Mittwoch, 1. Dezember 2021
Die Suche nach einer neuen Mitbewohnerin oder einem neuen Mitbewohner ist ja quasi wie Onlinedating, nur krasser.

Man liest sich so durch mal mehr, mal weniger ausführliche Nachrichten, die mal mehr, mal weniger Massenware sind, hat mal höhere, mal niedrigere Ausschläge auf der Grusel-Skala, reflektiert die Ansprüche und das Suchverhalten, das man so an den Tag legt, und das erste Treffen ist meistens zumindest am Anfang so ein bisschen awkward.
Zwischendurch ein paar Nachrichten, bei denen offen bleibt, ob der Mensch tatsächlich Alarmsirenen loslegen lässt, oder ob es nicht vielleicht nur an der Sprachbarriere liegt.
Gelegentlich schreibt ein Midlifecrisis-Opfer oder ein netter Inder.

Dann ist da das Ding mit der Kommunikation.
Der schwierigen (Abfuhren verteilen) und der verletzlich machenden (Aussprechen, dass man Interesse hat und sich mehr vorstellen könnte, in diesem Fall das Teilen von Wohnstätte und hineinragenden Alltagsbestandteilen).

Und die Sache mit dem Vertrauen - im Anschluss an das Aussprechen darauf vertrauen, dass die andere Person es auch so meint, wenn sie sagt, es gehe ihr genauso.
Und das auch dann wieder können, wenn jemand anderes ein Gegenbeispiel geliefert hat.
Und dann noch jemand.
Und noch jemand.
Und so weiter.

Die Zeit drängt, ich schraube meine Ansprüche runter.
Wäre toll, wenn es keine Zweck-WG ist, wäre wunderbar, wenn es klick macht und so richtig gut passt,
aber das Zimmer muss halt nunmal zeitnah vermietet sein, weil ich die Bude sonst alleine bezahlen muss. Was ich mir aktuell schlichtweg nicht leisten kann.
Also: Keine Gruseltypen, keine Arschlöcher, keine ultimativen Feierflummis, Zahlungsfähigkeit, Katzenverträglichkeit, und gut ist.

So bleibt dann der Grashüpfer übrig.
Der Grashüpfer schreibt (und sagt), dass ihm Kommunikation, soziales Miteinander und der ganze Kram wichtig ist und er auch keine Zweck-WG will, tut das aber vermutlich vor allem deswegen, weil ich geäußert (und geschrieben) habe, dass mir das wichtig ist.
Zentraler Motivationsfaktor für ihn scheint dagegen vor allem die Lage der Wohnung zu sein, die schon isoliert betrachtet wirklich gut ist, und erst recht, wenn man bedenkt, wie übertrieben teuer die Durchschnittsmieten hier in der Stadt (und erst Recht in meiner Ecke) sind.
Somit sagt der Grashüpfer auch bereits in unserem Castinggespräch, dass er es hier echt cool findet und auf jeden Fall einziehen würde.
Außerdem würden seine Eltern die Miete bezahlen.

Ich habe da also eine Option, die mich nicht begeistert, dafür aber aus der Vernunft- und Sicherheitsperspektive ziemlich überzeugend ist.
Da am nächsten Tag noch zwei vorbeikommen und ich immer noch die Hoffnung habe, jemanden zu finden,mit dem es klickt *und* dann auch was wird, sage ich dem Grashüpfer, dass ich mir das gut vorstellen kann mit uns, die zwei Termine aber noch mitnehme und mich im Anschluss melden werde.


Am nächsten Abend kommt der Bär vorbei und haut mich aus den Socken.
Wir sitzen mehr als vier Stunden zusammen und reden.
Keine Smalltalkscheiße, sondern richtig.
Musik, Theater, Welt- und Abgrundschau.
Ich lege manchmal Finger auf und in Wunden, nur die verheilten oder fast verheilten, ganz vorsichtig; vielleicht aus generellem Interesse, vielleicht auch, weil ich da ähnliches sehe. Und er lässt das zu.
Meine zeigen am Horizont ihre Umrisse, nur ein paar einzelne, für mich angesichts meiner anderen vergleichsweise oberflächliche; nur vage, im Nebel. Ich sehe sie, er sieht sie, legt einen Finger drauf, ganz sachte, und irgendwie lasse ich das zu.
Zwischendurch gemeinsames Schweigen, während wir nebeneinander draußen stehen, er Kippe, ich Dampfe, jeder seine Flasche Bier, und abwechselnd runter auf die Stadt schauen, oder rauf zur grauen Nebelmasse, hinter der vermutlich sowas wie Sterne leuchten.
Irgendwas zwischen uns oder von ihm ausstrahlend, magnetisch-elektrisierend-spannungsartig, irgendsowas, unsere Schultern berühren sich, als wir wieder rein gehen und jemand vorbei will, mir bleibt fast das Herz stehen.
Kater Mayhem, der sich sonst bei keinem der anderen auch nur ansatzweise zeigte, kommt aus meinem Zimmer,setzt sich neben den Bären und fängt einfach an, zu schnurren.
Kater Mayhem fühlt sich wohl.
Ich fühle mich wohl.

ICH FÜHLE MICH VIEL ZU WOHL.

Mein Blick auf die Uhr und in die App sagt, dass der Bär los muss, wenn er rechtzeitig am Bahnhof sein und seinen letzten Bus kriegen will, ich nehme das als Brecheisen, um das baumwollfadenzarte Band, das da wabert, auseinander zu schlagen.
Gehe zu meiner Standardabschiedsformel für potenziell taugliche WG-Interessenten über, Danke für deine Zeit, ich kann mir das soweit gut vorstellen, werde dir dann-und-dann schreiben, sag du mir auch gerne Bescheid, wenn's dir taugt oder eben nicht, oder du Bedenkzeit brauchst, mein Zeitplan ist relativ straff.
Irgendwie sowas spule ich ab, an meine Herzwände klopft der Panikmodus, mein Schädel glüht, Fluchtreflex.
Der Bär sagt, er hat am Wochenende noch Besichtigungen, aber ja, natürlich meldet er sich danach.

Dem Grashüpfer habe ich gesagt, ich melde mich heute Abend.
Konnte ja nicht wissen, dass mir sowas passiert.

Der Bär ist weg und ich habe keine zwölfspurige Autobahn im Kopf, sondern fünf weltraumgroße Tornados, die gegeneinander rauschen, sich gegenseitig umpflügen, alles durcheinander, Kernschmelze, nur krasser.

ICH KANN DEN NICHT EINZIEHEN LASSEN.
Viel zu riskant.

Wenn ich ihm zusage, hänge ich in einer Warteschleife, bis er sich entschieden hat; muss mich nicht nur mit dem Warteschleifenschwebezustand, dem ich dann ausgeliefert bin, rumschlagen, sondern gegebenenfalls auch mit einer Absage, und ich hab da halt auch jemanden, der quasi nur noch darauf wartet, dass ich ihm mein ok gebe.

Und was würde passieren, wenn das gerade kein spontaner Hirnkurzschluss ist, sondern so bleibt?
Wenn es nur mich betrifft, ist da zu viel Schmerzpotenzial.
Wenn es nicht nur mich betrifft, ist da noch viel mehr Schmerzpotenzial.

Ich gehe eine Runde spazieren, so langsam und bewusst, wie das eben geht, wenn das Hirn im Krisenmodus ist, lasse mich über meine Kopfhörer von Fäulnis anschreien, wie man das eben so macht, wenn im Schädel Sturmflut ist, und beobachte mich gleichzeitig aus der Vogelperspektive, weil der Dissoziationsnebel anklopft.


Ich kann den hier echt nicht einziehen lassen.
Viel zu riskant.

Wieder zuhause schreibe ich der Anderen, die heute da, aber so ereignislos nett war, dass ich sie ganz vergessen hatte, und sage ihr ab.
Gehe nochmal in mich.
Weise mich darauf hin, dass es wirklich ungünstig wäre, wenn ich den Grashüpfer vergraule und dann im Fall einer Absage des Bären ohne Mitbewohner da stehe.
Der Grashüpfer hat zugesagt, und die Wohnung liegt für ihn, seine Arbeit und seine Studienfächer dermaßen optimal, dass es schlichtweg nicht besser geht, und erst recht nicht zu dem Preis.
Somit ist der Grashüpfer eine sichere Nummer.
Und noch dazu eine, bei der ich mich darauf verlassen kann, dass das Geld pünktlich da ist.

Dreimal tief durchatmen.
Nummer raussuchen.
Ich schreibe dem Grashüpfer und sage ihm, dass er einziehen kann.
Der Grashüpfer schreibt, trotz der Uhrzeit, direkt zurück, bedankt sich, sagt Bescheid, dass er Mitte des Monats einziehen würde und bei Bedarf eine Elternbürgschaft parat hat.
Schaffe eine freundliche Antwortnachricht, sogar mit Lächelsmiley.
Zur tatsächlichen Freude reicht es gerade nicht, dafür fühlt es sich zu nachhaltig danach an, die falsche Wahl getroffen zu haben.
Aber hey, ich muss meinen Gefühlen ja nicht immer alles glauben, und objektiv betrachtet ist das hier gerade ziemlich wahrscheinlich die bessere Entscheidung. Und schließlich kann ich ja auch nicht wissen, ob der Bär nicht eh abgesagt hätte.

Dreimal tief durchatmen.
Die Nummer des Bären muss ich nicht raussuchen, die hab ich bereits vor unserem Termin, nach seiner ersten Nachricht, gespeichert.
Nochmal durchatmen.
Ich schreibe dem Bären, dass ich mich für seine Zeit und das Gespräch bedanke, das Zimmer aufgrund einer festen Zusage des anderen für mich sympathischen Bewerbers aber vergeben ist, und ich ihm viel Erfolg für die weitere Suche wünsche.
Schreibe ich noch, dass wir trotzdem gern auch mal so ein Bier trinken und reden können?
Nein, viel zu riskant. Sonst merkt der noch, was mit mir los ist.
Korrekturlesen.
Abschicken.
Muss das jetzt sein, dass ich mich so elend fühle?

Mail an die Vermieterin, dass ich einen Nachmieter für den Noch-Mitbewohner gefunden habe.

Warten darauf, dass dieses Gefühl der falschen Entscheidung weg geht oder wenigstens schwächer wird.

Verdränge den Impuls, immer wieder zu schauen, ob/was der Bär antwortet, oder doch noch hinterher zu schieben, dass ich den Kontakt gerne aufrecht erhalten würde.
Falls er das von sich aus schreibt, ok, kann man vorsichtig drüber reden.

Ansonsten Abstand halten.
So viel wie möglich.
Und aus dem Hirn verjagen.
So bald wie möglich.




Montag, 6. September 2021
Nachdem ich gerade so vorm Blog saß und versucht habe, nachzuvollziehen, wie spät genau ich mit der Abgabe einer ganz spezifischen Hausarbeit bei einer ganz spezifischen Dozentin dran war, dachte ich mir, ich könnte eigentlich mal wieder ein Lebenszeichen hier rein werfen.

Die Hausarbeit ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt überfällig, weil Boxkämpfe mit Hirnsumpfgestalten tendenziell etwas zeitfressend sind und die Kollateralschäden von über einem Jahr Existenzangst plus Pandemiebonus irgendwie immer noch hier rumhängen (Fun fact: Wenn der Dauerstress halt einfach mal nicht aufhört, Dauerstress zu sein, sondern lediglich seine Gestalt ändert, helfen auch zwei, drei Tage Pause nicht).
Vielleicht auch, weil ich kein junger Gott mehr bin; das erscheint mir ja öfter als eine mögliche Ursache des Umstands, dass ich sowas wie Belastungsgrenzen habe, die immer mal wieder im Widerspruch zu den Forderungen der Realität und meinen Ansprüchen an mich selbst stehen.

In einem großartigen Akt der Selbstliebe habe ich eine andere Prüfungsleistung abgebrochen und somit den potenziellen Totalabsturz aufgeschoben. Weil ich es irgendwie trotz meines gefühlten Wracklevels von etwa 7,9 auf der Titanicskala geschafft habe, eines meiner beiden Fächer so gut wie abgeschlossen zu haben (es fehlt nur noch dieses eine Modul), obwohl die Regelstudienzeit noch nicht erreicht ist, ging das auch ganz gut klar. Brauch eh länger, im zweiten Fach bin ich lange nicht so weit.

In einem weiteren großartigen Akt der Selbstliebe habe ich im Ringkampf mit der hier relevanten Hausarbeit beschlossen, absoluten Belastungsgrenzen mit sowas wie Toleranz zu begegnen.
Mehr als einmal durchmachen war nicht mehr drin;
am Folgetag habe ich zudem beschlossen, aus Gründen der Wahnsinnsprophylaxe meine Medikamente zu nehmen, obwohl die müde machen und krass hungrig, aber das ist eine andere Baustelle. Selbstliebe und so.
Jo, und deswegen ist die Hausarbeit jetzt halt einen Tag überfällig.
Und weil ich sie erst heute fertig gekriegt habe, im Anschluss einen zweistündigen Druckerkrieg gegen Papierleer (bei vollem Papierfach), unbekannte Fehlermeldung, Papierstau, weitere unbekannte Fehlermeldung, Papierleer, undsofort geführt habe, werde ich sie erst morgen abschicken können.
Das heißt, sie kommt frühestens am Mittwoch an.



Naturgemäß stürzt mich das in abgrundtiefe Angstspiralen.
Die waren schon beim schreiben schlimm, weil mein Hirn dazu tendiert, eher meinem gelegentlich verschobenen inneren Bewertungssystem und dem Muttergeist zu glauben, wenn es um die Einstufung meiner Kompetenz geht, und weniger Freunden, Dozenten, Unikollegen oder solchen Lappalien wie einem bestandenen akademischen Abschluss und einem bereits zur Hälfte erledigten zweiten, der bisher notentechnisch so gut aussieht, dass ich eigentlich nicht vor Angst, sondern vor Freude Herzrasen kriegen sollte.

Das kuriose an der Angst ist ja, dass man sie nicht so wirklich beruhigen, sondern letztlich nur aussitzen kann. Rationale Argumente beeindrucken sie nicht so richtig, und selbst, wenn sie sich doch von einem überzeugen lässt, oder sich das Problem auf andere Weise löst - die Angst macht keinen Feierabend, die hüpft einfach weiter.
Erst sieht sie inhaltliche Mängel, weil ich ihren Anspruch, einen komplexen Sachverhalt vollständig darzustellen, zu diskutieren und bewerten nicht erfülle.
Wenn sie dann den Hinweis darauf, dass das auf rund 20 Seiten nicht möglich ist, geschluckt hat, geht's weiter mit Sprache und Stil.
Man könnte es besser ausdrücken, präziser schreiben, lange Sätze sind Bandwurmmonster, kurze Sätze sind zu knapp, und es soll ja nicht nur inhaltlich korrekt sein, sondern auch ein angenehmes Lektüreerlebnis bieten.
Wenn ich dann, trotz der Zweifel am Inhalt und des in Dauerschleife wiederholten (durchaus nicht falschen) Hinweises, dass man so ziemlich alles besser schreiben kann, und der (durchaus nicht richtigen) Schlussfolgerung, dass jede Hausarbeit ein sprachliches Meisterwerk sein muss, doch geschafft habe, das Ding fertig zu kriegen, geht's weiter mit den Visionen des Versagens durch höhere Gewalt.
Die Dozentin könnte beschließen, mich aufgrund des verspäteten Eingangs durchfallen zu lassen.

Womit wir wieder am Ausgangspunkt der Mottentanz-Auferstehung wären.
Faktisch kann ich nicht sicher vorhersehen, wie die Dozentin auf eine Arbeit, die zu spät eingegangen und sprachlich oder/und inhaltlich nicht perfekt ist, reagiert.
Der Versuch, doch eine eindeutige Erkenntnis aus der Wahrscheinlichkeitenglaskugel zu ziehen, ist dabei zu gleichen Teilen Sicherheitsbedürfnis und Kontrollzwang.

Die Angst und ich führen einen Indizienprozess, in dem jede Handlungsoption falsch ist.
Arbeit schon mal per Mail einreichen - Nein, dann sieht sie, dass du sie erst zu spät fertig geschrieben hast, und nimmt sie vielleicht nicht an, außerdem hat sie gesagt, du sollst das per Post schicken, und vielleicht denkt sie dann, die Verspätung ist deren Schuld und nicht deine.
Arbeit per Post schicken - Fuck, die kommt frühestens übermorgen an, das ist zu spät, die lässt dich dann einfach durchfallen.
Die letzte Arbeit kam auch erst ein paar Tage später bei ihr an und das ging klar - Ja schon, aber bei der letzten Arbeit hat sie gesagt, dass ein paar Tage später ok sind, und es waren nur ein paar Tage später nach dem *regulären* Abgabetermin. Diesmal hast du vorher um eine längere Abgabefrist gebeten und die Arbeit ist trotzdem nicht pünktlich bei ihr.
Mail schreiben und sich vorab für die spätere Abgabe entschuldigen - SCHAMGEFÜHL LEVEL 39295291, und wolltest du nicht üben, dich nicht mehr so oft für Sachen zu entschuldigen?
Keine Mail schreiben - Du wirst durchfallen.
Im Indizenprozess gegen die Angst lässt es sich nicht wirklich gewinnen.

Also höre ich auf, mit ihr zu diskutieren, scheuche meine Mutter wieder in ihre Ecke, die Frau ist schließlich seit 14 Jahren tot, und tue das, was ich halt so mache: Mitte suchen zwischen Verdrängung und Tiefensturz, Aussitzen, Weiteratmen.
Zwischendurch freischreiben, dann und wann große Erkenntnisse, selten Momente der ersehnten stabil-mittelmäßig-langweiligen Normalität (ich bin immer noch der Meinung, dass die viel zu wenig Wertschätzung erfährt und viel zu oft als selbstverständlich angesehen wird).
Gelegentlich passiert dieses ominöse "sich spüren"/In-sich-selbst-sein; wie gewohnt vor allem dann, wenn ich ins Extrem gehe.
Freundeskreis nach wie vor nicht vergrault; Kater alt, aber lebendig, Katze langsam auch alt, aber im Rahmen des Möglichen gut in Schuss.
Die psychische Geisterachterbahn fährt noch, Theater und Festivals als Hauptventile pausieren immer noch.
Krisendurchschiffen und -überstehen passiert nicht aus Hoffnung,Optimismus oder besonderer Begabung, sondern aus reinem Trotz und ausgeprägter Sturheit (immer noch).

Sie kennen mich, ich komme zurecht.




Montag, 5. April 2021
Hab Sonne im Herzen Chaos im Zimmer, Kopfkrieg im Schädel und bald ein Bachelorzeugnis in der Hand.
Alles bestanden, alles verbucht, fest im Master immatrikuliert und da auch schon fast zur Hälfte durch; hätte ich nicht eine Leistung in den Bachelor umbuchen müssen (endlose Dankbarkeit an den Typen, der das, und damit mein weiteres Studium, möglich gemacht hat) und eine andere Mitte März doch nicht abgegeben, würde ich den sogar in mustergültiger Regelstudienzeit packen.
So dauert es eben ein Semester länger, aber das ist ok.
Dauert es aufgrund der umgebuchten Leistung sowieso; dass ich die MitteMärzAbgabe geschmissen habe, ändert daran auch nichts, wenn es auch etwas ungünstig ist, dass der einzige im kommenden Semester dafür angebotene Kurs jetzt anscheinend entfällt. Mit Blick auf das letzte Jahr, seine Kollateralschäden und den Umstand, dass ich wundersamerweise trotzdem einen Abschluss hingekriegt, mir ein regelmäßiges Sportprogramm angewöhnt, weder die Uni, noch meine Existenz hingeschmissen, die Therapie inklusive aller hässlichen Traumakonfrontationen weiter durchgezogen und sporadisch sogar Sozialkontakte gepflegt habe, erschien (und erscheint) es mir legitim, ein bisschen früher in die Ferien zu starten und einen Kurs zu schieben. Auch, wenn es nur um ein Protokoll gegangen wäre und ich genug Notizen hatte.
Irgendwann is' auch mal gut, als Captain des mentalen Äquivalents einer Horde verstörter Waisenkinder, die auf einem Geisterschiff Achterbahn durch einen radioaktiv verseuchten Sumpf im Weltall fahren, habe ich schließlich eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der Truppe. Schließlich navigieren wir in nahester Zukunft nicht nur durch ein neues Semester, sondern müssen dabei auch die Finanzen sicher stellen, eine Masterarbeit planen, Praktika sammeln, einen Berufseinstieg vorbereiten und nebenher einen potenziellen psychischen Totalausfall wahlweise abdämpfen, aussitzen oder sogar elegant umschiffen.

Hab ich hier mal das Zitat aus einer meiner Bachelorarbeitsquellen zum Theater des Absurden aufgeschrieben? Hätte ich mal machen sollen.
Das Zitat sagt so grob, die Würde des Menschen liege darin, das Schicksal in seiner ganzen Skurrilität und Absurdität annehmen und darüber lachen zu können, und genau das hat sich als nachhaltigste aller Bewältigungs- und Überlebensstrategien erwiesen.
Nicht erst heute, oder gestern, oder letzten Monat, oder im letzten Jahr.
Auch nicht immer schön; keiner sagt, dass lachen, oder überhaupt irgendwas, immer schön oder schmerzfrei wäre, und es klappt auch nicht immer sofort, oder überhaupt.
Muss es auch nicht.


Aber manchmal, da schaue ich mir meine Biografie an, als Gesamtlinie oder in Einzelstationen und denke mir, es gibt zwar keine höhere Macht und keinen tieferen Sinn (muss es auch nicht - ich persönlich finde es ja durchaus befreiend, dass Sinnstiftung allenfalls durch das Selbst erfolgen kann), aber hui, der imaginäre Regisseur beherrscht sein Handwerk oder hat zumindest ein verdammt gutes Drehbuch. Diese Figuren! Diese Handlungslinien! Und vor allem die Plot Twists!
Maximale Emotion bis in den tiefsten Abgrund und zurück, maximale Spannung, maximale Skurrilität. Kannste dir nicht ausdenken, sowas.
Wenn Gott existiert, dann ist er ein Theatermensch und der Zufall sein Dramaturg.






Donnerstag, 4. März 2021
Eine Masterleistung aus dem Plan rausgehauen, dafür die beiden fehlenden aus dem Bachelor pünktlich abgegeben.

Eine verbucht, im Eilverfahren. 3,0 ist nicht hübsch, aber auch kein Drama.
Die zweite in Korrektur, das große Bangen.
Nicht ums Bestehen, es ist eine der schönsten Hausarbeiten, die ich bisher produziert habe. Sondern um pünktliche Verbuchung, pünktlichen Zeugnisantrag und dessen pünktliche Erfüllung, pünktliche Abgabe einer beglaubigten Kopie, pünktlichpünktlichpünktlich, alles hängt an der Bürokratie.

Papa Mayhem ist bereit, mich für zwei Monate so weit finanziell zu unterstützen, dass ich mich psychisch wieder berappeln und nebenbei einen Job finden kann, dessen Einkommen den Studienkredit ersetzt und die Zinszahlungen abdeckt.

Die Sonne kommt manchmal raus, und überall sind Leute, die im Park Sport machen und zum Friseur gehen, um sich für die dritte Welle schick zu machen.

Mein Angst-Ich ist überzeugt davon, dass die Vermieterin mich zerlegen wird, weil der Handwerker eigentlich nur eine Armatur austauschen wollte, dann meinte, die Fugen müssen neu, er kommt wieder, und dann meinte, im Waschbecken ist ein Sprung, das muss auch neu.
Hab ich das verursacht? Nee.
Habe ich das Waschbecken für austauschwürdig gehalten? Auch nee.
Trotzdem Angst, dass es heißt, ich hätte mich nicht gekümmert, nicht gut genug oder nicht schnell genug oder beides, und dass deswegen die Hölle losbricht und mir alles um die Ohren fliegt.
Angst-Argumentation funktioniert so. "Etwas passiert, und dir wird alles um die Ohren fliegen, denn du bist Schuld."
Extremachtsamkeit, Warnsystem auf Maximum, jeder Reiz eine Napalmbombe, jederzeit bereit, um alles zu kämpfen, weil die Realität jederzeit plötzlich weg sein oder implodieren kann.
So funktioniert Trauma.

Jederzeit davon ausgehend, um alles kämpfen zu müssen, weil die Realität als so ein fragiles Ding erscheint.

Ich kenne mein Angsthirn, also sitze ich es aus.
Pandemiemärz am Schreibtisch, ich höre meinem Hirn zu, das dem Handwerker zuhört, der im Bad vor sich hin scheppert und Placebo zuhört, weil er das beim Arbeiten motivierend findet.

Mein Handy informiert mich darüber, dass ich Freunde habe, die mit mir ein virtuelles Bier drauf trinken wollen, dass ich das Bachelorstudium hinter mir habe und bald auch alle Prüfungsleistungen des Semesters.
Bei jeder neuen Nachricht zuckt das Angsthirn zusammen und haut den Blutdruck hoch, Überachtsamkeit, weil mitten in einer Situation, die sich nach potenzieller Realitätsvernichtung anfühlt, ausgelöst von einem Waschbecken und ein paar Silikonfugen.
Halber Herzinfarkt, als plötzlich der Staubsauger im Bad angeht,sogar die Katzen erschrecken sich mehr vor meinem Erschrecken als vorm Staubsauger an sich.
Atmen, aussitzen.
Jemand aus der Festivalgruppe schreibt, dass ich mich ruhig freuen darf, den Unikram hinter mich gebracht zu haben, weil ich den bestimmt gerockt habe und das mit den Fristen schon klappt. Dass er stolz auf mich ist und ich das auch sein darf.
Staubsauger aus, Blutdruck runter.
Raschelndes, kratzendes Geräusch im Bad, Blutdruck hoch.
Der Thekenzwerginmann schreibt, SIEHSTE, ich sach doch, du hast's drauf. Vertrau drauf, dass du dir dein eigenes Leben baust, du kannst das nämlich, bist grad mittendrin dabei und zeigst einfach allem, was sich dir in den Weg wirft, den Mittelfinger.
Mein Hirn beschwört wieder die Katastrophe der wütenden, oder enttäuschten, oder mich rauswerfenden Vermieterin. Ich frage es, ob das Multitasking nicht stressig ist - Uniängste, Vermieterinängste, Finanzängste, das muss doch anstrengend sein, dauernd mit Horrorvisionen um sich zu werfen.


Mittlerweile kenne ich das, und mittlerweile kann ich das.
Angsthirn aussitzen, Freunde haben, meiner Mutter posthum durch meine Existenz den Mittelfinger zeigen, Prüfungsleistungen pünktlich abgeben.
Und darauf vertrauen, dass es eine Realität geben kann, die tragfähig ist.
Muss(te) sie mir halt selbst erarbeiten. Und mit dem Schock umgehen, wenn sie dann tatsächlich passiert und ich mittendrin im großen Trotzdem bin.

Vielleicht kann ich mittlerweile auch das.