Donnerstag, 2. April 2015
Legolas und ich stehen mit unseren Einkäufen (der Mann hat beschlossen, Abendessen zu kochen, und meinen Teil des Vorratsschranks als "trostlose Einöde" bezeichnet), zusammen mit ein paar anderen Menschen, vorm Supermarkt und warten auf den Bus, der schon seit 20 Minuten hätte da sein sollen.

Auch, wenn zwei Faktoren dieser Situation im ersten Moment vielleicht etwas irritierend wirken, eigentlich war alles in Ordnung:
Zum einen scheint Legolas extrem lernfähig und -willig zu sein, sodass er nach einem klärenden Gespräch tatsächlich zum generell recht fähigen Küsser und auch durchaus soliden ("Das ist doch eine Basis, mit der wir arbeiten können") Teilzeit-Bettwikinger mutiert ist, sodass ich beschlossen habe, dass er noch einen Tag hierbleiben darf.
Was Nahrungsaufnahme nötig macht, was dazu geführt hat, dass er kochen möchte.
Pluspunkt.
Zum Anderen kommen Busse prinzipiell immer zu spät, außer, man verlässt sich darauf. Dann fahren sie zwei Minuten zu früh ab und halten selbst dann nicht an, wenn man sich ihnen quasi vor die Reifen wirft.
Eigentlich also friedliche, harmonische und vollkommen normale Großstadtidylle.

Dann kam der Wutrentner.
Menschen, die hochmotiviert Selbstgespräche führen, sind ebenfalls nicht weiter seltsam; Wutrentner, die sich über das Wetter/"die Jugend"/Ausländer/ihre Kinder/ihre Enkelkinder/die Enkelkinder ihrer Kinder/usw. aufregen, auch nicht.
Beides in Kombination kann durchaus interessant werden.

"Unser" Wutrenter sieht in seinem versifften verblichen-roten, unförmigen Mantel und mit den dünnen, fettigen weißen Haaren, die sich unter seiner Mütze Modell "Wollkondom" auf seine Schultern ringeln, tendenziell etwas ungepflegt bis verwahrlost aus, seine beiden vollgestopften Einkaufstüten sprechen allerdings dafür, dass er wahlweise besser über die Runden kommt als ich, oder zumindest deutlich mehr Pfand abgeben konnte.
Als sich die Busverspätungszeit der 25-Minuten-Grenze nähert, kommt er ein paar Schritte auf uns zugelaufen und sein vorher unverständliches Gemurmel wird so laut, dass auch ich es verstehe.
"Jajajaja, der Verkehrsverbund. Alle ausrotten, alle ausrotten. Die haben alle keine Ahnung, und bauen nur so einen Mist. Jajajajaja. Die Straßen, die Straßen sinds! Die sind nicht ausgelegt für so viel Verkehr, die Stadt ist nicht ausgelegt für so viel Verkehr. Verstehnse? Die ist nicht ausgelegt für so viel Verkehr. Deshalb Stau, StauStauStau. Überall Stau. Da ist kein Durchkommen. Die Grünphasen, die sind viel zu kurz. Bei den Ampeln sind die Grünphasen viel zu kurz, und deshalb staut es sich. Und dann ist da kein Durchkommen mehr. Verstehnse?"
-"Äh, ja. Feierabendverkehr ist immer ziemlich anstrengend, da bin ich froh, dass ich nur Bus fahre und kein Auto", pflichte ich dem Wutrentner bei. Legolas beschränkt sich darauf, sich offensichtlich unwohl zu fühlen, was eventuell auch am Gestank des Wutrentners liegen könnte, der mit dem Geschimpfe fortfährt:
"Ich hätte ne andere Linie nehmen müssen. Eine andere. Verstehnse?" Er schlägt sich die Hand an die Stirn. "Aaaaber die ist genauso überfüllt, alles überfüllt. Die Leute, so viele Leute, die wollen alle irgendwo hin. Und dann braucht der Bus eine halbe Stunde für zwei Stationen. Fünfhundert Meter. Ne halbe Stunde. Verstehnse?"
"Weil bei dem ganzen Verkehr kein Durchkommen mehr ist?", startet Legolas doch noch einen Versuch der Kommunikation. Wir sind viel zu nett, alle beide.
"Neeee, wegen den Grünphasen!", korrigiert ihn der Wutrentner, "die Grünphasen! Die sind viel zu kurz! Dann staut sich das, und der Bus kommt zu spät. Weil die alle keine Ahnung haben. Keine Ahnung vom Streckenplanen. Keine Ahnung vom Fahren. Die können alle nicht fahren! Und fühlen sich wie die Könige, wenn sie uns in ihre Busse stopfen können oder wieder rauswerfen. Oder nicht reinlassen."
-"Die können bei euch echt nicht fahren", meint Legolas halblaut, "als wir hier her gefahren sind, habe ich nur darauf gewartet, dass es der schwangeren Frau das Baby aus dem Bauch schüttelt und du aufspringst, "Ich bin ehrenamtliche Rotkreuzlerin, lassen Sie mich durch!" schreist und ich dir bei einer spontanen Entbindung helfen muss."
"Kinder??", ruft der Wutrentner fassungslos, "Kinder könnense doch nicht in diese Welt lassen! Die armen Kinder. Die Grünphasen sind viel zu kurz, da staut sich alles!"
Wäre ich alleine, hätte ich wahlweise schon längst Angst bekommen, oder/und meine Kopfhörer aufgesetzt und möglichst laut Musik gehört. So fühle ich mich nicht ganz so schlimm bedroht, und auch seltsame Wutrentner sollten schließlich mal mit jemandem reden können.
Legolas scheint es ähnlich zu gehen, er will sich gerade eine weitere Unsicherheits-Tarnungs-Zigarette anzünden, als endlich der Bus um die Ecke biegt und im Schneckentempo unsere Haltestelle ansteuert.
"Jajaja, sehnse? Jetzt kommt er an, nicht ein Funken schlechtes Gewissen. Nicht ein Funken. Fühlt sich immer noch wie der König. Meint wahrscheinlich wieder nur "bitte nach hinten durchgehen", nach hinten durchgehen, auch, wenn die Leute sich da schon stapeln. Einfach nach hinten durchgehen, und zur Not können eben nicht alle mit und warten Tage auf den nächsten Bus, ist ja nicht sein Problem, er ist ja der König."
Wir lassen den Wutrentner vor, sodass er nach hinten durchgehen und sich einen der letzten Sitzplätze sichern kann. Zwei weitere Menschen lassen wir auch noch vor, dann steigen wir ebenfalls ein und bleiben etwas weiter vorne stehen.

"Bist du jetzt verstört?", frage ich Legolas, dessen total verdutzter Gesichtsausdruck schon fast ein Foto wert wäre.
-"Menschen", erklärt er. "Menschen. Eigentlich dachte ich, ich hätte schon alle gesehen, aber nur zwei Tage bei dir belehren mich eines Besseren."

Als wir uns mit gefühlt 20km/h ein paar Haltestellen weiter gequält haben und gerade aussteigen wollen, weil wir unsere Faulheit doch noch überwunden haben und es eindeutig schneller geht, den Rest zu laufen, wird das Gemecker des Wutrentners wieder lauter, offensichtlich will er auch aussteigen.

Wir überqueren mit ihm den Zebrastreifen, und bevor er in die andere Richtung seines Weges geht, wendet er sich wieder an uns.
"Sehnse? Sehnse, die Stadt ist nicht gemacht für so viel Verkehr. Aber die, die halten sich für die Könige, denen ist das egal."
Wir nicken und wollen uns umdrehen.
"Aber wenn Luzifer wieder aufsteht, ich sags Ihnen, wenn Luzifer kommt und alle richtet, dann bekommen die ihre Strafe. Dann bekommen die ihre gerechte Strafe."
Der Gedanke scheint ihm sehr viel Hoffnung zu machen, jedenfalls präsentiert er uns etwas, das mehr Mundfäule, Karies und Zahnlücken ist, als Grinsen, und winkt uns zu, während er rückwärts weggeht.
"Luzifer steht wieder auf, und dann sehen die schon, was sie davon haben! Sie verstehen mich, oder?"




Freitag, 20. März 2015
...as we know it




Auf dem Weg zu meinem Termin bei der Frau, die hauptberuflich in seltsame Gehirne schaut, fühle ich mich relativ indifferent, hyperventiliere im Wartezimmer erstmal einfach so vor mich hin und habe auf dem Rückweg vom Heulen ganz verklebte Wimpern, dazu eine Liste, die ich abtelefonieren soll ("Ich darf Ihnen nur 10 Stunden geben, Sie brauchen aber mindestens mal ein bis zwei Jahre wöchentliche Therapie"), die Empfehlung, mir eine Tiefenpsychologin oder Traumatherapeutin zu suchen, und die Info, dass ich neben meiner Depressionsgeschichte auch noch ganz wunderbare Anzeichen einer dissoziativen Störung zeige, was sich aber nochmal jemand anderes genauer anschauen soll, vielleicht bin ich auch einfach nur komisch.

Am Abend davor habe ich Legolas laut eigener Aussage so ein bisschen das Leben gerettet.
Wir saßen vor Skype, stundenlang, er am Ende und ich für ihn der einzige echte Mensch auf der Erde, und er hat geheult und ich zwischendurch fast auch, aber wir haben uns zusammengerissen.
Erst ich, dann er.
Irgendwann hat er sich nicht mehr betäubt und leer gefühlt. Es hat mit Weltschmerz angefangen und sich, zu meinem großen Erstaunen, weiter gewandelt, zu richtiger Motivation, aus der Scheiße rauszukommen.
Ich sage ihm, dass ich das damals, in seinem Zustand, nicht so schnell geschafft habe, wie er, und er meint, er ist ja schließlich auch nicht alleine damit.


Am nächsten Tag (an dem ich ebenfalls meinen ersten Termin hatte) hat er es tatsächlich geschafft, sich in den Terminkalender einer Therapeutin zu quetschen, die erste Sitzung hinter sich, dabei mehr geheult, als ich, und ist ein bisschen verstört von den "Bei Ihnen isses fünf vor zwölf, Sie hätten schon viel früher kommen müssen!"-Aussagen, mit denen er wohl genauso bombardiert wurde, wie ich.

Er muss entscheiden, ob er sich für bis zu 6 Wochen einweisen lassen möchte (was ihm nahe gelegt wurde),
ich stehe wieder vor der unlösbaren Aufgabe, mit fremden Menschen zu telefonieren.
Wir sitzen uns wieder per Webcam gegenüber, jeder mit zwei Katzen neben sich, reden über Antidepressiva, die Sonnenfinsternis, seine Bands und die Kurzgeschichten, die ich früher geschrieben habe, und ich beschließe, dass das gut so ist.

Er hat das Waschlappen-Sein zurückgefahren und das schlechte Gewissen weggepackt, ich habe erfolglos versucht, ihn komplett aus meinem Hirn zu verdrängen; kalter Entzug is nich.
Küssen kann er wohl nach wie vor nicht, als Beziehungsgeschichte würde es nach wie vor nicht funktionieren (damit habe ich bisher kein Problem), aber mir tut es gut, mit ihm zu reden, umgekehrt ist es das Gleiche, und somit lass ich das jetzt erstmal so.


..and I feel fine.




Freitag, 13. März 2015
Tante Emma und ich sitzen, ganz, wie es das Klischee verlangt, jede mit einem Kaffee vor sich im Garten der Uni (Sie erinnern sich, der kaputte Automat. Wir müssen Geld sparen), während sie die Einzelheiten meines Abends bei Legolas wissen will.

"Sooo viel gibts da nicht zu erzählen", sprechen Faulheit und das Bedürfnis, mich wieder etwas runterzufahren, aus mir, "er ist anscheinend ein sehr kuschelbedürftiger Mensch, was so zur Abwechslung ziemlich angenehm war; wenn du von ihm geküsst wirst, fühlt es sich an, als würde er dir dein Gesicht runterfressen, was ich jetzt nicht so geil fand; generell sind wir physisch jetzt nicht so super kompatibel und ich hab nicht die Motivation, da ewig nach Kompromissen zu suchen, weil seine Art zumindest jetzt keine ist, mit der ich dauerhaft in ner Beziehung klarkommen würde.
Aber man kann sich echt gut mit ihm unterhalten."
Tante Emma zündet sich eine Zigarette an, dann fasst sie nochmal zusammen:
"Er kann nicht küssen und nicht vögeln, hat wahrscheinlich wieder rumgeheult, dass das mit euch nicht geht, aber trotzdem in der nächsten Sekunde weitergemacht, und er redet die ganze Zeit wirres Zeug?"
-"Das mit dem wirren Zeug hab ich nicht gesagt."
"Ja, aber wenn du sagst, dass du dich mit ihm unterhalten kannst, dann kanns ja nur wirres Zeug sein."
-"Stimmt auch wieder."

Tatsächlich hatte ich bei Legolas nach langer Zeit mal wieder das Gefühl, mit jemandem zu reden,der mir, so arrogant das jetzt klingt, gewachsen ist.
Ihm scheint diese Kompatibilität, kombiniert mit einer gewissen Anziehungskraft, die ich wohl auf ihn ausübe (Egopush!), enorme innere Konflikte bereitet zu haben, und die Tatsache, dass ich ihn bei entsprechenden Schritten darauf hingewiesen habe, dass ich wenig Lust auf anschließendes Gejammer und Bereuen seinerseits habe, hat es ihm wohl auch nicht leichter gemacht, aber ich bin schließlich nicht für sein Wohlergehen zuständig.

Natürlich habe ich nicht auf dem Sofa geschlafen, und natürlich waren wir ewig wach, und natürlich fand ich es sehr angenehm, mich mit jemandem gut unterhalten zu können, beim Einschlafen im Arm gehalten zu werden, und baden ist zu zweit auch fast angenehmer, als alleine.

Da dem Ganzen aber ein phasenweise sehr, sehr eigensinniger, ziemlich egozentrischer Mann gegenübersteht, mit dessen gegenwärtiger Art ich in einer Beziehung auf Dauer nicht klarkommen würde (zumindest nicht, ohne regelmäßig zum Wikinger zu flüchten, mich auszukotzen und besseren Sex, wenn auch mit weniger kuscheln, zu haben), ich keine Lust habe, mir beim Küssen das halbe Gesicht runterfressen/ansabbern zu lassen (vielleicht habe ich einfach ein absurd kleines Gesicht und er einen absurd großen Mund, wer weiß) und alles, was darauf folgte, auch nicht so der Bringer war, werde ich wohl weiterhin mit einem Buch und einer Flasche Radler/einem Glas Wein baden.

Der große emotionale Zusammenbruch, mit dem ich fast gerechnet hatte, als er meinte, er könne zur Zeit generell keine Beziehung führen (um kurz darauf wieder ziemlich überzeugt festzustellen, wie toll ich eigentlich bin, und sich bei mir ankuscheln zu wollen), bleibt bisher aus.

Der einzige Dämpfer ist gerade mein Hirn, das, total überlastet durch so viel Nähe und das daraus resultierende mehr-oder-weniger Wohlgefühl (abwechselt mit Frustration und Kopf-meets-Tischplatte-Reflex), Endorphine und alles andere rausgehauen hat, als gäbe es kein morgen mehr, jetzt vor leeren Speicherkammern sitzt und vermutlich Entzug schiebt.
Das ist vielleicht etwas unangenehm, aber im Bereich des Erträglichen. Läuft halt so im Hintergrund mit und wurde schon besser, als ich meinem Entzugs-Hirn und mir eine Pizza geordert und versprochen habe, dass wir hier, zuhause, auch mal wieder baden.
Ohne Legolas oder sonstwen, aber die Wanne ist eh zu klein für zwei Personen.
Und so kann ich wenigstens in Ruhe lesen und mein Radler trinken, ohne, dass jemand meine Aufmerksamkeit für sich einfordert.

"Ach, weißte was, wir konzentrieren uns jetzt einfach auf den Katzenmann für dich."
Diese Worte aus Tante Emmas Mund?
-"Aber ich hab gedacht, dass du...-"
"Ich hab grad mehr Auswahl als du, und der Normalo von letztens aus dem Gruftkeller gefällt mir eh besser. Mit dem Katzenmann verstehst du dich, findest den interessant und er hat Katzen. Wenn der jetzt nicht mit der Fotze von Silvester zusammen ist, wär der doch super, oder?"
"Ich weiß nicht, ob mir grad nach menschlichem Kontakt ist..." Da spricht mein selbstmitleidiges Entzugshirn.
"Hab dem Ziegenmann eh schon längst geschrieben, wir treffen uns heut im Pub mit denen. Du kannst dich auch später bei mir bedanken."




Dienstag, 10. März 2015
Edit 2: Betrachten Sie Edit Nr.1 als eventuell hinfällig, gründliches Nachdenken oder/und meine charmante Persönlichkeit haben anscheinend doch eine Art Umdenken angestoßen, jedenfalls wurde mir mitgeteilt, dass ich ja eigentlich recht habe, wenn ich sage, dass er sich schon wieder viel zu viele Gedanken macht, und mein "Einfach mal schauen, was passiert/Alles kann, nichts muss" eigentlich ganz sinnvoll ist.
Jetzt muss ich mir nur noch überlegen, ob ich ihn überhaupt noch sehen will.

Edit: Betrachten Sie das mal alles als hinfällig, dem Herrn ist jetzt eingefallen, dass ich ja die Ex seines Kumpels bin und er deswegen zu viel Angst vor "möglichen Konsequenzen" hat.
Werde mich die nächsten Stunden darum kümmern, die Motten im Bauch zu erschießen.



Die letzten beiden Tage waren unbeschreiblich seltsam; wie das eben ist, wenn man mich mit jemandem zusammen setzt, der genauso wirr zu sein scheint, wie ich, aber noch viel schüchterner, und deshalb ein paar Nächte durchtexten muss, bis er ansatzweise ein paar Schritte in meine Richtung macht.

Ich bin nach wie vor instabil und wohl irgendwo mitten in einem depressiven...Schub,
gnadenlos übermüdet,
und in ein paar Stunden auf dem Weg zu Legolas.


Und ich entscheide mich ganz bewusst dafür, alle Paranoia gekonnt zu ignorieren, einfach mal zu schauen, was passiert, und mich voll und ganz auf mein hibbeliges, voll und ganz positives Gefühl von Verwirrung und die Schmetterlinge, oder, weil ich die lieber mag, Motten, zu konzentrieren, die langsam anfangen, sich in meinem Bauch zu regen.