Ich weiß noch, wie schrecklich am Ende ich in den letzten Wochen, bevor sie gestorben ist, war, und ich erinnere mich noch so genau an den Tag, an dem meine Mutter gestorben ist. Seit einigen Tagen ist es vier Jahre her.

Ich war vorher so sehr am Ende, weil es mit ihr immer schlimmer wurde, und einem gerade dreizehn Jahre alt gewordenen Mädchen mit dem bis dahin schlimmsten Liebeskummer ihres Lebens, massiven Problemen mit den lieben Klassenkameraden und eigentlich dem ganzen Leben geht es nicht gerade besser, wenn die Mutter gewalttätig und alkoholabhängig ist, beides Dinge, die sich in ihren letzten zwei Wochen sprungartig gesteigert hatten, mit unschönen Begleiterscheinungen.
Ich war wirklich am Ende. Kam nicht damit klar, dass irgendwie ich auf sie aufpassen sollte und nicht umgedreht, ich weiß noch, wie ich zu ihr sagte "Bist du jetzt stolz darauf, dass du den ganzen Tag nen Apfel und eine Salzstange gegessen hast?" und sie antwortete "Ja", weil sie dauerdiätete dreizehn Jahre lang, aber trotzdem nicht schlanker wurde, weil es ja zum Großteil kein Fett war, sondern eine am Ende auf doppelte Größe angeschwollene Leber, die kurz vor der Zirrhose stand. Kam nicht damit klar, dass da ein Verfallsprozess ablief, rasend schnell, den man in den Jahren vorher nur erahnen konnte, kam nicht damit klar, dass sie so..war, alles andere als normal, seltsam, kam nicht damit klar, dass sie nicht klarkam.
Dabei bin ich 12 Jahre lang damit klar gekommen.
Mit der ganzen Sache, mit ihr, die auf meinen Vater schimpfte und die ich wecken sollte, bevor er heimkam, weil sie praktisch immer im Bett lag, auch, wenn sie ihre Tochter eigentlich mit Magenkrämpfen oder Ohrenpfeifen von der Schule abholen sollte, mit ihm, der nie da war und wenn er es doch war, den Terror in Person verkörperte, mit dem Krieg zwischen ihnen, mit jeder neuen Ankündigung von ihr, wir hauen hier ab, räum dein Zeug zusammen, wir gehen weg von dem und wohnen wo anders, aus der doch nie etwas wurde, obwohl ich jedes mal wieder das Hoffen anfing, auf ein besseres Leben, bis mir klar wurde, dass sie das jedes Mal so sagte, so wie sie alles nur so sagte, Ankündigungen, Strafmaßnahmen, nur im Kinderschlagen, darin war sie gut.
Bin zwölf Jahre klargekommen; mit Gleichaltrigen, die, wenn man ansatzweise etwas erwähnt hat, einem nicht glaubten, sagten, man würde doch lügen.
Mit meinem Vater, der doch genauso überlastet war wie ich, wenn nicht sogar noch mehr, weil er sie noch als die Frau gekannt hat, die er mal geheiratet hat.
Den ich praktisch garnicht kannte, und der dann auf einmal der einzige war, den ich noch hatte, als sie weg war.
Einfach weg, hatte sich mal wieder schlafen gelegt, als ich zu einer Freundin bin; hatte schon die letzten Tage schwächer geklungen und ich ein dumpfes Gefühl, als ich weg bin, und als ich wieder heimkam, lag sie einfach da, einfach so, im Bad, mit gelber Haut, gelben Händen, sogar das aufgedunsene Gesicht war gelb, und mit schmutzigen Füßen vom Barfußlaufen und in der roten Jogginghose und dem roten Pullover, die sie schon drei Wochen ununterbrochen anhatte, auch zum schlafen.
Lag einfach da, mit dem Kopf in der Ecke und der Rest ausgestreckt, auf dem Rücken, und die Katze saß vor, stocksteif, steinern, und sie hatte die Augen nicht ganz zu, daran hab ich erkannt, dass sie es nicht spielt, sie hatte nämlich öfters "tot" gespielt, um mich zu erschrecken, aber diesmal bewegte sie sich nicht, als ich ihr sagte, ich rufe jetzt Papa an, und auch nicht, als ich ihm sagte, die Mama liegt im Bad auf dem Boden und bewegt sich nichtmehr, und er sagte, er kann jetzt nicht heimkommen, ich soll warten.
Sie hat sich die ganze Zeit nicht bewegt, als ich in der Küche auf der Bank saß, die die Freundin meines Vaters jetzt weggeworfen hat und auf der er immer geschlafen hat mittags, und als mein Vater kam wollte er als erstes im Bad saubermachen, und irgendwann hörte ich ihn meinen Großvater rufen und er hat gesagt, Vater, die (...) ist tot. Das war das erste und einzige Mal, dass es jemand ausgesprochen hatte.
Der Reihe nach kamen Notfallpsychologen, einer ihrer Brüder,ein Arzt, der eigentlich frei hatte, und der Mann vom Bestattungsinstitut, dem ich sagte, dass sie verbrannt werden wollte, nicht begraben, weil mein Vater sie hätte begraben lassen und sie immer gesagt hat, wenn sie tot ist, will sie nicht, dass die Würmer an ihr rumkauen,sondern sie will verbrannt werden.
Sie hat auch gesagt,sie will das eine Kirchenlied nicht auf ihrer Beerdigung hören, aber dann haben sie es trotzdem gespielt und ich hatte so Schuldgefühle ihr gegenüber..
Die ganze Beerdigung war genauso seltsam wie die Zeit vorher und nachher, und da waren überall die Leute, die mich vorher maximal verächtlich ansahen und jetzt auf einmal umarmen wollten,obwohl mein Vater gesagt hat, keine Beleidsbekundungen, es liegt eine Kondolenzliste aus.
Ich weiß garnicht mehr, wo mein Vater auf ihrer Beerdigung war, obwohl er wahrscheinlich die ganze Zeit da war.
Und ich konnte mir die ganze Zeit nicht vorstellen, wie es weitergehen sollte. Ging einfach nicht, mein Vater, der Unbekannte, und ich. Da fehlte was. Da fehlte nicht nur meine einzige Bezugsperson die ganzen Jahre, da fehlte ein großes Stück von meiner Welt, auch wenn die größte Hassliebe, die ich je erlebt habe, die zu meiner Mutter war. Liebe, weil sie meine Mutter war und für die Momente, die normal waren oder eben besonders, weil sie nicht normal waren, und Hass, weil ich mich so oft fragte, wie sie eigentlich meine Mutter sein konnte, gerade gegen Ende. Konnte es mir nicht vorstellen und sah zu, machte teilweise selbst mit, wie mein Vater versuchte,sofort zur Normalität überzugehen.
Zwischen kopieren von Sterbeurkunden und dem Beantragen von Originalen, Sterbebildchendrucken (Darin ihr Passfoto, das einzige Bild, das wir von ihr hatten, auf dem sie nicht so..aussah) und den ganzen anderen Sachen mussten wir auch irgendwann in meine Schule, und weil sowieso alles egal war, sagte ich auch gleich, dass ich in eine andere Klasse will, weg von den Arschlöchern.
Am liebsten wäre ich an eine andere Schule, aber das wollte ich meinem Vater nicht auch noch antun, nachdem er mich, für die Schulakten, nach meinem Geburtstag fragen musste, was übrigens auch später noch oft genug passierte (einmal hatte er es auch falsch in den Kalender eingetragen und war ganz überrascht, als ich ihn darauf hinwies), hatte er sich schon genug Schreibarbeit angetan. Und ich wollte das ehemalige Problem nicht..verlassen.
Meinem Vater zuliebe habe ich mir damals auch die schwarze Farbe aus den Haaren bleichen lassen und so einen Versuch gestartet, normaler zu sein; der Versuch scheiterte nach ich glaube einem dreiviertel Jahr kläglich, aber es war ein Entgegenkommen meinerseits.
Wir wussten doch nicht, was wir machen sollten.
Ketten Sie mal zwei völlig Fremde, die noch dazu total unterschiedliche Menschen sind, aneinander und sagen Sie denen, sie sollen jetzt Familie sein.
Dass es definitiv zum Scheitern verurteilt ist, ahnte ich damals und weiß ich jetzt.
Jetzt empfinde ich auch etwas beim Gedanken an sie; die Anfangszeit über hatte ich das nicht, erinnerte mich zwischenzeitlich an das, was sie mir erzählt hatte, als ihr Vater gestorben war:"Bei manchen dauert es 5 oder sogar 10 Jahre, bis das hochkommt". Ich dachte damals einfach..ach, ich weiß nicht, was ich dachte. Im Nachhinein war das eine Zeit, in der ich garnichts fühlte und dachte, das einzige, was in mein Hirn drang, war der Seelenschmerz,als das ehemalige Problem eine Freundin hatte, und ein kleines bisschen Begeisterung, als sie ihn,leicht traumatisiert, weil er von ihr mehrfach betrogen worden und eigentlich sehr sensibel war, wieder zurückließ.
In der Anfangszeit fragte mich mein Musiklehrer sogar, ob es für mich ok wäre, wenn wir "out of the dark" von Falco im Unterricht anhören und besprechen, ich sagte ja, merkte kurz darauf, dass es vermutlich keine so gute Idee war, riss mich aber zusammen, auch, als er extra nochmal betonte, dass ja, oh Überraschung, in der Klasse jemand sitzt, der erst vor kurzem jemand wichtigen verloren hat.
Erst drei Jahre später machte mich ein Mädchen, mit dem ich schrieb, darauf aufmerksam, dass ihr über mich erzählt worden sei, ich wäre ja "völlig psycho", weil mich niemand hat weinen sehen wegen meiner Mutter.
Da war ich dann sauer. Und ich dachte mir, verdammte Arschlöcher. Verdammte, beschissene, dreckige kleine Arschlöcher. Ja, ich habe auch Gefühle, nein, ich zeige sie nicht so regelmäßig nach außen,und ich werde einen Dreck tun und in der Schule wegen ihr weinen,am Besten vorher angekündigt, damit es auch ja alle sehen, nur, damit es wieder ein Gesprächsthema gibt und die sensationslustigen Geier etwas zu Sehen bekommen.

Habe es in etwa so weitergegeben, das Mädchen war überrascht.

Mit der Zeit kamen dann auch meine Gefühle wieder,natürlich als erstes die Seelenschmerzen, häuften sich wieder die Probleme, lösten sich auf, aber die schlimmsten blieben noch eine Weile,doch selbst die verabschiedeten sich dann.

Das Sechsjahresproblem/ehemalige Problem macht dieses Jahr sein Abitur. Und danach bin ich dran.
Ich bin nicht (mehr) beim Theater, wie sie, sondern bei den Sanitätern, wie er.
Meine, angeblich von ihr geerbte, Sprachbegabung hat sich verabschiedet.
Ich sehe auch nicht mehr so aus wie sie, und schulisch bin ich weiter gekommen, als sie, beziehungsweise als alle aus meiner Familie, es je waren.

Seit ein paar Tagen ist es vier Jahre her, an ihrem Todestag war ich nicht zu Hause, sondern im Urlaub und es war definitiv besser so. Hat sich genauso unwirklich angefühlt wie damals, aber besser, als mir am Todestag meiner Mutter die Freundin meines Vaters antun zu müssen, war weg sein und es garnicht erwähnen definitiv.

Sie hat nie mitbekommen, wie ich zum Theater und dann wieder ausgetreten bin; den Klassenwechsel nicht, den durch Zweigwahl notwendig gemachten danach auch nicht mehr. Keines der Piercings hat sie mitbekommen und auch nicht das Tattoo; nicht die langen Haare, nicht die "Beziehung", keine Theateraufführung, nicht den Beitritt zu den Schulsanitätern, keinen Wettbewerb. Keinen der Haarfarbwechsel, nicht, als das Internet in unserem Haus Einzug hielt, nicht den Tod ihrer Mutter ein halbes Jahr, nachdem sie selbst gestorben war. Nicht den Musikschulwechsel, nicht,als ich mit dem Keyboardspielen aufhörte und mit dem Gitarrespielen anfing. Nicht die alte Sache, oder die Besuche der Absteige.
Was davon überhaupt möglich gewesen wäre, bleibt die Frage.Vieles sicher nicht. Was überhaupt passiert wäre, weiß ich nicht.
Meine Tasche hing fertig gepackt an einem Stuhl, um jederzeit abhauen zu können, weg von ihr, wohin auch immer, in den letzten Wochen, als ich nicht mehr konnte. Als mein Herz kaputt war und der Rest von mir auch, meine Arme aufgekratzt und mein Haar so dunkel wie der ganze Rest.

Ob ich jetzt hier wäre,an diesem Punkt, wenn sie noch hier wäre, weiß ich nicht.
Vermutlich verarbeite ich es.
Die seltsamen Situationen, wenn jemand fragt, ob meine Eltern geschieden sind, und dann die Antwort bekommt, werden weiterhin seltsam bleiben. Weiß ja keiner so recht, was er dann sagen soll. Ich doch auch nicht, erst recht nicht, wenn ein "das tut mir Leid" kommt.
Der Heulreflex bei dem einen Kirchenlied wird mich wohl noch begleiten.
Ansonsten war ich vorher, kurz vorher und wohl auch danach zu kaputt, um völliger Durchschnitt zu sein.
Aber es geht weiter.
We carry on.





huehnerschreck, Mittwoch, 31. August 2011, 12:37
starker tobak.

(und mir fehlen die worte. virtuelle umarmung ist ok?)

threebluesheeps, Mittwoch, 31. August 2011, 13:55
jetzt weiß ich auch nicht was ich auf das antworten soll. als meine uroma gestroben ist war es auch total komsich für mich den anderen mein beileid mitzuteilen. für mich kommt das oft so gespielt rüber und das wollte ich nicht. ich denke mir manchmal ...ob nicht ein Blick genügt.

und wenn du mich jetzte sehen könntest....würdest du diesen Blick sehen.

mayhem, Donnerstag, 1. September 2011, 18:30
danke, euch beiden.