Montag, 5. März 2012
...fragte schon Bushido seinerzeit in alles verloren, und nach der heutigen Fahrt kann ich antworten: Jo, Homie!

Alles begann, als ich, leicht verwirrt, weil an der üblichen Haltestelle kein Bus in meine Richtung fuhr und der letzte Zug im wahrsten Sinne des Wortes bereits abgefahren war, von einem netten Mitkollegiaten den Hinweis bekam, der Bus mit der richtigen Aufschrift sei gerade an ihm vorbeigefahren, Richtung? "Vorwärts halt". Vielen Dank.
Das Schicksal hatte ein Einsehen, ich schaffte es noch,den Bus zu erreichen, allerdings nicht auf Anhieb, in den Bereich hinterm Personenzurückhalteschlaggerät (der integrierte Baseballschläger, der hinterm Fahrersitz festgeschraubt ist und Eintrittsbereich und Personentransportraum voneinander trennt) zu gelangen, doch nach ein paar amoklaufverdächtig-aggressiven Schreien des auf mich nicht nur leicht cholerisch wirkenden Busfahrers in Richtung der restlichen Insassen meisterte ich selbst dieses Hindernis, wollte mich zufrieden verkabeln, stellte anhand der Lautstärke aber nach nicht einmal einer Minute fest, dass der Akku meines treuen mp3-Players, dessen Display beinahe nichts mehr anzeigt, seitdem da mal jemand drauflag, wohl bald leer sein würde, was auch genau 20 Sekunden später der Fall war.
Und dann ging es bergab.
Sehr verstört (Wie sollte ich schließlich eine Fahrt ohne Musik überstehen) nahm ich die Geräusche der Welt um mich herum auf, das Stimmengewirr, dann und wann ein paar zankende Fünftklässer, das Handy des Mädchens neben mir, ihr Telefonat- und dann das Ghetto.
Ich hörte das Ghetto zunächst, weil es über vier Menschen hinweg schrie:"Aldaaah, Jenny, mit wem telstn du?" und sich als direkte Reaktion auf die Antwort "Mitm Mirko" an eben jenen vier Menschen vorbeiquetschte, nicht ohne sich dabei lautstark zu beschweren,was ihnen denn einfiele, mitten auf dem Gang zu stehen, mit Jenny ans Telefon hängte und auf deren "Ja Mirko, das Ghetto hört mit, die will ja eh was von dir" sofort in den Coolnessmodus umschaltete .
"Ey du Wichsa, ich will frei voll garnich was von dir, man!"
Erstes Augenverdrehen bei den Zartbesaiteten und denen, die nicht regelmäßig Bus fahren.
"Ja, die schreit immer so". Jenny scheint sich etwas für das Ghetto zu schämen, seltsam.
Der ominöse Mirko sagt etwas, was ich aufgrund der Tatsache,dass er den anderen Teil des Telefonats neben mir darstellt,nicht verstehen kann, doch an der Reaktion des Ghettos kann ich ablesen, dass es wohl nichts gutes war: "Boah ey du Muschi! Ich geb dir. Pass auf ey, ich, ich,ich..gib mir deine Handynummer, ich schick dir 200 Spam-sms, pass bloß auf, du wichsa! das geht per, äh, sms-Provider, dann kriegste im,äh, 0,5-Sekundentakt sms. Na, wie is das, du Spast??"
Der cholerische Busfahrer scheint sich zu wünschen, das Personenzurückhalteschlaggerät in Basebalschlägerform auch als solchen benutzen zu können, Jenny wirkt etwas überlastet,weil Mirko bei ihr angerufen, aber das Ghetto das Gespräch übernommen hat.
"Mirko, gib mir ma space, ja?", bittet sie den anderen Menschen, wiederholt sich dann, "Gib mir ma kurz space, alter", und wendet sich dann ans Ghetto, das mit seinen ultracoolen Fluchtiraden die Zweiergruppe, die wohl den dazugehörigen Fanclub darstellte, zum peergroup-Kichern gebracht hatte, und ihr das Handy aus der Hand reißt, bevor sie etwas sagen kann.
"Ey altha, was labbersd (man denke es sich bitte so ausgesprochen, wie es dasteht) du eig für nen Scheiß ey, du blöder Spast. Ich fick deine Mudder, ey!"
Darauf habe ich gewartet.
Irgendwann geht das Handy an Jenny zurück, und das Ghetto fährt fort, der Peergroup-Kicherfront seine Coolness zu demonstrieren, natürlich so laut,dass es auch Mirko, der ja eigentlich nur mit der rechtmäßigen Besitzerin des Handys hatte telefonieren wollen, mitbekam:
"Ey ok, Cindy. Ich hatte was mitm Justin. Jaaaaaaaaah, passiert halt, da is aber danach nixmehr gelaufen".
Als ich noch in dem Alter war, bedeutete "da ist was gelaufen" noch, dass man händchenhaltend zum Dorfladen ging, sich dort Eis und eine Flasche Cola holte, er bezahlte und man den restlichen Tag händchenhaltend damit verbrachte, sein Eis zu essen, Cola zu trinken und die Füße in den Bach zu hängen.
Normal reden konnten wir meistens auch. Vielleicht besteht da ja ein Zusammenhang...
"Boah Ghetto, du bist voll erwachsen", meint Cindys Sitznachbarin und schaut das Ghetto bewundernd an.
"Ja, ich bin halt meiner Zeit voraus. Voll intellent und reif, weißte?" Autsch, ich hätte nicht gedacht, dass "intellent" außerhalb semi-guter Witze noch existiert..
"Ja, voll ey". Einzig Jenny zeigt etwas Ironie und nur mittelstarken Ghettoslang während des ganzen Telefonats, das ihr zusehends durchs nonstop redende, oder eher schreiende, Ghetto erschwert wird. Ich will ihr sagen, der Mirko da, der scheint dich echt gern zu haben, wenn er immernoch verzweifelt versucht, mit dir zu reden und dich anscheinend immer wieder zum lachen bringt, lasse es aber, weil das Ghetto mich dann wohl töten würde, durch einen ultracoolen Blick, oder die Nieten an seinen Schuhen.
Tatsächlich trägt das Ghetto, bei dem es sich um ein geschätzt 12- bis maximal 14jähriges Mädchen handelte, turnschuhartiges, schwarzes Schuhwerk,das mit Spitznieten verziert war. Zusammen mit der am tiefsten durchhängenden Jeans-Haremshose, die meine gequälten Augen je erblickt haben, der zu engen und zu kurzen Lederjacke und einer Komposition aus sehr schlecht braun gefärbten Haaren und noch schlechter aufgetragenem Make Up schrie das ja förmlich nach Coolness.
Wäre sie nicht so ghettocool gewesen, hätte ich ihr vielleicht den Tipp gegeben, keine zu dunkle und orangelastige Kriegsbemalung als Grundierung aufzutragen und die Augenumrandung mit Kajal oder Eyeliner oder Lidschatten zu vollziehen, anstatt alle drei in jeweils 2cm-Breite aufzutragen und eine gute Prise Glitzer drüberzustreuen. Oder ihr angeboten, ihr die Haare zu färben, das kann ja am Anfang der Färbekarriere, wenn man sich sein Haarfärbmittel (Tönung wäre zu vernünftig und unerwachsen ) gekauft hat, obwohl Mutti nein gesagt hat, eine ziemlich aufregende Sache sein, und wenn man weder Talent, noch Erfahrung hat, danach einen Neuanstrich des Badezimmers nötig machen.
So konzentrierte ich mich darauf, meinen angespannten Geduldsfaden wieder zu lockern, während sie weiter ghettoisierte.
"Ja, ich hab schon nen krassen Style", erklärte sie gerade passenderweise Cindy, während sie dabei in Richtung des Handys schrie, "Der Pinguin da, an meiner Kette, den hab ich beim Drogeriemarkt beim Schmuck gekau-, äh, geklaut,jaaaa!".
"Alter, du klaust?" Die bewundernden Augen der Cindy-Nebensitzerin werden noch größer.
"Ja man, ich hab schon voll viel geklaut, ey; so Schmuck und Schminke und Kleidung undso! Das würdst du dich nicht trauen, ne?"
"Nee, würd ich nicht.." Arme Cindynebensitzerin. Aber pass auf, das wird noch.Wenn du dann beim Schmuck und der Schminke bist, macht das Ghetto bei den Kippen aus Papas Auto weiter.
"Tja." Triumph in der Stimme des Ghettos.

Als ich der alten Dame, die sich in der allerersten Sitzbank vorm Ghetto versteckt und partout geweigert hatte, jemand neben sich sitzen zu lassen, und ihrer Einkaufstasche aus dem Bus helfe, schreit sie mir ins Ohr:
"Ich bin zwar schwerhörig..."-Oh ja-das merke ich-, "..aber das da drinnen, das war ja nicht mehr normal! Da sieht man wieder, wie die Jugend ist, die haben alle keine Manieren mehr und denken nur an sich! Alles egoistische, respektlose, unfreundliche Nichtsnutze! Ich bin froh,dass ich meine Brille nicht aufhatte, die sehen ja meistens noch schlimmer aus, als sie sind!"
Ich verzichte darauf, ihr zu erklären,dass ich ein Teil der unfreundlichen, respektlosen, egoistischen Jugend ohne Manieren bin,manövriere sie in das Buswartehäuschen, erkläre ihr,dass sie nicht in den nächsten, sondern den übernächsten Bus einsteigen muss und mache mich dann auf den Heimweg.
Hintergrundmusik:Das heroische "die einsame Heldin"-Thema erklingt.
Es ist ein weiter Weg, und niemand begleitet mich, nicht einmal meine Musik, denn der Akku meines treuen Gefährten, des mp3-Players, ist leer, und so gehe ich diesen Weg alleine; alleine mit meinem gedankenschweren Verstand gehe einer ungewissen Zukunft entgegen.
Es lebt. Das Ghetto lebt. Ich habe es gesehen.
Mein Gott, ich habe das Ghetto gesehen.




edit:" Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer...."
Entschuldigung, aber das musste jetzt sein.




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Für die, die es nicht wussten: das zweite Zitat stammt aus dieser Weg von Xavier Naidoo.
Und hat sich in meinen Kopf gedrängt, weil ich eine halbe Fußball-WM lang damit beschallt wurde, egal, wohin mich mein Weg führte.