"The bravest thing I ever did was continuing my life when I wanted to die."
(Juliette Lewis)

An Weihnachten feiern Tante Emma und ich in der Absteige.
Wir treffen die Mitgitarristin, Ms.Golightly und den Fremden, die Feindin und ihren Freund, ein paar Abikollegen und die alte Sache.
Die kleine Absteige platzt aus allen Nähten, ab 22 Uhr wird niemand mehr reingelassen, bis um 24 Uhr die ganzen U18s raus müssen.
Tante Emma schafft es tatsächlich, den ganzen Abend nüchtern zu bleiben, sie sagt, da seien so viele abschreckende Beispiele um sie herum, dass es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen sei, wie fertig sie selbst oft genug unterwegs ist.
Ich schaffe es, die beste Freundin Mr.Gaunts zu begrüßen, und als sie mich nach Feuer fragt und danach immer noch stehen bleibt, befinde ich mich mit einem Mal in einer neutral-netten Smalltalkunterhaltung mit ihr, ohne versteckte Sticheleien.

Als sie wieder rein geht, kommt Mr.Gaunt raus, und ich höre mich Hallo zu ihm sagen, mit ruhiger, betonfester Stimme und aller Neutralität der Welt, so, als könnte mich nichts erschüttern.
Mr.Gaunt grüßt zurück, mit aller Neutralität der Welt. Dann begrüßt er irgendwen, geht irgendwann wieder rein, steht ein paar Mal auf der Bühne und oft bei seiner Freundin, und es tut weh, aber von weit weg.
Emotional bin ich heute das Michelin-Männchen.
Ganzkörpergepolstert, und die ganze Scheiße stoppt ein paar Milimeter, bevor sie mich wirklich verletzen kann.
Es geht mir gut.
Egal, wie oft ich Mr.Gaunt sehe, und ehemalige Mitschüler, die mich bespuckt und mit ihren Fahrrädern meinen Ordner überfahren haben.
Denn immerhin sehe ich auch ehemalige Mitschüler, die sich freuen, dass ich da bin, und die tief und fest davon überzeugt bin, dass das, was ich mache, das Richtige ist, für mich und überhaupt, und dass alles gut wird.
Schließlich saß ich zuvor über eine Stunde mit meinem Vater, seinem Anhang, deren Sohn und dessen Kind zusammen, ohne dabei in der Luft zerissen zu werden.
Heute bin ich das Michelin-Männchen, groß und fett und unzerstörbar, und immer freundlich grinsend.
Und ihr könnt mir gar nichts.

Neujahr beginnt mit einem Blick über die Unistadt, komplett vernebelt von hunderttausenden von Menschen, die anscheinend sämtliche Feuerwerkskörperbestände aufgekauft haben und jetzt innerhalb von Sekunden abschießen.
Um uns herum mindestens fünfzig weitere jubelnde und johlende Menschen, die die gleiche Idee hatten wie der Ziegenmann und sich dachten, hier oben wäre nicht so viel los und man könne ja ganz nett auf die Stadt gucken.
Der Katzenmann ist auch da, und wenn er nicht gerade im Schnee kniet, um _das_ ultimative Foto zu schießen, schmiert er sich an eine selbsterklärte Metalfee, die ja so gar nicht!!!!!einself!!!1 süß ist, aber alles dafür tut, um "leider" so zu wirken, ran, wobei offensichtlich für beide vernachlässigbar ist, dass sie eine monogame Beziehung hat.
Tante Emma neben mir schimpft auf "die blöde Fotze", das zusammenbrechende Handynetz (man muss doch um 24 Uhr zuhause anrufen) und überhaupt die ganze Welt, nur unterbrochen von gelegentlichen Versuchen, mir Sekt anzudrehen.

Dann erinnern wir uns ans letzte Silvester.
Sie in der Kleinstadt-WG und alle so zugedröhnt, dass sie Silvester verpennt haben.
Ich mit Mr.Gaunt bei Legolas und dem Grinsebuddha, erst panisch, dann traurig, dann aggressiv, und nochmal von vorne.
Tante Emma sagt, Weihnachten war schön. Da hatten sie einen kleinen Baum, und einen Weihnachtsmannbezug für den Klodeckel, und alle waren nur so zugedröhnt, dass man angenehm gefeiert hat, aber nicht bis zum Zusammenbruch.
Weihnachten war ich alleine, bis auf einen Tag. Da saßen wir erst bei Mr.Gaunts Eltern und dann in der Absteige, und alles war so idyllisch, dass ich es mir erlaubt hatte, darauf zu hoffen, dass alles wieder wird.

Dieses Silvester sind wir hier.
Mitten in der Riesenstadt, sie auf Therapie, ich an der Uni.
Auf einem Berg im Nirgendwo, unter lauter fremden Feierwütigen, und die einzigen Menschen, die wir kennen, sind gerade in sich selbst versunken (der Ziegenmann), oder in glühender Zuneigung zu ach so krassen Ich-bin-nicht-süß-aber-eigentlich-ja-doch-Metalfeen entbrannt (der Katzenmann), oder knutschen gerade ihren Freund ab (der schwule Innenarchitekt, mit dem ich mich während einer von Tante Emmas Schmollphasen unterhalten habe).
Bis auf ein bisschen Alkohol nüchtern, alle beide.
Nichtmal kettenrauchend, denn natürlich geht die Welt unter, und natürlich sind wir unsicher, und ja, wir haben Angst; zumindest Tante Emma hat Angst.
Aber das kommt alles nicht zu uns durch. Nicht völlig.
Wir sind heute Michelin-Männchen.

Ich erlaube mir nicht, daran zu denken, was als nächstes kommt. Was die Grausamkeiten der letzten beiden Jahre übertreffen könnte, ob ich nur verdränge und mich alles wieder überrollt, schon wieder und in einem furchtbar ungünstigen Augenblick.
Ich erlaube mir nicht, zu hoffen, dass alles gut, aber vertraue zutiefst darauf, dass alles besser wird.

Ich halte Tante Emma kurz im Arm, als es ihr zu viel wird mit den ganzen Menschen, dann marschieren wir wieder runter, zurück zur WG des Ziegenmanns, und weil wir die einzigen zwei Raucher sind, bleiben wir noch kurz vor der Tür.
"Wir habens halt echt überstanden."
Die Kleinstadt-WG und den Umzug.
Den schlimmsten Zusammenbruch meines Lebens und viele von ihren, zwei Trennungen, Abschied vom besten aller Autos und von der Tanke, vom Kater.
Ich habe das Unmögliche möglich gemacht und als arbeitslose Studentin mit zwei Katzen ein WG-Zimmer bekommen bei einem Haufen wahnsinnig nerviger, aber immerhin erträglicher Menschen, und wenn ich die anstehenden Klausuren überstehe, habe ich das zweite Semester gepackt.
Wir habens halt einfach mal geschafft.


Der Januar dümpelt so vor sich hin.
Es etabliert sich ein kleiner Stammtisch von Nebenfachmenschen, die sich einmal die Woche nach dem letzten Seminar auf ein Bier treffen, und den ich mehr oder weniger initiiert habe.
Der Ziegenmann, Tante Emma und ich fahren im April zusammen auf ein Festival, und die Amazone lässt manchmal ganz kurz ihre menschliche Seite zu, wenn wir alleine sind und es sonst niemand sieht.
Gelegentlich traue ich mich zu Vorträgen oder Theateraufführungen, meistens in Begleitung von ein, zwei Stammtischmenschen, damit ich nicht vor lauter Unsicherheit doch zuhause bleibe.
Was ich aber tue, wenn es gar nicht anders geht.
Beim Feiern werde ich regelmäßig für die selbstwusste Bekloppte gehalten und erleichtere es so den Heerscharen an Verehrern, die sie hat, einen Zugang zu Tante Emma zu finden, die noch nicht ganz im Michelin-Männchen-Anzug steckt und deshalb meistens zwischen loderndem Hass und nackter Panik schwankt, wenn sie angesprochen wird.


Ich weiß nicht, wie es weitergeht.
Aber es geht weiter, davon bin ich überzeugt.
Und das ist mehr, als ich in den letzten beiden Jahren sagen konnte.