Mittwoch, 18. Mai 2011
Ich hab heute die erste offizielle Magersüchtige in unserer Gegend gesehen.
Genau genommen habe ich sie schon vorher gesehen und es mir auch schon vorher gedacht, aber heute habe ich auf vorsichtiges Nachfragen bei einer Mitschülerin erfahren, dass besagtes Mädchen wirklich nicht "einfach nur extrem dünn" ist. Dachte es schon vorher, kannte sie vom sehen noch von früher, da hatte sie noch schulterlange Haare, spielte Fußball und genau die Mädchen, die immer über sie gelästert haben, weil sie sich allgemein nicht unbedingt feminin verhalten hat, holen sie jetzt in jeder Mittagspause von der Nachbarschule ab und reden mit ihr, somit sitzt sie jetzt immer mit dabei und auch zurechtgeföhnter Kurzhaarschnitt und sorgfältig aufgetragenes, trendorientiertes Makeup schaffen es nicht, abzulenken davon, wie..schlecht es ihr körperlich eigentlich geht.
Sicher, da sind diese Standardbeobachtungen, von denen man immer liest, wenn es darum geht, eine Magersüchtige zu beschreiben; dass selbst die kleinsten Größen noch zu groß sind; dass selbst Holzstäbe noch dick wirken gegen ihre Beine und jegliche Anzeichen einer weiblichen Körperform schon lange verschwunden sind. Das sind die oberflächlich sichtbaren Beobachtungen, die, die am schnellsten auffallen.
Das erste, was ich gesehen habe, war natürlich, dass sie dünn ist, so dünn, dass ihr Bauch nicht nur nicht vorhanden zu sein scheint, sondern sich deutlich sichtbar nach innen wölbt, aber als nächstes habe ich gesehen, wie sie sich verhält; dass sie eigentlich immernoch ziemlich selbstbewusst zu sein scheint; dass ihr komplettes Outfit wie aus einer der Zeitschriften, die ich nie lese,die man aber in dem Alter anscheinend normalerweise liest, kopiert wirkt und dass es entgegen der zumindest bei uns verbreiteten Vorstellung durchaus im Bereich des technisch Möglichen liegt, dass ihr Selbstbewusstein nicht nur Fassade und Show, sondern echt ist.

Vielleicht haben sie ja Schuldgefühle, weil sie früher so über sie hergezogen sind, vielleicht "passt" sie jetzt auch besser dazu, jetzt, wo Klamotten und Haarschnitt stets up to date sind und sich ihr Musikgeschmack von einem Nachmittagsunterricht zum nächsten völlig verändert, je nachdem, was die Charts gerade sagen; vielleicht wollen sie auch ganz uneigennützig auf sie aufpassen oder dafür sorgen, dass sie sich nicht alleine fühlt. Offensichtlich scheinen sie auch hin- und hergerissen zu sein zwischen dem, was man sich bei uns so unter einer Magersüchtigen vorstellt und dem, was sie vorlebt. Sicher ist da auch ein bisschen Show dabei, aber man versteht, durchschaut, sieht sie erstaunlich gut, ich zumindest; und wenn sie erzählt und ich als einzige kapiere, was sie eigentlich sagen will, könnte das positiv sein, die Tatsache, dass sie mindestens genauso misstrauisch auf mein Essen starrt wie ich, im Gegensatz zu mir aber meist nichts oder wenig isst, während sie zu versuchen scheint, mich mit Blicken zu wiegen, und es sonst vermeidet, mich näher anzusehen, wohl zu viel Fett auf einmal, neutralisiert es allerdings wieder. Zum Lachen bringen lässt sie sich auch nicht, der Test bezüglich Höflichkeitslachern bei schlechten Witzen verlief ebenfalls negativ, und allgemein scheint die Tatsache,dass ein Mitte/Oberkante-Normalgewicht-Mensch sie anscheinend versteht und teilweise durchschaut, sie ein bisschen zu verstören.

Sie ist nicht der einzige Mensch, der sich bedingt durch mich bestenfalls leicht verstört fühlt und grenzenlos überrascht ist, wie schnell ich verstehe (das war übrigens das einzige, was sie bis jetzt ein bisschen aus der Reserve gelockt hat) , dafür aber eine der ersten, bei der ich trotz entsprechender Situation nur einen ganz geringen Anfall meines Helfersyndroms habe.
Ob das gut ist oder schlecht weiß ich nicht, wünschen tu ich ihr trotzdem alles Gute.