Dienstag, 2. Juni 2020



Allgemeine Hirnüberlastung, mittlerweile hinterfragen allerdings etwa 10% meines Verstandes die anderen 90%, die von Rückschritt oder absolutem Stillstand, in jedem Fall aber unausweichlichem Super-GAU sprechen.
(Dory hat mal gesagt, Stillstand sei das Aufrechterhalten eines erreichten Zustands, es überführe diesen in den dauerhaften Bereich und gelte somit auch als Fortschritt).

Die Arbeit an der Abschlussarbeit ist nach Bestätigung der Fristverlängerung temporär pausiert, weil der Gottimperator eines Masterseminarprojekts beschlossen hat, dass das Ding noch vor dem Ende der Vorlesungszeit fertig sein muss.
Ich bin mit Zwischenschritt 1 mittlerweile eine Woche zu spät dran, eigentlich sollte Zwischenschritt 2 bis spätestens übermorgen erledigt sein und generell grenzt die Mission so ein bisschen an Wahnsinn, Prüfungsleistung und -zeitpunkt sind allerdings alternativlos.
Kurz Krise, dann Mail schreiben, dann: "Sie hatten ja einen Nachteilsausgleich bis letztes Semester. Sofern Ihre Einschränkungen noch bestehen, gehen wir jetzt einfach mal davon aus, dass er verlängert werden wird und Sie arbeiten einfach so zügig wie möglich".
Kurz Krise, weil das keine absolut klare Zeitangabe ist und außerdem wieder irgendwas aus dem Hirnsumpf ruft, dass ich Dinge gar nicht so gut und zügig mache wie möglich, sondern mich nur anstelle, nur Ausreden suche, nur faul bin. Dann packe ich das Projekt auf die Liste der akuten Monstrositäten, auf eine mehr oder weniger kommt's bei der Gesamtbilanz eh nicht mehr an.
Auch nicht darauf, ob da was unwahrscheinliches oder was beinahe-unmögliches erledigt werden muss.
Die Gesamtbilanz sagt nämlich, dass ich genau das kann.


Die Hirnüberlastung wird manchmal von tatsächlicher Erschöpfung abgelöst, die im Vergleich zum Kopfkrieg deutlich einfacher zu handhaben ist. Sie ist rational und logisch, und sie hat Manieren. Sie nimmt mich ebenso ernst wie ich sie; weiß, dass es in den nächsten Monaten keine nachhaltige Entspannung geben wird, und ist daran interessiert, Kompromisse auszuhandeln, die ihr ebenso weiterhelfen wie mir und dem Zukunfts-Ich.

Die Erschöpfung verordnet mir eine mehrtägige Pause und lässt nicht mal vom Kopfkrieg Widerworte zu.
Ungefähr 30 Seiten für's Masterseminarprojekt gelesen, ein paar Sätze geschrieben, mehr nicht. Zwischendurch mit Tante Emma telefoniert, weil sie das gerade braucht. Mental davon verabschiedet, sie aus der Beziehung zu dem grenznarzissistischen Spinner, der ihr Verlobter ist, rausholen zu können. Bin es Leid, die immergleichen, immer wiederkehrenden Probleme mitzufühlen, mitzudenken und das immer wieder, immer gnädig, jedes Mal, wenn sie wieder zurückrudert oder relativiert.
Kann sie verstehen, sagt sie. Sie hat irgendwie schon auch das Gefühl, dass da was nicht passt, aber er kann ja auch nett sein. Dann muss sie auflegen, weil er ist grad aus seinem Nachmittagsschläfchen aufgewacht und regt sich auf, dass sie auf dem Balkon sitzt, auf den er sie befohlen hat, weil er sonst nicht schlafen kann.
"Ok."
Ich investiere da nicht mehr. Erschöpfung macht nicht emotionslos, aber pragmatisch.

Wäsche waschen, ein paar Pflanzen umtopfen.
Selbst das ist ein immenser Kraftakt, wie auch das Pause machen an sich, weil der Kopfkrieg keine Ruhe geben will. Die Stimme meiner Mutter gibt ein Geisterachterbahnkonzert.
Ich teile ihr mit, dass sie ganz schön selbstbewusst ist für jemanden, der in keinem einzigen Lebensbereich je das erreicht hat, was ich schon jetzt geschafft habe, und der seine gesamte Zeit damit verbringt, andere sabotieren zu wollen, um nicht mit dem eigenen Versagen konfrontiert zu werden und um davon abzulenken, dass er vielleicht nicht am Ursprung, wohl aber an Umfang und Dauer seiner Misere selbst schuld ist. Es gibt kein Erbe, das nicht ausgeschlagen werden kann.

Beschließe, dass ich jetzt lerne, freiwillige Pausen zu machen und sie auszuhalten, auch, wenn irgendwer aus dem Hirnsumpf meint, dass das so nicht geht und alles viel zu lange dauert (hab schließlich besseres zu tun, als auf betrunkene ü40-Frauen zu hören, die seit 13 Jahren tot sind).


Im Zuge dieser Maßnahme auch die Thekenzwergin und ihren Mann besucht; der erste (zwischen)menschliche Kontakt seit März.
Also, emotional, nicht physisch.
Maske im Bus, Abstand auf der Dachterasse.
Trotzdem: Menschen.

Der Thekenzwerginmann grillt, die Thekenzwergin macht Unisachen und Hundadoptionssachen. Wir sitzen in Campingstühlen und trinken Bier, zwischendurch schauen Leute aus Fenstern, betreten ihren Teil der Terasse oder gehen wieder rein, weil es langsam kalt wird.
Die Gegend ist sehr sauber, sehr modern und sehr teuer; wären wir nicht auf dem Dach eines riesigen hässlichen Betonklotzes, würde ich sie 'nobel' nennen.
Trotzdem sind irgendwie alle freundlich. Man winkt uns, wünscht weiterhin gute Gesundheit und noch einen schönen Abend.

Die Thekenzwergin, einzige Studentin unter den Mitgliedern der 593919345124921 Mietparteien sagt, sie war anfangs auch verwirrt, man gewöhnt sich aber dran und meint damit den Klotz ebenso wie eine Realität, in der Dinge plötzlich gut werden.
In der man nach geschmissenem Erststudium und Fachwechsel auf einmal kurz vorm Bachelor ist, während man den Master angefangen hat, in ein paar Wochen die erste Abschlussarbeit abgeben wird und irgendwie scheint es tatsächlich zu klappen.
In der Geldsorgen bewältigbar sind und auch die Angst.
In der glückliche Ehen passieren, weil neben diesem Liebe-Ding, das sich auf Menschen bezieht statt auf Projektionen, auch die Kommunikation funktioniert, konstruktiv, respektvoll und ehrlich,wie man das so macht, und die Punkte auf der "Ich brauche das"-Liste der menschlichen Eigenschaften erfüllt sind.
In der Omas nach Afrika auswandern, aber trotzdem zweimal im Jahr selbstgestrickte Socken schicken.
Und Eltern über ein derart unerschütterliches Maß an Freude, Stolz-Sein und Vertrauen verfügen, dass es selbst dann noch da wäre, wenn die Sonne implodiert und uns alle auffrisst.

Der Thekenzwerginmann sagt, er ist immer noch regelmäßig verwirrt, verängstigt, überfordert oder gleich alles auf einmal, aber vielleicht gewöhnt man sich daran und meint damit nicht den Klotz (er ist ein Stück älter und finanzstärker als wir), sondern eine Realität, in der Dinge plötzlich gut werden.
In der man nach zwei Studiengängen und achtzehn Semestern einen Job findet, der nur entfernt und mit sehr großzügiger Betrachtungsweise etwas mit den studierten Fachbereichen zu tun hat, weil zufällig jemand an der richtigen Stelle sitzt und der Meinung ist, dass geht schon, Persönlichkeit und Menschlichkeit sind einfach mal wichtiger als die paar Wissenslücken, die sich locker beseitigen lassen.
Und in der es dann tatsächlich auch geht.
In der man trotzdem beschließen kann, den Job zu schmeißen. Und dann auch wieder einen neuen findet.
Und danach noch einen.
Und dann ist man auf einmal auf nem Beamtenposten und verdient genug, um nebenher noch ein drittes Studium per Fernuni aufnehmen zu können.
In der die eigenen Eltern zu denen gehören, die machen, dass man sich selbst die MutterVaterKindPersonalunion sein muss.
Und dann hat man auf einmal 'ne Freundin und deren Eltern nehmen einen einfach an und auf und überhaupt.
Eine Realität, in der der Beziehungen traumatisieren und der ganze andere Scheiß eh, also verarbeitet man und arbeitet dran. Immer wieder und immer weiter.
Vollbringt nebenher Großartigkeiten und fällt in Abgründe. Immer wieder und immer weiter.
Und man wird besser.
Und auf einmal sind da Chancen und Möglichkeiten und Potenziale, und Dinge passieren, gute Dinge, und das Glück haut dir auf die Fresse und das Leben mit geballter Positivfaust in die Magengrube, dass dir die Spucke weg bleibt.
Und es fühlt sich vielleicht nicht wie Normalität an, verhält sich aber trotzdem so und bleibt einfach dabei.
Egal, wie misstrauisch man es beäugt.

Das Mögliche Ist Ungeheuer
Das Ungeheure Ist Möglich.