Donnerstag, 18. Dezember 2014
Als ich gegen elf Uhr vormittags aus dem Bett des Wikingers klettern will, hält der mich reflexartig fest.
"Wo willst du denn hin?"
-"Heim." Wohin auch sonst? "Du hast doch gesagt, um halb eins holst du deinen Sohn, und ich bin jetzt nicht davon ausgegangen, dass dem die Fickbekanntschaften seines Daddys vorgestellt werden."
"Ach, ich glaube, in dem Fall könnte das ganz nett werden. Und jetzt komm erstmal wieder her, bis halb eins haben wir noch alle Zeit der Welt."

Um halb eins stehe ich dann tatsächlich dem Miniwikinger gegenüber.
Der hat lange Haare wie sein Papa, und umklammert verängstigt dessen Knie, bis er hochgehoben wird und sich effektiver (sprich: In den Haaren des Wikingers) vor mir verstecken kann.
Bringt ihm alles nichts, die Anwohner neben der Kindertagesstätte sind schon seit 10 Minuten am Meckern,weil der Motor des Wikingermobils nonstop laufen muss (sonst springt es nicht mehr an) und das schließlich eine Belästigung sondergleichen darstellt, sodass der große Wikinger sich ihrem Zorn stellt, während der kleine bei mir im Auto geparkt wird.
Erstmal ne Kippe drehen.

Zwei Stunden später sitzen der Miniwikinger und ich auf dem Bett seines Vaters und "lesen".
Instinktiv habe ich mich zur einzig wahren Sicherheitsquelle meines Lebens, dem Bücherregal, geflüchtet, und aus der Reihe, die für den Kleinen reserviert ist, ein paar rausgezogen.
Nachdem wir mit "Wasisdaaas?" - "Das ist ein Bagger", "Wasisdaaaas?"-"Das ist ein Feuerwehrauto" bereits ein Bilderbuch durchgearbeitet haben, will er, dass ich ihm aus einem Kurzgeschichten-Bilderbuch-Hybriden vorlese.
Lesen ist gut, Lesen gibt Sicherheit, man kann sich wunderbar dahinter verstecken und so muss weder ich mich mit meiner Verunsicherung und Abneigung gegenüber Kindern, noch das Kind sich mit seiner Verunsicherung und Abneigung gegenüber Fremden beschäftigen. Als sein Vater verkündet, wir müssen noch zum Supermarkt, Pfand abgeben und Abendessen besorgen, lässt sich der Miniwikinger sogar von mir den Jackenreißverschluss schließen und weicht mir fortan nicht mehr von der Seite.

"Ich find ja, ihr macht das prima", meint der Wikinger, während er Biotomaten auf Schimmel untersucht, von diversen anderen Frauen erzählt und nebenher seelenruhig dabei zuschaut, wie ich seinen Miniklon beständig davon abhalte, mit Vollgas (und seinem Kinder-Einkaufswagen) in einen Stapel Mehlpackungen oder andere Menschen zu fahren, verloren zu gehen oder die Regale leer- und in seine Taschen zu räumen.
"Eigentlich ist das auch nicht anders als das, was ich sonst immer mache. Gut zureden und davor bewahren, Scheiße zu bauen. Und Kinder sind ja eh nur betrunkene Minizwerge. Auch, wenn ich sie trotzdem nicht mag."
Die letzte Bemerkung hat offensichtlich die Aufmerksamkeit einer Vorstadtoma auf sich gezogen, die neben dem Wikinger gestanden hatte und deren Blick sich jetzt auf mich richtet, dann vom Kind zu mir, und wieder zum Kind wandert.
"Hilde! Hilde, da siehs dir an!", zischt sie so leise wie eben möglich in Richtung einer weiteren Vorstadtoma.
Die mutmaßliche Hilde glotzt ebenfalls zu mir, dann zum Miniwikinger, und wieder zu mir.
"Ach, das arme Kind. Nee, also wirklich. Jetzt ist der kleine Wurm ja noch so jung, aber später, später da schämt er sich bestimmt. Unverantwortlich, absolut unverantwortlich, als Mutter so herumzulaufen. Und das arme Kind. Die Haare. da weiß man ja nicht, ob das ein Bub ist oder ein Mädel."
Einfach weitergehen, beschließe ich und lenke den "armen Bub" und seinen Miniatureinkaufswagen in Richtung Orangensaft.
Als er wissen will, was die Omas "böses" gesagt haben, erkläre ich ihm auf kindgerecht-pädagogisch wertvolle Art und Weise (immerhin bin ich im Hauptfach umzingelt von Lehramtsstudenten, das färbt ab), dass es Menschen gibt, die schlecht von anderen Menschen denken, wenn die nicht so aussehen oder sind, wie man das normalerweise gewöhnt ist. Und dass die anscheinend oft ein gesteigertes Mitteilungsbedürfnis haben.
Die beiden Schlussfolgerungen des Miniwikingers:
1. Die sind ja doof.
2. Die haben da was Böses gesagt, da muss sich Papa einschalten.
In absoluter Höchstgeschwindigkeit rennt der Miniwikinger zurück zu seinem Vater, während ich Orangensaft und den Minieinkaufswagen einsammle, den er vor lauter Eile stehen gelassen hat.
Aufgrund geringer Unterschiede unserer Beinlänge bin ich knapp nach dem kleinen wieder beim großen Wikinger und dem Gemüse, und bekomme mit, wie "der arme Bub" markerschütternd laut in Richtung der Vorstadtomas, die an der Kasse stehen, deutend schreit:" Dieeeeeee sind böööööööööseeee Papaaaaaaaaaaaa!"
Empörtes Glotzen und Getuschel an der Kasse.
Dann sehen mich die Vorstadtomas, zählen ihrer Logik folgend eine langhaarige Gestalt plus die zweite, plus das ebenfalls langhaarige Kind zusammen, und wenden sich vertrauensvoll an mich. "Also, was machst du denn mit dem Bub? Der ist ja ganz durch den Wind."
Und in Richtung des Miniwikingers: "Na na, du armer Wurm. Ist doch alles gut."
Woraufhin der Miniwikinger das einzig Vernünftige tut, auf die Omas deutet, ganz leise, und so bedrohlich, wie man das als Zwei- oder Dreijähriger eben kann, "bööööööööööööseeee" zischelt, bevor er sich hinter dem Bein seines Vaters versteckt.
Der zuckt als Reaktion auf die Blicke der Vorstadtomas nur mit den Schultern. "Wenn der Kurze das sagt, wird er schon Recht haben."

Hach, Familienidylle.




Freitag, 28. November 2014



Die Kleinstadt-WG gibt es nichts mehr.

Eine leer stehende, verwüstete, vermüllte Wohnung. Irgendwo da drin noch meine Erinnerung ans Abitur, und mit Glück die von Großvater Mayhem geerbte Stehlampe.
Eine Küche, die aussieht wie ein Container voller uralter Schlachtabfälle, und auch so riecht.
Irgendwo da drin noch meine Tees und Geschirr.
Ein Badezimmer, das wirkt, als wäre es vor Jahren so hektisch verlassen worden, dass keiner mehr Zeit hatte, den Wasserhahn zu- und die Heizung runter zu drehen und ein Fenster zu kippen.
Neben dem Waschbecken noch ein Regal Tante Emmas.

Heute eine Nachricht der Nachbarin, die schon länger nicht mehr mit dem Knastbruder zusammen ist.

Der Kater hat den Kontakt abgebrochen.
Ich weiß noch nicht, was passiert ist, aber der Kater hat den Kontakt zum Knastbruder abgebrochen.
Der hat sich nach Hessen abgesetzt.
Der Kater wieder zu seiner Mutter.
Und die Katerfreundin ist nicht mehr mit ihm zusammen und als einzige in der Kleinstadt geblieben.

Ich weiß noch nicht, was passiert ist, aber es ist vorbei.
Die ehemalige WG gibt es nicht mehr.
Der Knastbruder ist weg.
Der Kater hat keinen Halt mehr.
Im sozialen Netzwerk ist immer noch die Kleinstadt als Wohnort angegeben, im Whatsapp-Status steht immer noch das Datum, an dem er mit seiner jetzt Ex-Freundin zusammen gekommen ist.
Aber es ist vorbei.

Bis zum 30. dieses Monats hat die Katerex noch die Wohnungsschlüssel.
Hätte ich nicht gefragt, hätte ich meine Sachen nie wieder bekommen.
So fahre ich, wenn es denn klappt, bald schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage in Richtung Heimat.
Ein letztes Mal zur ehemaligen WG.
Auf der Suche nach einer gefühlt einen Zentner schweren Stehlampe mit gerüschtem Schirm, einem Plastik-Oscar mit meinem Namen auf dem Sockel, und Tante Emmas Regal.
Ein letztes Mal ins Wohnzimmer, dessen Wände der Kater auf einem Trip mit Neonfarben besprüht, und auf dem alle Besucher und Bewohner, auch die Barmaid und ich, sich mit Unterschrift verewigt haben, und auf dessen Fensterbank eine einsame und unkaputtbare Madagascarpalme steht.
Dafür notgedrungen durch die Küche, in der die Natur schon bei meinem Auszug die Machtübernahme eingeleitet hat.
Vielleicht ein Blick in das Zimmer, das mal meines war. In dem ich zuerst mit dem Kater gesessen oder gelegen, und mich später vor ihnen allen versteckt und dabei mehr oder wenigerr tot gestellt habe.
Und ein kurzer in den später zum Gästezimmer erklärten Raum, in dem ich übernachtet habe, als ich zum ersten Mal zu Besuch war.
Eine Runde durch den stinkenden, modrigen Keller, sichten, was mir gehört und noch verwertbar ist, und dann raus da.
Was keinen Nutzen mehr hat, bleibt zurück.
Es ist vorbei.




Sonntag, 23. November 2014
SMS vom Wikinger. Ob ich mit auf ein Konzert möchte?
-Hmnja, kann man schon machen.
Gut, in 15 Minuten holt er mich ab.
Unnötig zu erwähnen, dass ich zu diesem Zeitpunkt gerade in Jogginghose und einem Pullover, den ich vom Kater habe mitgehen lassen, auf meinem Bett gesessen, Buffy geschaut und Nudeln mit Pesto gegessen habe, während in meinem Gesicht eine Ladung Heilerde einen weiteren kläglichen Versuch, die Stress-und-ungesunder-Lebensstil-Unreinheiten aus meiner Haut zu ziehen, unternehmen sollte.

"Gut schauste aus", befindet der Wikinger, als ich tatsächlich pünktlich nach 15 Minuten draußen stehe und von ihm abgeholt werde.
"Hibbelig siehste aus", stelle ich wahrheitsgemäß fest, "und ein bisschen nach Verstoß gegens Betäubungsmittelegsetz".
-"Du merkst aber auch alles."
"Was haben wir uns denn wieder geschmissen?"
-"Zwei Nasen Pep. Kommt so einmal im Monat vor."
Pause, in der ich mir denke, was bin ich froh, dass ich nicht mit ihm zusammen bin.

Das "Konzert" entpuppt sich als eine Vernissage, bei der zusätzlich eine Band spielt, die sich irgendwo zwischen Stoner und Indierock bewegt. Mein Hauptproblem ist allerdings weder der akute Mangel an Konzert, noch meine optische Deplatziertheit, sondern die ganzen Menschen um mich herum.
So sehr, dass ich die ersten zehn Minuten zum Großteil damit verbringe, mich vom heulen abzuhalten.
Die restlichen Besucher sind durchschnittlich zwischen 40-60 Jahre alt, und haben sich alle Mühe gegeben, während dieses kleinen, für sie wohl ziemlich aufregenden Ausbruchs aus ihrem netten, komfortablen obere-Mittelklasse-Leben möglichst auffällig ihr eigentliches, "wahres" Dasein als ach-so-kreative Bohèmes zu demonstrieren.
Eine Besucherin war sogar so rebellisch, ihren breiten, mutmaßlich 200 Euro teuren Schal als Stirnband zu zweckentfremden.

Auf Konzerten waren sie vermutlich alle noch nie, und so werde ich diverse Male unsanft zur Seite und fast auf die herumstehende Kunst geschubst, was von weiteren obere-Mittelklasse-Hippies mit aggressivem "Pass auf, da steht Kunst!"-Gezischel quittiert wird, was mich mich fast schon wieder zum weinen bringt. Fühle mich ungerecht behandelt (was kann ich denn dafür, wenn sich alle an mir vorbeidrängeln wollen, statt es ein paar Meter weiter drüben zu versuchen, und die einzige Ausweichmöglichkeit nunmal in Richtung der seltsamen Holzfigur mit dem überdimensionalen Penis geht?) und überhaupt ganz furchtbar, kann aber leider auch nicht mal schnell eine rauchen gehen, weil ich auf die Sachen des Wikingers aufpassen muss, der zusammen mit ein paar ganz mutigen Mittelklassehippiefrauen ganz vorne steht und irgendwas macht, was er wohl für tanzen hält.

Spätestens, als ich mich gegen eine 50jährige, auf meinen Arsch gepflanzte Hand verteidigen muss und sogar dafür nur böse vom Restpublikum angeschaut werde (Sie ahnen es: Ich bin in Richtung der Kunst zurückgewichen), reiße ich das emotionale Ruder vom Heul- in den Hassmodus rum und gehe dazu über, mit verschränkten Armen und ohne jegliche Regung (oder Blinzeln) die Menschen um mich herum verachtungsvoll anzustarren. Halt das, was man normalerweise auf Black Metal-Konzerten macht.
Funktioniert auch erstaunlich gut; bis auf eine selbsterklärte Edel-Walpurga, die unfähig ist, ihren einen Dreimeterradius benötigenden Rumpelstilzchentanz einfach einen Meter neben mir auszuführen, und mir stattdessen beständig mit hocherhobenen Armen vor den Schultern herumfuchtelt, hält der restliche Faschingsverein endlich Sicherheitsabstand.
Ein paar mitleidig-irritierte Blicke fliegen dann und wann noch in meine Richtung, aber ansonsten kann ich mich tatsächlich abwechselnd auf die Musik, und auf möglichst abwertendes Mustern meiner Mitmenschen konzentrieren.
Dann und wann grinsen der Wikinger und ich uns an, wenn die Althippie-Waldelfe im Echtpelzmantel und mit dem 200Euro-Schal um den Kopf gerade wieder besonders motiviert ihren Fruchtbarkeitstanz aufführt, während die Mutti in der grün-blau-weiß gestreiften Schlaghose wie ein kleiner Wutkobold auf der Stelle hüpft. Zugegebenermaßen sieht das Tanzverhalten meines Begleiters auch nicht besser aus, im Gegensatz zu den Anderen ist es aber nicht auf gesehen werden und zeigen, wie freigeistig und unangepasst man doch ist, ausgelegt, und vermutlich zu großen Teilen angetrieben von "Ich KANN mich jetzt nicht hinsetzen, nicht nach den zwei Nasen", deshalb geht das schon.

Als die Band endlich fertig ist, drücke ich dem Wikinger seine Sachen in die Hand und flüchte zum Rauchen nach draußen, wo die Bohèmes um eine Feuertonne versammelt stehen, sich gerade über ihre kreativen, unangepassten Leben austauschen und mich gedanklich Benzinfass und Feuerzeug auspacken lassen.
Unnötig zu erwähnen, dass sie Feuer-Ettikette genauso wenig drauf haben, wie Drängel-Ettikette und so unter anderem ein Rollstuhlfahrer überhaupt nichts von der Wärme abbekommt, weil zwischen ihm und dem Feuer eine undurchdringliche Wand aus Chapati- und Pelzmänteln steht, die so sehr in tiefgründigste Unterhaltungen vertieft ist, dass sie nichts mehr von der Welt um sich herum mitbekommt, bis eine ungünstig aufgestapelte Holzstange aus dem Feuer fällt und die Chapati- und Pelzfraktion wie aufgeschreckte Hühner fliehen lässt.
"Na also, geht doch." Der Rollstuhlfahrer schiebt sich zufrieden in Richtung Tonne und zündet sich eine Zigarette an.

Das Angebot des Wikingers, noch mit zu einer WG-Party zu gehen, lehne ich aufgrund von innerer Instabilität und der Tatsache, dass Teile seiner WG mich an meine ehemalige erinnern, dankend ab. Man muss sich ja nicht mehr fertig machen, als unbedingt nötig.
Bevor er geht, fragt er, ob es in Ordnung ist, dass er sich jetzt mit einer Anderen trifft.
Aus Sicherheitsgründen höre ich wirklich sehr tief hinein in die Abgründe meines seltsamen Innenlebens, und erstaunlicherweise ist es wirklich in Ordnung.
Erstaunlicherweise habe ich gar nicht das Bedürfnis, in irgendeiner Art und Weise an diesen Menschen gebunden zu sein. Attraktivität und halbwegs interessante Persönlichkeit hin oder her.
Es reicht einfach nicht für "mehr".
Und er tanzt komisch.
Und ich käme mit seinem Lebensstil und seiner WG auf Dauer nicht klar.
Also lasse ich es, und mich nicht weiter darauf ein.
So einfach ist das.

Ich bin ein bisschen stolz auf mich.




Samstag, 8. November 2014
...brace yourselves.

Habe einen mutmaßlichen "Ich bin gerade auch noch nicht wieder beziehungsfähig und hab eigentlich eher Lust, mich durch die Gegend zu vögeln, aber dich find ich ja irgendwie schon interessant genug, um dich auch ein zweites Mal zu besuchen"-Volltreffer gelandet.
Wieder ein Wikinger, zur Zeit scheine ich da ein Händchen für zu haben.

Lange, blonde Haare, Fünftagebart, ungefähr 1,95m hoch, dreißig Jahre alt, masochistische Ader, gepierct und befremdlicherweise ziemlich fasziniert von mir.
Nach einem Abend in der Unistadt-Stammkneipe, an dem ich mich selbst frage, warum ich das mit dem ganzen Reden und mach-es-ihm-nicht-zu-einfach so gut hinkriege, werde ich nach meiner Handynummer gefragt und gebe sie sogar freiwillig raus.

Am nächsten Tag sitze ich in seiner WG im ehemaligen Studentenwohnheim, einer leerstehenden Kaserne, die von außen (und zum Großteil auch von innen) absolut zugesprayet und generell abrissbereit aussieht, und zähle leise mit, wie oft der Zimmernachbar meines potentiellen neuen Wikingers mit der Bong in der Hand reinplatzt, um uns nach Feuer zu fragen.
Die restliche Zeit verbringe ich damit, den Inhalt des Bücherregals (Ja, endlich mal einer, der liest!) zu studieren/hinterfragen, mich, wenn ich das Zimmer verlasse, von seinen Mitbewohnerinnen auf die klassische "Armes, kleines Mädchen, bist du etwa auf die Tricks des großen, bösen Wikingers reingefallen und sitzt jetzt hier, weil du dir ernsthafte Hoffnungen machst?"-Art und Weise anstarren zu lassen (Brennt in der Hölle, der einzige Grund, warum ich gerade noch hier sitze, ist die Tatsache, dass ich den Mann sicherlich nicht vor euren zugekifften Augen flachlegen werde), und abwechselnd eine der drei Katzen zu flauschen.
Der Wikinger selbst scheint eher gemäßigt vor sich hin zu konsumieren, trotzdem fühle ich mich zu sehr an meine alte WG erinnert, um mich wirklich wohl zu fühlen, und verziehe mich in Richtung des heruntergekommenen Innenhofs, auf den irgendjemand vor geschätzten 20 Jahren mal eine Schaukel gestellt hat, damit man den Wohnblock "familiengerecht" nennen kann.

"Spontanflucht?" Der Wikinger, samt Katze um die Schultern und zwei Tassen Tee in der Hand, lässt sich neben mir auf einer Holzbank mit Ausblick in Richtung des gegenüberliegenden Betonklotzes nieder und drückt mir Tee sowie eine Zigarette in die Hand.
-"Schon so ein bisschen. Fremde Menschen sind manchmal so ein Angstfaktor."
"Macht ja nichts." Wenn ich für jedes "Macht nichts", das sich später als Unverständnis oder Irritation entpuppt hat, einen Cent bekommen hätte..
"Du scheinst schließlich ziemlich souverän damit umzugehen."
-"Tue ich das?"
"Du schätzt die Lage ab, und wenn es dir zu viel wird, schaffst du dir eben Freiraum. Ich finde schon, dass das souverän ist. Ich mag das."
-"Hm."

Der Wikinger fährt damit fort, zumindest auf den ersten Blick die Macken, die einem eben am ehesten auffallen, für nicht weiter dramatisch zu halten und zwischen mal mehr, mal weniger anzüglichen Kommentaren bis Komplimenten (erwähnte ich schon, _wie_ überlastet ich bin, wenn mich jemand attraktiv und interessant findet? Es gibt keine effektivere Methode, mich aus dem Konzept zu bringen) und Diskussionen über Gott und die Welt anzudeuten, dass er gerne den Abend mit mir verbringen würde.
"Ich hab Tante Emma versprochen, mit ihr auf ein Konzert zu gehen."
-"Na, dann gehen wir da eben hin."

Und so kam es, dass ich mal wieder in der Industriestadt war, an meiner Seite nicht nur Tante Emma, sondern auch einer der attraktivsten Männer auf dem Konzert, mit ganz großen Augen vom Exilsachsen beobachtet (und dann noch auffälliger ignoriert.Selbst Schuld, Arschloch!), und von nicht wenigen anwesenden Frauen ziemlich neidisch angestarrt (Ja, der Mann ist wirklich sehr ansprechend).
Zwischendurch wird Tante Emma von einem früheren Kumpel abgeholt, weil der auch mal wieder in der Gegend ist, und der Wikinger geht dazu über, etwas eindeutigere Andeutungen zu machen, die gar nicht mal so sehr meinen Fluchtreflex auslösen, und überhaupt könnte man fast von einer angenehmen Gesamtsituation sprechen.

Dann werden wir angerufen und darum gebeten, Tante Emma einzusammeln, weil sie alkoholbedingt dauernd einschlafen würde und außerdem mit Schwung gegen eine Tür gelaufen und generell inzwischen eher nervig wäre.
Somit verbringe ich den Großteil der Nacht damit, einem stammelnden, zwischendurch einnickenden, vor- und zurück wippenden Alkoholzombie die Beule zu kühlen und Händchen zu halten, bis sie mich gnädigerweise um halb sechs in Ruhe lässt lässt und ich zum Wikinger, der circa eine Stunde früher schlafen gegangen ist, unter die Decke kriechen kann.

Den nächsten Tag verbringe ich damit, gelegentlich in Fluchtreflex und namenlose Panik abzudriften, schaffe es aber ganz gut, mich da wieder rauszuholen, und abends sitze ich in der Straßenbahn ans andere Ende der Stadt, um mich vom Wikinger bekochen zu lassen.
Als wir später mehr oder weniger angekuschelt nebeneinander liegen und rauchen, erfahre ich, dass er ebenfalls diverse Kindheitsgeschichten zu verarbeiten hat und deswegen in Therapie ist.
"Wenn das jetzt ein Minuspunkt ist, ist das auch in Ordnung. Aber ich will so gut wie möglich für meinen Sohn da sein, und das geht nur, wenn ich mit mir selbst zurecht komme."
-"Wieso sollte das ein Minuspunkt sein? Im Gegensatz zu anderen Personen, die hier grad in der Gegend rumliegen, hast du wenigstens ne Therapeutin.
Aber erzähl doch mal von deinem Kurzen. Wohnt der bei seiner Mutter, oder hab ich den vor lauter Menschen einfach übersehen?"
-"Nee, der wohnt bei seiner Mutter, ich hab ihn aber auch ein, zwei Mal die Woche. Sie macht halt gerade Stress, weil sie die Wohnung zu abgefuckt für ein Kind findet, und weil wir in der WG ja angeblich alle dauersaufen und -kiffen würden. Dabei trink ich wenn, dann eh nur auf Konzerten oder so, und rauch nicht mal Zigaretten, wenn der Kleine im gleichen Zimmer ist. Achja, zweieinhalb ist er jetzt."

Am nächsten Morgen werde ich zwar sehr nett geweckt, anschließend aber mit einer Tasse Tee und einem "warte bitte kurz, ich muss das noch schnell machen" aufs Sofa gepflanzt, während der Wikinger durch die Wohnung rotiert und im Eilverfahren sein Zimmer, das Bad, und ansatzweise auch die Küche vorzeig-, beziehungsweise im Fall der Räume, die auch die restliche WG nutzt, zumindest begehbar und kindersicher macht und dabei jede Hilfe ablehnt. "Du bist mein Gast, nicht meine Putzfrau. Wobei ich gegen so nen Mini und ne kurze Bluse auch nix einzuwenden hätte."
Tatsächlich ist innerhalb einer guten halben Stunde das Gröbste geschafft; zudem hat sich eine Freundin des Wikingers gemeldet und gefragt, ob er sie mit seinem Sohn besuchen möchte, wodurch eine nicht ganz so heruntergekommene Wohnung zur Kindsbespaßung bereit steht.
"So. Es tut mir ja im Herzen weh, das zu sagen, und ich verspreche auch, dass du das nicht oft von mir zu hören bekommst, aber ich fürchte, du müsstest dich jetzt fertig anziehen, damit ich dich zum Bus bringen kann. Ich hätte dich auch heim gefahren, aber du wohnst halt leider genau in der entgegengesetzten Richtung."
-"Ich kann auch mit der Straba zum Bus fahr-..."
"Nee, mindestens zum Bus fahr ich dich jetzt noch. Beziehungsweise, wenn du willst, kannst du fahren, ich seh doch, wie du die Karre immer anschaust. Sei froh, dass ich nicht eifersüchtig bin."


Kurz: Habe jemanden aufgegabelt, der, neben einer gewissen Grundkompatibilität und Grundanziehung der angenehmen, da für mich emotional sehr entspannten Sorte (Ich weiß noch, was ich mache, ich denke nicht mal ansatzweise darüber nach, ob man das Ganze zu einer Beziehung ausbauen könnte, und ich bin mir ziemlich sicher, dass das auf Gegenseitigkeit beruht) auch noch drei Katzen, einen ziemlich guten Literaturgeschmack und einer Liebe zu alten Autos, die sich in Form eines '87er Passat Kombis manifestiert hat, mitbringt.
Wenn das mal kein Treffer ist.




Mittwoch, 5. November 2014
Einer, zumindest nach Meinung des Dozenten, hoch spannenden Exkursion sei Dank ist es mir gelungen, systematisch weitere Kommilitonen in beinahe-Freunde umzuwandeln. Und das sogar im Nebenfach!
Da ist die Amazone, die einen beinahe so ausgeprägten Haartick hat wie ich, im Gegensatz zu mir aber einen hosentaschenlangen, dunkelpinken Zopf mit sich herumträgt.
Ich habe mich schon lange nicht mehr so kurzhaarig gefühlt.
Dann gibt es noch die Elfe von Nebenan, die so absurd klischeeperfekt (klassisch schön, immer freundlich, beliebt, und begabt in irgendwie Allem) ist, dass nicht nur ich mich frage, warum sie beständig und beharrlich meine Gesellschaft sucht.

Und eben der Ziegenmann, einer der Physiker.
Seit einer Kneipentour mit ihm, der Amazone, einer weiteren Kommilitonin und Tante Emma schreiben wir gelegentlich, und irgendwann fragt er, ob wir nicht mit zu seinem Kumpel wollen, den er noch aus seiner Heimatstadt kennt und der auch in der Unistadt wohnt.
Samstag Abend, sonst nichts los, kein Geld, und der Mann hat Met, Beamer, Leinwand, und Katzen.

Nach den Erzählungen des Ziegenmanns erwarte ich einen schlacksigen, schüchternen, unter Anderem Informatik studierenden Computernerd, der seit Jahren kein Sonnenlicht mehr außerhalb von Minecraft gesehen hat, und bin somit etwas überrascht, als uns eine in Lederjacke und Bundihose gehüllte, gar nicht mal so unattraktive Wikinger-Gestalt von der Bushhalte abholt und sich als ein weiterer Physiker, der Katzenmann, vorstellt.
Der Katzenmann zeigt sich begeistert von meinem Humor, und mit fortschreitender Zeit tendiere ich immer mehr dazu, eigentlich lieber mit ihm kuscheln zu wollen, als mit seinem drei Monate alten Kater Kafka, der sich zunächst mit Begeisterung von mir müde spielen lassen und sich anschließend auf mir zusammen gerollt hat, bis ich ihn dann doch mal für eine Raucherpause aufjagen muss.

Ein paar dezente Andeutungen meinerseits erweisen sich in der Rückschau als zu dezent, um von einem Normalsterblichen verstanden zu werden, was eventuell dazu beigetragen hat, dass der Katzenmann zwar immer wieder meinen Blick gesucht und auch über die bescheuertsten Sprüche gelacht, sich ansonsten aber absolut unauffällig verhalten hat.
Immerhin ist er einmal ein bisschen rot geworden, als ich seinen Blick aufgefangen habe.
Ansonsten ein paar Gespräche über Game of Thrones (Ja, ich habe wirklich nur eineinhalb Staffeln gesehen, die DVDs liegen bei Mr.Gaunt und gehören ihm dooferweise auch. Was, der Katzenmann hat alle Staffeln? Das ist ja praktisch. Oh, der Ziegenmann will die auch mal sehen? Da könnte man die ja mal zusammen gucken. Aber natürlich wäre das viel zu einfach), Doctor Who und seltsame Youtubevideos, und bevor er uns wieder zum Bus bringt, drehen wir noch eine Runde auf der Suche nach Franz (Ich habe gefühlt den halben Abend damit verbracht, mich darüber zu freuen, dass die beiden Kater Franz und Kafka heißen), seinem älteren Kater, der schon eine ganze Weile unterwegs ist und leider auch verschollen bleibt.

Sobald der Ziegenmann ausgestiegen ist, geht Tante Emma von grimmigem Schweigen zu absolut verknalltem Schwärmen über und erzählt mir nonstop, wie toll sie den Katzenmann doch finde.
Nach dem Mischpultmann, dem Rentier, und einem Kumpel Mr.Gaunts, die ja alle doof wären, habe sie jetzt das ultimative Ziel gefunden.
Heirat und Kinderkriegen quasi schon vorprogrammiert, und so.
Das Übliche eben.




Mittwoch, 22. Oktober 2014
Ich bin eine Allianz der Finsternis Zweckgemeinschaft mit dem Genie, einer zukünftigen Grundschullehrerin, eingegangen.
Und unsere Zweckgemeinschaft der Aussätzigen mutiert langsam zu etwas, das ich manchmal fast für eine Freundschaft halte, dank derer ich selbst im Nebenfach sehr losen Smalltalk mit einer Hand voll Kommilitonen führen konnte.
Dank ihr habe ich auch den Philosophen kennen gelernt.
Der kommt aus Polen, ist in Österreich zur Schule gegangen, hat am anderen Ende Bayerns sein Abitur gemacht, auf Lanzarote gearbeitet und studiert jetzt hier, freiwillig. Ihm war nach etwas Abwechslung.

Wenn wir zusammen Freistunden absitzen, unterhalten das Genie und, je nach emotionaler Basisstimmung, manchmal auch ich gefühlt die komplette Mensa/Cafeteria/Schlange vor der Kasse bei Penny. Sie kann man eventuell leicht übersehen, aber niemals überhören; ich passe mich in ausgelassenen Momenten an.
Wenn es stimmt, dass stille Wasser tief sind, ist der Philosoph der Marianengraben.

Wenn er und ich rauchen, während das Genie Pokemon auf ihrem magentafarbenen Gameboy Color spielt, zeigt sich manchmal dieses kleine, fast nicht sichtbare Lächeln in seinem Gesicht, während wir vor uns hin schweigen, und vielleicht tragen diese Kippenpausen dazu bei, dass ich Dienstags und Donnerstags gleich nach dem ersten Weckerklingeln aufstehe und mich beinahe uneingeschränkt auf die Uni freue.

Wir sitzen zusammen die Sprachwissenschaft-Vorlesung ab und sie waren einer meiner Gründe, im dazugehörigen Seminar den Dozenten zu wechseln; ihretwegen habe ich es sogar geschafft, mich persönlich bei meinem ab- und ihrem anzumelden, Angst vor zwischenmenschlichem Kontakt hin oder her, und bei der Gelegenheit sogar gleich den Brummbären alias das Grummlon wieder getroffen, der im Sommer ein anderes Seminar mit mir besucht hat und mit dem ich die wohl seltsamste Zweckgemeinschaft des Semesters dargestellt habe.
Anscheinend hat er sich sogar ein bisschen gefreut, mich wieder zu sehen.


Dann hat das Genie mir erzählt, dass ihr Krebs wieder da ist.
Nicht einmal ihren Eltern, in deren Villa sie wieder wohnt, hat sie es erzählt. Nur mir und ihrer besten Freundin.
Einfach so, während ich je zwei ihrer Ratten auf den Schultern und meinem Schoß sitzen hatte und die fünfte gerade dabei war, es sich in meinem Ausschnitt bequem zu machen.
Auch der Philosoph und ich können nichts daran ändern, dass sie Donnerstage hasst und Freitage meistens ein einziger Kampf gegen die Nachwirkungen der Bestrahlung sind, den sie tarnt und versteckt, so gut es geht.

Darüber schweigen wir; nur manchmal, wenn der Philosoph gerade in einer anderen Fakultät sitzt, oder noch in seinem Bett liegt und schläft, und auch sonst noch niemand oder keiner mehr da ist, verliert sie einen Halbsatz darüber und ich die Fähigkeit, zu sprechen.






Donnerstag, 16. Oktober 2014
Seit ein paar Tagen kommt es schleichend zurück.
Das Namenlose, die Unsicherheit, die Angst, oder doch nur Paranoia.
Die Schlaflosigkeit, die Unruhe, und nochmal, die Unsicherheit.
Verlustangst, Angst, nicht genug zu sein und eigentlich die (falsche?) Überzeugung, dass genau das der Fall ist.

Ich kann nicht mehr auf Menschen zugehen.
Und es ist auf einmal wieder relevant, was sie denken (könnten).
Ich kann nicht mehr vor vier, fünf Uhr schlafen und stehe nicht vor 14 Uhr auf.
Außer heute, da habe ich Uni.
Uni ist toll, zumindest, wenn es um das Hauptfach geht.
Ich bin ganze fünfzig Minuten, bevor der Bus fährt, aufgestanden, habe gefrühstückt, draußen, solange das noch geht, meinen Tee getrunken, mich angezogen und geschminkt, mir eine Zigarette gedreht und bin pünktlich losgelaufen.

Überhaupt, ich schminke mich wieder im Alltag.
Damit die Leute nicht sehen, wie klein und unsicher ich bin. Zumindest nicht auf den ersten Blick.
Und das Experiment "Schachteln statt drehen" habe ich auch wieder aufgegeben.

Ich weiß nicht, aus welcher Ecke es hervorkriecht.
Eigentlich ist es überall.
Es hat mich umzingelt.
Und von der Glasglocke, unter der ich mich gerade so ein bisschen häuslich eingerichtet hatte, ist nichts mehr übrig.

Als ich dem Exilsachsen gegenüber stand, habe ich keinen Ton rausbekommen. Nicht mal ein "Hallo".
Kommunikation mit Kommilitonen kann man eh vergessen.
Immerhin eine habe ich nicht verjagt. Die fand mich nett und hat gefragt, ob wir nachher in der Vorlesung nebeneinander sitzen wollen.
Ansonsten zwischenmenschlich Land unter.

Ich weiß nicht, was los ist.
Oder wann es vorbei geht.





Montag, 6. Oktober 2014
Dank der einzig seriösen Internetseite, wenn es darum geht, in mir sympathischen Subkulturen verhaftete Menschen,und solche, die sich dafür halten, kennen zu lernen, hatte ich zwei Dates.
(Ja, ich habe tatsächlich ein Leben. Und da passiert sogar noch viel mehr, als hier landet).

Date Nr.1 studiert das gleiche Nebenfach wie ich und ursprünglich hatte ich nur um Hilfe bei der Wahl meiner Kurse gebeten, der entsprechende Modulplan sah nämlich weniger nach "Plan" aus, als viel mehr nach "Wir ballern einem Schimpansen jede Menge Wodka-E rein, schieben ein paar Mentos und einen Liter Cola hinterher, stecken das Ganze in die Mikrowelle, und das Endprodukt stellen wir dann online". Nur noch viel wirrer.
Date Nr.1 sah natürlich seine Chance, sich, nach fast zwei Monaten, in denen ich mich eher sporadisch gemeldet hatte, endlich davon überzeugen zu können, dass ich auch in echt absolut umwerfend bin, und beschloss, dass wir nach getaner Arbeit noch was trinken gehen würden.


"Wo bleibst du, mir ist kaaaaaaalt!". Sms von mir an Date Nr.1, nachdem ich, völlig durchgeweicht von dem Wolkenbruch, der mich bis zur Uni begleitet hat, seit zwanzig Minuten in der Kälte stehe (jetzt immerhin mit strahlendem Sonnenschein) und auf eine schwarze Gestalt am Horizont warte.
"Ja wart ich lauf grad die Treppe hoch".
Hoffnungsvoll und halb in Erwartung des Zweimeterhünen mit Wikingermähne und wehendem Mantel, den das Profilbild angekündigt hatte, zur anderen Hälfte überzeugt, gleich einem fünfundvierzigjährigen, einssechzig messenden Familienvater auf der Suche nach Abenteuern gegenüber zu stehen, wende ich meinen Blick zur Treppe.
Drei.
Zwei.
Eins.
Och neee.
Date Nr.1 ist mit Glück so groß wie ich, und mutmaßlich ein gutes Stück schwerer, was ihn allerdings nicht daran gehindert hat, sich in eine hellblaue Skinnyjeans zu quetschen, gegen die selbst meine geheiligte Lederleggings nach Baggy Pants aussieht. Ergänzt wird das Ensemble durch ein Steel Panther-Shirt (wie ich später feststelle, stilecht mit abgeschnittenen Ärmeln, aus denen sich Achselhaare in Form von mindestens zwei Hamstern pro Seite ans Tageslicht kringeln) und die obligatorische Lederweste mit diversen Patches.
Seine nicht ganz so wikingermäßige Haarpracht (also, die auf dem Kopf) hat Date Nr.1 mehr oder weniger erfolgreich über die beginnende Glatze gebürstet und zu einem Zopf (Zöpfchen?) gebunden.
"Hi, ich bin Date Nr.1."
-"Jo, bekanntermaßen bin ich mayhem". Und ich sehe in echt sogar noch besser aus, als auf meinen Fotos.
"Schön, dass es endlich geklappt hat. In echt find ich dich noch hübscher."
Sag ich doch.

Während des Stundenplanbastelns bleibt mir regelmäßig fast die Luft weg, während Date Nr.1 über die "wahren Werte des Metals" philosophiert, dabei erklärt, selbst "klassischer Oldschooler" zu sein,die "intoleranten Black Metaler" am Besten "alle in nen Container verfrachten und ganz weit weg verschiffen" zu wollen und dabei so intensiv nach Schweiß, versagendem Deo und irgendeinem Höllenkraut von Tabak stinkt, dass ich erwäge, unauffällig ein Räucherstäbchen anzuzünden.
"Du bist doch nicht son Black Metal Chick, oder?", fragt mich Date Nr.1 mit skeptischem Blick, während ich überlege, ob ich ein Seminar zum Totenkult im Wandel der Zeit, oder doch lieber eines über "das Kuriosum Religion" belegen soll, und nebenher anfange, Pläne zu schmieden, die mich davor bewahren soll(t)en, auch noch was mit meiner Begleitung trinken zu müssen.
-"Du, ich kategorisier mich eigentlich nirgends ein...ich bin ne Zeit lang quasi permanent durch die Black Metal-Szene geschleift worden und hab da einiges für mich entdeckt, aber ich würde meinen Musikgeschmack nie nur auf ein Genre reduzieren."
Für den Moment scheint ihn das zufrieden zu stellen.

Auf der Suche nach einem halbwegs netten und halbwegs erschwinglichen Café (in dieser Kombination so gut wie unmöglich, aber bekanntermaßen ziehen mich aussichtslose Problemfälle Herausforderungen ja an) verkündet Date Nr.1, dass er eigentlich lieber ein Bier trinken würde.
Etwas später sitze ich, mitten in der Großstadt, in der urigsten, dorfkneipenhaftesten, original bayerischen Bierkneipe, die ich bis jetzt kennen lernen musste, versuche gelegentlich halbherzig, unser Schweigen zu überbrücken, und kippe mir nebenher im Eilverfahren mein Colabier rein, damit das Trauerspiel endlich mal ein Ende hat.
Als ich einen Spruch über die "Jugend von heute, die nur noch an ihren Handys hängt" als Reaktion auf sein Smartphone-Getippe bringe, erklärt Date Nr.1 seelenruhig und kombiniert mit einem weiteren Versuch, mir unauffällig in den Ausschnitt zu schielen: "Ach, das ist nur meine Freundin, die schiebt immer bisschen Stress, wenn ich ohne sie unterwegs bin."
-"Du hast ne Freundin?" Dann geh und sabber die an. Los.
"Ja schon", meint Date Nr.1, und fügt ganz selbstbewusst und mit einem Unterton in der Stimme, der wohl verwegen klingen soll, hinzu: "Aber ich bin einfach kein Mann für nur eine Frau."
Als mich im Bus gen Heimat eine "war schön, dich kennen zu lernen"-sms samt hochgradig unerotischer Beschreibung, was der Herr am Liebsten auf der Unitoilette (Aufm Uniklo! Bäh! Da will ich ja nicht mal zum pissen hin!) mit mir gemacht hätte, entscheide ich mich dafür, das mit der Antwort erstmal zu lassen.

Date Nr.2 war im Vergleich zu Nr.1 wirklich ganz nett und schon deutlich wikingerhafter, entpuppte sich später aber als solide, felsenfest auf dem Boden, sowie stumpf und glücklich in seinem Durchschnittsleben verhaftet, und absolut verständnislos, was meinen Humor oder die seltsamen Produkte meines Verstands angeht und ist eigentlich nicht mal diesen einen Satz wert, so furchtbar distanziert-durchschnittlich-seltsam war das im Nachhinein.

Ich glaube, ich adoptiere einfach noch eine Katze.




Donnerstag, 28. August 2014
Entgegen jeglicher Logik hat Tante Emma mein Gespräch mit dem Exilsachsen mitbekommen.
Und entgegen jeder Logik ist sie mindestens doppelt so quietschig-freudig-hibbelig wie ich.
"Echt, ich freu mich voll! Das wird bestimmt was, vor Allem, wo du dem doch schon so lange aufgefallen bist!"
-"Mr.Gaunt bin ich angeblich schon 2010 aufgefallen."
"Mr.Gaunt ist auch scheiße und weiß nicht, was er für ne tolle Freundin hatte!" Das wusste er. Und auch, wie verletzlich ich bin. Vermutlich hat es deswegen so lange gedauert. "Aber echt, scheiß auf Mr.Gaunt! Der Exilsachse hat auch lange Haare und n Bart, wenn du dadrauf stehst. Und sogar n Motorrad! Und bald seid ihr zusammen!"
Auch ein dezenter Hinweis darauf, dass a)niemand weiß, was in dem Kopf dieses Menschen vorgeht, was, bedingt durch sein Verständnis für und benutzen von Frauenlogik durchaus gefährlich werden kann, und b) sich bereits zwei Frauen seinetwegen bei mir/uns augeheult haben, kann Tante Emma nicht ins Wanken bringen. Die Tatsache, dass ich, ganz untypisch, selbst erst mal abwarte und herausfinden muss, auf welche Art ich mich für den Exilsachsen interessiere, ebenso wenig.
"Das wiiiiiird! Das wird ganz sicher! Mindestens mal n guter Fick."
Immer diese Optimisten.

"...für wen interessierst?" Weil das Telefon festgekabelt ist, hat mein Gespräch stilecht im Flur und mit Telefonschnurverdrillen stattgefunden, und offensichtlich hat sich der Surfer doch nicht so sehr auf American Dad konzentriert, wie ich dachte.
Nachdem ich sowieso bombenfest auf der Kumpelschiene verhaftet bin, erzähle ich ihm vom Exilsachsen.
Noch eine Folge American Dad und ein paar Kippen, dann geht der Surfer schlafen, ein paar Stunden später zwinge ich mich ebenfalls dazu. Alles ok.

Bis er auf einmal Interesse an meiner hysterischen Vorfreude aufs neue Sólstafir-Album zeigt.
Und beim Rauchen wieder neben mir sitzt.
Wir reden über Musik und darüber, dass er durch die Arbeit zu wenig Gefühl in den Fingern hat, um Gitarre zu spielen, und auf einmal hält er meine Hand in seiner.
"Hab auch total raue Hände durch die Arbeit, siehst du? Nicht so weiche Hände wie du." Er streichelt mir über die Finger und mein Herz spielt kurz Blastbeats.
Dann lassen wir los und alles ist wieder normal.
Ich rauche fertig, er raucht fertig.
Ich rolle mich auf dem Sofa mit meiner Decke ein, er leert sein Feierabendbier.
Dann liegt er auf einmal auch auf dem Sofa, Kopf an Kopf zu mir, und es geht wieder los mit den Blastbeats.
Erst recht, als er mich wegen irgendeines dummen Spruchs spaßeshalber schubst und sich unsere Blicke für zwei Sekunden treffen und etwas ist, was so gar nicht auf die Kumpelschiene passt.
Dann hebelt sich die Realität wieder ein und alles ist wieder normal.
Weg von den Blastbeats, und einfach weiteratmen.
Did you forget to take your meds?

Heute wieder so irritierend viel Interesse an meiner Person. Er geht sogar ansatzweise auf meine maximal semi-witzigen Sarkasmusanfälle ein.
Dann erzählt er von einer Exfreundin, aber nicht, wie geil die war, sondern dass es in die Brüche gegangen ist, weil sie kein Verständnis für sein Hobby/halbes Leben hatte. Und lauert auf meine Reaktion.
Liegt wieder Kopf an Kopf, bis wir schlafen gehen.
Das typisch freundlich-lockere "gute Nacht", diesmal erweitert um ein "bis Morgen".

Auf meinem Handy eine SMS vom Rentiermann. Mein Angebot an ihn und die restliche Festivaltruppe, als Entschädigung für das schnelle Ende am vergangenen Wochenende morgen auf ein paar Bier und selbstgebackene Pizza vorbeizukommen, bevor sie Freitagmorgen um halb sieben gen Festival starten, würden sie sehr gerne annehmen. Der Friseur müsse leider absagen, wie es bei Bauarbeiterbob aussieht, wisse er noch nicht. Er selbst käme aber sehr gerne, sofern es zeitlich klappt, und würde dann wahrscheinlich den Exilsachsen mitbringen.
Achja, der habe mich ja anscheinend ganz sympathisch gefunden. Zwinkersmiley.
Erwähnte ich schon die Herz-Blastbeat-Geschichte?




Sonntag, 24. August 2014
Nach einem ziemlich biegerladenen Abend rolle ich mich Samstagmorgen aus dem Bett, male mir ein Gesicht und muss gleich weiter. Sommerfest in der Absteige, und es treten unter anderem der Fremde und Ms Golightly auf.
Unterwegs sammle ich Tante Emma ein, die doppelt so verkatert ist wie ich, wie immer, weil sie meine Ratschläge zum strategischen und eher gemäßigten Trinken nicht beherzigt hat, wie immer.
Zwei Stunden Zugfahrt, zwei Stunden warten, weil wir mit dem späteren zu spät angekommen wären, Kippe drehen, auf gehts.

Ms Golightly überrascht mich mit ihrem plötzlich aufgetauchten Gesangstalent und mein Verstand mit meiner Angstfreiheit.
Ein bisschen Stimmung machen für die anderen zwölf Zuschauer, ein paar blöde Kommentare, um Ms Golightly auf der Bühne die Nervosität zu nehmen, später Pendeln zwischen Bar und Raucherecke. Mir ist bewusst, von wem ich diese Strategie habe (mit dem Unterschied, dass ich außer einem Radler und zweimal Persico nur alkoholfreies trinke, der Abend hat ja noch nicht mal richtig angefangen), aber sie funktioniert.
Doof sein, zumindest so tun, als würde man sich selbst und alles andere feiern, und wenn die Nervosität und die Angst zu groß werden, Spontanflucht. Passt.
Ms Golightly überlebt ihren ersten "richtigen" Auftritt, der Fremde hat mit dem Start der Biervernichtungsmaßnahmen gewartet, bis die nächste Band auf der Bühne steht, irgendwie finden mich auf einmal richtig viele Menschen richtig sympathisch, und als der Rentiermann schreibt, dass in der Nähe der verhassten Kleinstadt ein Konzert ist, etwas später eine etwas irritierte sms der Fielmannfrau, deren Standardkonzertbegleitung ich bin, verkündet, der Exilsachse habe sie gefragt, ob sie da auch hingeht, und zeitgleich eine Nachricht des Rotkreuzmädchens das "du musst da hin, wir haben uns schon ewig nicht mehr gesehen und die haben sowas von geile vegane Steaks"-Argument ausspielt, habe ich innerhalb von zehn Minuten eine Hinfahrtgelegenheit für Tante Emma und mich organisiert, so toll finden mich alle.
Alles läuft so gut. Sitze unter meiner Glasglocke und bin verwirrt.

Neben dem Musikinferno tobt ein halber Höllensturm über dem Sportplatz, auf dem die Bands spielen, innerhalb von fünf Minuten bin ich komplett durchgeweicht und meine Haare sind so schwer, dass ich den Versuch, motiviertere Bewegungen als mitwippen auszuführen, schnell lasse, weil sich sonst gefühlt die Hälfte der Medusazotteln an allen Piercings, die sie zu fassen kriegen, festkrallt und sie mir rausreißen will.
Ich könnte mich nicht besser fühlen.
Viel Matsch, viel Geschrei, nebenher hat der Rentiermann einen Schlafplatz bei einem Kumpel für Tante Emma und mich organisiert.
Auf einmal steht der Exilsachse hinter mir und zupft an meinem Shirt. "Sach mal, du bist doch rohrvoll, oder?"
-"Nee, eigentlich nicht so. Warum?"
"Ach so. Dann lassen wir das lieber", winkt er grinsend ab, verschwindet wieder und die nächsten Stunden ignorieren wir uns möglichst auffällig und gucken gelegentlich, wenn der jeweils andere möglichst versunken in Unterhaltungen mit irgendwelchen anderen Menschen ist. Und das ist nicht mal unangenehm.
Alles läuft so ungewohnt gut. Meine Glasglocke hebt sich ein paar Zentimeter.

Um ein Uhr müssen wir gehen, weil Tante Emma sich, trotz meiner Versuche, sie davon abzuhalten, so zugesoffen hat, dass sie neben ihren üblichen Redeflashs, Aggressionszuständen und Sentimentalitätsanfällen zwei mal erste Anzeichen eines epileptischen Anfalls bekommen hat. Nachdem ich sie beim Rotkreuzmädchen zwischengeparkt habe, suche ich unsere Schlafgelegenheit, den Friseur, erkläre ihm im Eilverfahren die Lage, sammle mit ihm alle anderen Leute, die ebenfalls dazugehören, ein und sitze etwas später im Auto des Rentiermanns, auf der einen Seite Tante Emma, die gerade immerhin nur noch absolut betrunken wirkt, auf der anderen den Exilsachsen, vorne der Rentiermann und der Friseur, und im Kofferraum der Bruder des Friseurs, weil in so ein Auto eben auch nur begrenzt viele Menschen reinpassen.
"Und, musste nicht mehr in der Tankstelle am Ende des Universums arbeiten?", fragt der Exilsachse, während Tante Emma sich an meiner Schulter zusammenklappt.
-"Nee, haben mich einen Tag vorm Ende der Probezeit gefeuert. Dabei war ich da doch die Sympathischste!"
"Meinste?" Fragt er so. Und grinst. Dann ist auf einmal sein Arm an meiner äußeren Schulter und zieht schnell, aber überraschend behutsam meine Haare unter Tante Emma weg. "Die sabbert dich grad voll. Weiß nicht, ob du das so unbedingt in deinen Haaren haben wolltest."
Tante Emmas Hang zum Sabbern in solchen Situationen ist mir bekannt, trotzdem nerve ich sie so lange, bis sie mir, mehr oder weniger verständlich, versichert, nur müde und rotzevoll zu sein. Verschieben lässt sie sich trotzdem nicht, auch nicht, als der Exilsachse wieder näher kommt und mir helfen will.
"Joa, Anschnallen is so halt auch nicht", stelle ich fest. "Wenn ich durch die Scheibe fliege: Ihr dürft mich auslachen, aber danach helft mir bitte."
-"Das geht doch so nicht." Schneller, als ich meinem Hirn befehlen kann, von leichtem Positivgefühl auf "Ih, Nähe!" umzuschalten, hat der Exilsachse über mich gegriffen, den Gurt ziemlich unsanft unter Tante Emma rausgezerrt, die ihn dafür als "Schwanzwichser" beschimpft, über mich gezogen und mich angeschnallt.
Fünf Minuten Schweigen, in denen wir uns möglichst auffällig nicht anschauen.
"Junge Dame, du weißt aber schon, wie du mich einkategorisieren musst?" Wieder so ein undeutbarer Unterton in der Stimme.
-"Ach, ich kategorisiere eigentlich niemanden irgendwie ein."
"Wir haben uns auch schon ein paar Mal in der Tanke gesehen."
-"Ich weiß." Und habe danach immer für ein paar Minuten grenzdebil gegrinst.
"Und auf dem einen Festival."
-"Ich weiß." Da habe ich versucht, dich anzusprechen, und du hast es ignoriert.
"Und du hast mich angeschrieben. Wart mal, wo war das ?"
-"Im seriösesten Onlineportal der Welt, wenn es darum geht, pseudo-alternative Vierzigjährige zu finden, die einen anschreiben, weil sie einem seit drei Wochen aufs Profilbild wichsen."
"Aaaah, stimmt, ja. Deshalb hab ich dir da auch nicht geantwortet. "
Ahja, ok.
Es folgen ein paar Standardfragen, wann ich in die Unistadt gezogen bin und warum, und wieder Schweigen.
Weil ich fälschlicherweise denke, dass er ebenfalls beim Friseur schläft, verabschiede ich mich nicht und verbringe die restliche Nacht damit, auf Tante Emma aufzupassen und mich nebenbei zu fragen, ob ich zu distanziert und das Nicht-Verabschieden sehr schlimm war, und ob ich insgesamt zu unterkühlt/arrogant/desinteressiert gewirkt und mich damit ins Aus geschossen habe.
Dann sage ich mir, lass dich nicht verunsichern, alles wird gut. Und freu dich nicht immer so, wenn dich doch mal jemand nett finden könnte. "Könnte" heißt nämlich gar nichts. Es bedeutet genauso wenig wie "ich habe noch nie jemandem so vertraut wie dir", und "du bist alles, was ich gesucht habe". Das habe ich gelernt.
Meine Glasglocke senkt sich wieder.
Ich beschließe, das Ganze als Spiel zu sehen, und erstaunlicherweise klappt es bis jetzt.
Vielleicht ist dieses Isolationsgefühl, die dicke Glaswand zwischen einem selbst und dem Rest der Welt, ja wirklich das, was "stabil sein" bedeutet.
Ich weiß nicht, ob sich das gut anfühlen sollte.