Die Suche nach einer neuen Mitbewohnerin oder einem neuen Mitbewohner ist ja quasi wie Onlinedating, nur krasser.

Man liest sich so durch mal mehr, mal weniger ausführliche Nachrichten, die mal mehr, mal weniger Massenware sind, hat mal höhere, mal niedrigere Ausschläge auf der Grusel-Skala, reflektiert die Ansprüche und das Suchverhalten, das man so an den Tag legt, und das erste Treffen ist meistens zumindest am Anfang so ein bisschen awkward.
Zwischendurch ein paar Nachrichten, bei denen offen bleibt, ob der Mensch tatsächlich Alarmsirenen loslegen lässt, oder ob es nicht vielleicht nur an der Sprachbarriere liegt.
Gelegentlich schreibt ein Midlifecrisis-Opfer oder ein netter Inder.

Dann ist da das Ding mit der Kommunikation.
Der schwierigen (Abfuhren verteilen) und der verletzlich machenden (Aussprechen, dass man Interesse hat und sich mehr vorstellen könnte, in diesem Fall das Teilen von Wohnstätte und hineinragenden Alltagsbestandteilen).

Und die Sache mit dem Vertrauen - im Anschluss an das Aussprechen darauf vertrauen, dass die andere Person es auch so meint, wenn sie sagt, es gehe ihr genauso.
Und das auch dann wieder können, wenn jemand anderes ein Gegenbeispiel geliefert hat.
Und dann noch jemand.
Und noch jemand.
Und so weiter.

Die Zeit drängt, ich schraube meine Ansprüche runter.
Wäre toll, wenn es keine Zweck-WG ist, wäre wunderbar, wenn es klick macht und so richtig gut passt,
aber das Zimmer muss halt nunmal zeitnah vermietet sein, weil ich die Bude sonst alleine bezahlen muss. Was ich mir aktuell schlichtweg nicht leisten kann.
Also: Keine Gruseltypen, keine Arschlöcher, keine ultimativen Feierflummis, Zahlungsfähigkeit, Katzenverträglichkeit, und gut ist.

So bleibt dann der Grashüpfer übrig.
Der Grashüpfer schreibt (und sagt), dass ihm Kommunikation, soziales Miteinander und der ganze Kram wichtig ist und er auch keine Zweck-WG will, tut das aber vermutlich vor allem deswegen, weil ich geäußert (und geschrieben) habe, dass mir das wichtig ist.
Zentraler Motivationsfaktor für ihn scheint dagegen vor allem die Lage der Wohnung zu sein, die schon isoliert betrachtet wirklich gut ist, und erst recht, wenn man bedenkt, wie übertrieben teuer die Durchschnittsmieten hier in der Stadt (und erst Recht in meiner Ecke) sind.
Somit sagt der Grashüpfer auch bereits in unserem Castinggespräch, dass er es hier echt cool findet und auf jeden Fall einziehen würde.
Außerdem würden seine Eltern die Miete bezahlen.

Ich habe da also eine Option, die mich nicht begeistert, dafür aber aus der Vernunft- und Sicherheitsperspektive ziemlich überzeugend ist.
Da am nächsten Tag noch zwei vorbeikommen und ich immer noch die Hoffnung habe, jemanden zu finden,mit dem es klickt *und* dann auch was wird, sage ich dem Grashüpfer, dass ich mir das gut vorstellen kann mit uns, die zwei Termine aber noch mitnehme und mich im Anschluss melden werde.


Am nächsten Abend kommt der Bär vorbei und haut mich aus den Socken.
Wir sitzen mehr als vier Stunden zusammen und reden.
Keine Smalltalkscheiße, sondern richtig.
Musik, Theater, Welt- und Abgrundschau.
Ich lege manchmal Finger auf und in Wunden, nur die verheilten oder fast verheilten, ganz vorsichtig; vielleicht aus generellem Interesse, vielleicht auch, weil ich da ähnliches sehe. Und er lässt das zu.
Meine zeigen am Horizont ihre Umrisse, nur ein paar einzelne, für mich angesichts meiner anderen vergleichsweise oberflächliche; nur vage, im Nebel. Ich sehe sie, er sieht sie, legt einen Finger drauf, ganz sachte, und irgendwie lasse ich das zu.
Zwischendurch gemeinsames Schweigen, während wir nebeneinander draußen stehen, er Kippe, ich Dampfe, jeder seine Flasche Bier, und abwechselnd runter auf die Stadt schauen, oder rauf zur grauen Nebelmasse, hinter der vermutlich sowas wie Sterne leuchten.
Irgendwas zwischen uns oder von ihm ausstrahlend, magnetisch-elektrisierend-spannungsartig, irgendsowas, unsere Schultern berühren sich, als wir wieder rein gehen und jemand vorbei will, mir bleibt fast das Herz stehen.
Kater Mayhem, der sich sonst bei keinem der anderen auch nur ansatzweise zeigte, kommt aus meinem Zimmer,setzt sich neben den Bären und fängt einfach an, zu schnurren.
Kater Mayhem fühlt sich wohl.
Ich fühle mich wohl.

ICH FÜHLE MICH VIEL ZU WOHL.

Mein Blick auf die Uhr und in die App sagt, dass der Bär los muss, wenn er rechtzeitig am Bahnhof sein und seinen letzten Bus kriegen will, ich nehme das als Brecheisen, um das baumwollfadenzarte Band, das da wabert, auseinander zu schlagen.
Gehe zu meiner Standardabschiedsformel für potenziell taugliche WG-Interessenten über, Danke für deine Zeit, ich kann mir das soweit gut vorstellen, werde dir dann-und-dann schreiben, sag du mir auch gerne Bescheid, wenn's dir taugt oder eben nicht, oder du Bedenkzeit brauchst, mein Zeitplan ist relativ straff.
Irgendwie sowas spule ich ab, an meine Herzwände klopft der Panikmodus, mein Schädel glüht, Fluchtreflex.
Der Bär sagt, er hat am Wochenende noch Besichtigungen, aber ja, natürlich meldet er sich danach.

Dem Grashüpfer habe ich gesagt, ich melde mich heute Abend.
Konnte ja nicht wissen, dass mir sowas passiert.

Der Bär ist weg und ich habe keine zwölfspurige Autobahn im Kopf, sondern fünf weltraumgroße Tornados, die gegeneinander rauschen, sich gegenseitig umpflügen, alles durcheinander, Kernschmelze, nur krasser.

ICH KANN DEN NICHT EINZIEHEN LASSEN.
Viel zu riskant.

Wenn ich ihm zusage, hänge ich in einer Warteschleife, bis er sich entschieden hat; muss mich nicht nur mit dem Warteschleifenschwebezustand, dem ich dann ausgeliefert bin, rumschlagen, sondern gegebenenfalls auch mit einer Absage, und ich hab da halt auch jemanden, der quasi nur noch darauf wartet, dass ich ihm mein ok gebe.

Und was würde passieren, wenn das gerade kein spontaner Hirnkurzschluss ist, sondern so bleibt?
Wenn es nur mich betrifft, ist da zu viel Schmerzpotenzial.
Wenn es nicht nur mich betrifft, ist da noch viel mehr Schmerzpotenzial.

Ich gehe eine Runde spazieren, so langsam und bewusst, wie das eben geht, wenn das Hirn im Krisenmodus ist, lasse mich über meine Kopfhörer von Fäulnis anschreien, wie man das eben so macht, wenn im Schädel Sturmflut ist, und beobachte mich gleichzeitig aus der Vogelperspektive, weil der Dissoziationsnebel anklopft.


Ich kann den hier echt nicht einziehen lassen.
Viel zu riskant.

Wieder zuhause schreibe ich der Anderen, die heute da, aber so ereignislos nett war, dass ich sie ganz vergessen hatte, und sage ihr ab.
Gehe nochmal in mich.
Weise mich darauf hin, dass es wirklich ungünstig wäre, wenn ich den Grashüpfer vergraule und dann im Fall einer Absage des Bären ohne Mitbewohner da stehe.
Der Grashüpfer hat zugesagt, und die Wohnung liegt für ihn, seine Arbeit und seine Studienfächer dermaßen optimal, dass es schlichtweg nicht besser geht, und erst recht nicht zu dem Preis.
Somit ist der Grashüpfer eine sichere Nummer.
Und noch dazu eine, bei der ich mich darauf verlassen kann, dass das Geld pünktlich da ist.

Dreimal tief durchatmen.
Nummer raussuchen.
Ich schreibe dem Grashüpfer und sage ihm, dass er einziehen kann.
Der Grashüpfer schreibt, trotz der Uhrzeit, direkt zurück, bedankt sich, sagt Bescheid, dass er Mitte des Monats einziehen würde und bei Bedarf eine Elternbürgschaft parat hat.
Schaffe eine freundliche Antwortnachricht, sogar mit Lächelsmiley.
Zur tatsächlichen Freude reicht es gerade nicht, dafür fühlt es sich zu nachhaltig danach an, die falsche Wahl getroffen zu haben.
Aber hey, ich muss meinen Gefühlen ja nicht immer alles glauben, und objektiv betrachtet ist das hier gerade ziemlich wahrscheinlich die bessere Entscheidung. Und schließlich kann ich ja auch nicht wissen, ob der Bär nicht eh abgesagt hätte.

Dreimal tief durchatmen.
Die Nummer des Bären muss ich nicht raussuchen, die hab ich bereits vor unserem Termin, nach seiner ersten Nachricht, gespeichert.
Nochmal durchatmen.
Ich schreibe dem Bären, dass ich mich für seine Zeit und das Gespräch bedanke, das Zimmer aufgrund einer festen Zusage des anderen für mich sympathischen Bewerbers aber vergeben ist, und ich ihm viel Erfolg für die weitere Suche wünsche.
Schreibe ich noch, dass wir trotzdem gern auch mal so ein Bier trinken und reden können?
Nein, viel zu riskant. Sonst merkt der noch, was mit mir los ist.
Korrekturlesen.
Abschicken.
Muss das jetzt sein, dass ich mich so elend fühle?

Mail an die Vermieterin, dass ich einen Nachmieter für den Noch-Mitbewohner gefunden habe.

Warten darauf, dass dieses Gefühl der falschen Entscheidung weg geht oder wenigstens schwächer wird.

Verdränge den Impuls, immer wieder zu schauen, ob/was der Bär antwortet, oder doch noch hinterher zu schieben, dass ich den Kontakt gerne aufrecht erhalten würde.
Falls er das von sich aus schreibt, ok, kann man vorsichtig drüber reden.

Ansonsten Abstand halten.
So viel wie möglich.
Und aus dem Hirn verjagen.
So bald wie möglich.





sid, Sonntag, 9. Januar 2022, 00:55
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