten auf Schimmel untersucht, von diversen anderen Frauen erzählt und nebenher seelenruhig dabei zuschaut, wie ich seinen Miniklon beständig davon abhalte, mit Vollgas (und seinem Kinder-Einkaufswagen) in einen Stapel Mehlpackungen oder andere Menschen zu fahren, verloren zu gehen oder die Regale leer- und in seine Taschen zu räumen.
"Eigentlich ist das auch nicht anders als das, was ich sonst immer mache. Gut zureden und davor bewahren, Scheiße zu bauen. Und Kinder sind ja eh nur betrunkene Minizwerge. Auch, wenn ich sie trotzdem nicht mag."
Die letzte Bemerkung hat offensichtlich die Aufmerksamkeit einer Vorstadtoma auf sich gezogen, die neben dem Wikinger gestanden hatte und deren Blick sich jetzt auf mich richtet, dann vom Kind zu mir, und wieder zum Kind wandert.
"Hilde! Hilde, da siehs dir an!", zischt sie so leise wie eben möglich in Richtung einer weiteren Vorstadtoma.
Die mutmaßliche Hilde glotzt ebenfalls zu mir, dann zum Miniwikinger, und wieder zu mir.
"Ach, das arme Kind. Nee, also wirklich. Jetzt ist der kleine Wurm ja noch so jung, aber später, später da schämt er sich bestimmt. Unverantwortlich, absolut unverantwortlich, als Mutter so herumzulaufen. Und das arme Kind. Die Haare. da weiß man ja nicht, ob das ein Bub ist oder ein Mädel."
Einfach weitergehen, beschließe ich und lenke den "armen Bub" und seinen Miniatureinkaufswagen in Richtung Orangensaft.
Als er wissen will, was die Omas "böses" gesagt haben, erkläre ich ihm auf kindgerecht-pädagogisch wertvolle Art und Weise (immerhin bin ich im Hauptfach umzingelt von Lehramtsstudenten, das färbt ab), dass es Menschen gibt, die schlecht von anderen Menschen denken, wenn die nicht so aussehen oder sind, wie man das normalerweise gewöhnt ist. Und dass die anscheinend oft ein gesteigertes Mitteilungsbedürfnis haben.
Die beiden Schlussfolgerungen des Miniwikingers:
1. Die sind ja doof.
2. Die haben da was Böses gesagt, da muss sich Papa einschalten.
In absoluter Höchstgeschwindigkeit rennt der Miniwikinger zurück zu seinem Vater, während ich Orangensaft und den Minieinkaufswagen einsammle, den er vor lauter Eile stehen gelassen hat.
Aufgrund geringer Unterschiede unserer Beinlänge bin ich knapp nach dem kleinen wieder beim großen Wikinger und dem Gemüse, und bekomme mit, wie "der arme Bub" markerschütternd laut in Richtung der Vorstadtomas, die an der Kasse stehen, deutend schreit:" Dieeeeeee sind böööööööööseeee Papaaaaaaaaaaaa!"
Empörtes Glotzen und Getuschel an der Kasse.
Dann sehen mich die Vorstadtomas, zählen ihrer Logik folgend eine langhaarige Gestalt plus die zweite, plus das ebenfalls langhaarige Kind zusammen, und wenden sich vertrauensvoll an mich. "Also, was machst du denn mit dem Bub? Der ist ja ganz durch den Wind."
Und in Richtung des Miniwikingers: "Na na, du armer Wurm. Ist doch alles gut."
Woraufhin der Miniwikinger das einzig Vernünftige tut, auf die Omas deutet, ganz leise, und so bedrohlich, wie man das als Zwei- oder Dreijähriger eben kann, "bööööööööööööseeee" zischelt, bevor er sich hinter dem Bein seines Vaters versteckt.
Der zuckt als Reaktion auf die Blicke der Vorstadtomas nur mit den Schultern. "Wenn der Kurze das sagt, wird er schon Recht haben."

Hach, Familienidylle.