Donnerstag, 11. November 2010

Irgendwo zwischen dem verbitterten Kampf gegen alles, jeden und mich selbst habe ich heute revolutionsplanend, basisdemokratiebefürwortend und ein Milchtütchen aus unserem Milchprodukteautomat, der die altmodischen Klischeemilchtütchen, wie man sie in manchen Filmen in Schulen sieht, ausspuckt, nur mit dem Unterschied, dass unsre von Landliebe sind und es sie als Vanille, Karamell und wasweißich gibt, schlürfend im Wirtschaftsunterricht gesessen,während meine Banknachbarin versucht hat, mich vom entfernen der Metallsammlung in meinem Gesicht und an meinen Ohren zu überzeugen und unser Tafeldienst damit beschäftigt war, ebendies mit dem "Drecks Emo, wir machen dich kalt!", das mit einer nicht ganz originalgetreuen Zeichnung von mir versehen war, zu tun.
Liebesgrüße aus der Upper Class .
Hinter mir dönerstinkender Mitschüler, der durch exzessives Rülpsen sowohl das Klassenzimmer vergast als auch das Ozonloch vergrößert und Deutschlands CO2-Ausstoß-Statistik in den nicht so guten Bereich verschiebt, neben mir inzwischen Gerede über "Tattoo weglasern" , darüber, wie schrecklich eklig Piercings und wie schlimm abgeblätterter Nagellack und "durchgefickt-Frisur" seien, und wie wunderbar ich mit einem flotten Kurzhaarschnitt, gut durchgestuft, schokobraun und ohne Metall aussehen würde.
Irgendwie hat mir dieses bisschen normal den Donnerstag ein bisschen gerettet,es war nicht mehr so schlimm, vor dem ganzen Sportkurs mal wieder von der Lehrkraft, die an Gott und meine absolute Unsportlichkeit glaubt, bloßgestellt zu werden, und überhaupt war eigentlich nichts mehr so arg schlimm, außer in meiner wiedererkämpften Mittagspause die Mischung aus akutem Seelenschmerz und Eifersucht. Letztere hat sich relativ schnell wieder in Verlustangst umgewandelt, "richtig" eifersüchtig bin ich selten, hat die Sache nicht angenehmer gemacht.
Und als ich dann,wieder im Klassenzimmer und vor Sozialkunde, umweht von der Dönerdunstwolke und im Hintergrund die Tafel, die dann eigentlich ich wischen sollte, und auf der der Satz "The Bible is not an encyclopaedy" geschrieben stand, den ich irgendwie fast poetisch und definitiv so toll fand, dass ich ihn hab stehen lassen, meinen Mitwischenden, den Absendtenheftführer, davon überzeugen wollte, mit mir die Welt zu retten, hätte der Moment fast etwas von "da passiert was Großes" gehabt, so beeindruckend war meine spontan für Mitwischenden und geistig halb abwesende Banknachbarin gehaltene Rede, wären die beiden nicht, genauso wie der Rest, asolut ignorante Anhänger der Ichkannjaehnixändern-Faulheit und der Isdochallessuperignoranz.
Im dezenten Kontrast zu meiner Kampfrede zur Wiedererlangung unserer Demokratie und Freiheit stand die Standartlobrede auf Deutschland, die mein Sozialkundelehrer die nächsten 45 Minuten hielt und die uns zu stolzen Patrioten machen und davon überzeugen soll,wir hätten tatsächliche Meinungsfreiheit und ebendiese Meinung wäre ausschlaggebend für alle Entscheidungen. Und Russen scheiße.
Ich bin nicht unbedingt ausländerfreundlich erzogen worden, eher im Gegenteil, aber auch wenn sich das jetzt doof anhört, für mich existieren Grenzen eigentlich nur auf der Landkarte, kulturelle Unterschiede hin oder her. Als ich diesen Gedanken aussprach, wurde mir Nachsitzen und Verweis angedroht, während meine Klasse nur genervt die Augen verdrehte,allerdings eventuell auch wegen dem Lehrer, was in mir für eine Sekunde die Hoffnung auf intelligente Lebensformen im Klassenraum weckte, die aber in der nächsten Stunde wieder zerstört wurde, als Kate Moss als "realistisches Vorbild" in Sachen Optik/Schönheitsideal beschrieben wurde.
Als ich im anschließend durchgeführten Gewichtsstatistikdings mit 68kg auf 1,74m im Bereich der mittelschweren Jungs war, während der Durchschnittswert bei Mädchen in diesem Größenbereich irgendwie rund 13kg niedriger saß, hab ich auch begriffen, wieso.