Thema: oh happy day.
25. März 12 | Autor: mayhem | 0 Kommentare | Kommentieren
"bwah!"
Mit diesem messerscharf formulierten Vorwurf boxte mich das Schreikind mit seiner kleinen Faust in die Seite.
Unter normalen Umständen hätte ich mich weggesetzt oder zurückgeboxt, doch heute war ich gefangen- eingequetscht zwischen dem Kindersitz samt Schreikind links, und der dazugehörigen Mutter rechts von mir, Flucht nach vorne wurde unterbunden durch die Tatsache,dass dort die Vatersfreundin und Papa Mayhem saßen und letztgenannter fuhr.
"Uiiiii, hat die kleine Schreikind die mayhem gehauen, ja? böse Hannah!", brabbelte die Vatersfreundin in diesem Ach-wie-süß-du-kleines-Kind-doch-bist-Ton, den vorwiegendvöllig gestörte liebende (Groß-)Eltern zu beherrschen scheinen, und lachte.
Ach, wie süß. "Ja mayhem,isse nicht süß?"
-"Unheimlich. Ich werde sie zum Mittagessen schlachten".
Eingepfercht zwischen ungemochten Menschen, Einkäufen und in einem zu kleinen, schwarzen Auto bei 30 Grad Umgebungs- und gefühlten 40Grad Innentemperatur ist mein Geduldsfaden immer etwas angespannter als sonst.
"Hihihi". Die Kindsmutter lachte ebenfalls, aber eher unsicher und ihr Blick sprach, sie wird mich bald töten.
20 Minuten Stau. Ich brauchte dringend Frischluft.
30 Minuten Stau. Ich warf mich übers Schreikind, um das Fenster öffnen zu können. Das Schreikind schrie, die automatisch nach unten fahrende Fensterscheibe wollte eine Haarsträhne von mir mitnehmen, ich wehrte mich aufs Heftigste, schaffte es, die Scheibe zu stoppen und wollte vorsichtig zurückkrabbeln, als das Schreikind es schaffte, den Scheiberunterfahrknopf zu drücken.
Ich konnte mich gerade noch retten und überlegte, das Kind für einen guten Zweck zu opfern. Besseres Mensaessen (auch die fleischessenden Besucher beschweren sich inzwischen,während ich nach Verzehr der vegetarischen Mahlzeit am nächsten Tag die Schule nicht besuchen konnte), schwarzmagisches Ritual,.. oder so.
40 Minuten Stau und laut Radio stockender Verkehr. Ich begann, mein Haar einzuflechten und danach hochzustecken. Ah, Luft an meinem Nacken. Und an meinem Rücken. Wunderbar. Lang lebe der Erfinder rückenfreier Kleider und stabiler Haarnadeln.
50Minuten Stau und stockender Verkehr. Ich begann, dem Schreikind mit Cornrows einen Sidecut zu flechten. Es schien nichts dagegen zu haben und sabberte mich zum Dank grinsend an.
Anstelle eines Kindes werde ich meinen Haushalt zu gegebener Zeit um eine weitere Katze erweitern.
60 Minuten- inzwischend stockender Verkehr, wir rollten mit 40km/h über die Autobahn.
65 Minuten. Ich hatte das Kind inzwischen komplett eingeflochten. Die dazugehörige Mutter war nur zu einem "Oh" fähig.Ob aus Freude oder Entsetzen ist nicht genau nachvollziehbar.
Dem Kind hats gefallen. Braves Kind.
75Minuten- Wir waren endlich in der Stadt angekommen.
Verkaufsoffene Sonntage sind bei uns eigentlich ein regelmäßiges Ereignis, trotzdem erscheint es mir jedes Mal aufs Neue wie die Vorstufe der Apokalypse-
ständig hörte man Feuerwehr-, Rettungswagen- oder Notarztsirenen, Kinder, die schrien:"Aber ich WILL das mitnehmen!", Väter, die einander zuschrien: "Also mein Justin, der hat jetzt Frühförderung Englisch, jaha!", Mütter, die schrien:"Harald, wennde eh zum Subbermarkt fährst, bringste nen Packen Klopapier mit! Ich geh solang mit der Schandalle undm Klehmäns zu Kik!", und Chantal und Clemens, die am heulen waren, ob wegen Kik,der mangelnden Frühförderung oder der Gesamtsituation können Sie sich in diesem Zusammenhang aussuchen.
Mitten in diesem Weltuntergangsszenario jagten die Schreikindmutter und die Vatersfreundin uns von Geschäft zu Geschäft, bis es Papa Mayhem zu viel wurde und wir uns in einen Baumarkt abseilten.
Wir waren oft in Baumärkten, als meine Mutter gestorben ist, mussten ja eine ganze Wohnung wieder aufpolieren, und weil er sich dort, zwischen Schrauben kaufen und Holzstücke ausmessen, Sägen prüfen und Akkuschrauberaufsätze suchen sicher und von Bekanntem umgeben fühlt, war da sogar manchmal ein Zusammengehörigkeitsgefühl.
Ich fühle mich inzwischen ebenfalls in Baumärkten wohl, auch,wenn ich eher nach Pflanzen, insbesondere Sukkulenten (die die Katze sowieso wieder von der Fensterbank fegt,als wären sie Spielzeugbälle) und Holzreststücken mit einem Durchmesser von 14mm (günstiger Ohrschmuck) suche.
Heute war das nicht so.
Papa Mayhem und ich, wir liefen so durch den Baumarkt, er voraus, ich als ungeliebtes Anhängsel hinterher, und meine kläglichen Versuche, irgendwie eine Unterhaltung anzufangen, wurden abgeschmettert, sodass sie durch den halben Baumarkt flogen und schließlich an einer Werbetafel für speziell gemischte Wandfarben zerschellten.
Die Entfremdung scheint mich zur Zeit überall hin zu verfolgen, ob ich will oder nicht.
Sogar bis in den Baumarkt.
Sie ließ sich nicht abhängen,die Entfremdung, und schlich uns weiter nach, zum schwedischen Modehändler, durch diverse andere Läden, zu einem Backgeschäft,in dem die Vatersfreundin und mein Vater Kaffee trinken wollten, zum Autohändler, bei dem sich Papa Mayhem nach einem neuen Wagen umsehen wollte.
Da ging er, und steuerte wieder zielsicher die teuren, neuen Autos an, die, die so viel kosten, dass dafür 24 seiner Monatssgehälter komplett draufgehen würden, und war davon überzeugt, dass es so ein Auto sein müsse.
Die Kindsmutter und das Schreikind setzten sich in einen offenen Kofferraum, die Vatersfreundin dackelte ihm hinterher,schluckte gelegentlich ob der hohen Preise und schimpfte dann und wann auf die "Drecksrussen", die ein Auto kaufen wollten. Was fiel denen nur ein.
Ich versuchte vergeblich, die Vatersfreundin davon zu überzeugen, dass auch Russen Autos kaufen dürfen, und zog mich, nicht gewillt, wieder gegen ihre Abneigung gegenüber jedem, der auch nur ansatzweise "ausländisch" wirkt, anzudiskutieren, zu den Gebrauchtwägen zurück,eigentlich nur, weil da eine nette, langhaarige Gestalt vor einem Golf stand und kritisch das musterte, was sich unter der Motorhaube verbarg.
Und dann sah ich ihn.
In einer Ecke, direkt am Ende des Drahtzauns, der das Gelände umgab, stand ein Polo.
Es war nicht irgendein Polo, sondern der Polo. Ein Polo, wie ihn meine Mutter gefahren hatte.
In meiner kindlichen Logik hatte ich das Auto immer übernehmen wollen,auch, wenn meine eigentlichen Traumautos anders hießen und heißen, und sie hatte nie etwas dagegen gesagt, meinte sowieso, sie müsse sich irgendwann ein neues kaufen, somit stand fest, zumindest in meiner Kinderlogik, dass es später mein Auto werden würde.
Als sie ihren erworben hatte, war der Polo nagelneu, richtig stolz muss sie gewesen sein, ihr erster Neuwagen, eine Sonderedition war er gewesen, in einem Rotton, den ich bis heute nicht wieder gesehen habe. Einen französischen Namen hatte der Rotton, und die Aussprache meiner Mutter war in etwa so gut wie meine, somit wusste ich immer nur, dass der Polo "frohmbwahs-rot" gewesen war, was mir natürlich nicht weiterhalf.
Der Polo, der heute vor mir stand, war normal-rot.
Etwas angestaubt war er auch, so, wie es das Auto meiner Mutter, das mein Vater dann,als sie tot war, an irgendeinen Menschen verkauft hat, der es seiner Frau als "Winterauto" schenken wollte, auch immer gewesen war, allerdings fehlten die Rostflecken,die unser Polo auf dem Kofferraumdeckel gehabt hatte.
Die Fahrertür war nicht abgeschlossen, also setzte ich mich testweise ins Auto. Papa Mayhem war höchstwahrscheinlich sowieso noch damit beschäftigt, überteuerte Neuwägen anzuschmachten.
Die Sitzpolster hatten ebenfalls einen anderen Farbton, nur um Nuancen anders, aber es fiel mir auf. Aber was erwartete ich,meine Mutter hatte immer stolz betont, dass ihr Auto, ihr erster Neuwagen, der über 20 Jahre gehalten hat, eine Sonderedition gewesen war.
Falls die Frau, die ein Winterauto benötigt, ihn nicht weggegeben oder kaputt gefahren hat, hat der Polo bestimmt auch bis heute gehalten.
Mein Vater hatte sich ein neues Auto gekauft, als ich unterwegs war, sie hatte ihres behalten, und im Gegensatz zu seiner Karre musste der Polo nur dann in die Werkstatt, wenn wieder der TÜV anstand, und hatte keine Totalausfälle der Elektronik während Autobahnfahrten.
Vorsichtig stellte ich den Sitz richtig ein. Einfach testweise, nur mal schauen.
Bis zu diesem Bereich des Geländes hatte sich kein Besucher bequemt, die waren alle bei den Neuwägen und den neueren Gebrauchten.
Das Radio funktionierte laut einem handschriftlichen Zettel mit den wichtigsten Angaben sogar.
Im Polo meiner Mutter hatte das Radio irgendwann das Zeitliche gesegnet, und so hörten wir Kassetten, die schon damals etwas älter waren, und da sang Lesley Gore It's my Party und wechselte sich mit dem Soundtrack zu Eis am Stiel ab, manchmal auch mit Weihnachtsmusik,obwohl gar kein Weihnachten war.
"Das Auto magst du? Aber das ist doch älter als du, oder?"
Der Händler war neben mir aufgetaucht und seine Gesichtszüge sagten mir, dass er gerade überlegte, ob ich wirklich so bekloppt war.
"Ich.. ich wollte erstmal schauen. Ich kenne das Auto."
Und manchmal bin ich seltsam.
-"Für 800 ists deiner."
"Ich hab meinen Führerschein noch nicht, und ich bin mir auch nicht sicher..."
Das ist nicht mein Polo. Mein Polo, der ist frohmbwahs-rot, und er wurde vor viereinhalb Jahren für 250 verkauft,an einen Mann, dessen Frau ein Winterauto braucht.
-"Also ich würde ja was moderneres empfehlen, wie sieht das denn sonst aus, so ein junges Mädchen braucht doch nen schmucken Wagen, und die Eltern oder die Großeltern spendieren doch bestimmt was, oder?" er zwinkerte mir zu und kam sich nett und lustig vor.
Ich wollte sagen, waschen Sie erstmal ihre Kleidung, der erste Eindruck zählt, und davon abgesehen bezahlt mir mein Vater nichts und was meinen Großvater angeht, freue ich mich schon, wenn er mich nicht mit dem Namen meiner Cousine oder meines Vaters anspricht..
"Die Finanzierung lassen Sie mal meine Sorge sein."
-"Oho, eine ganz Selbstbestimmte", lachte der Autohändler wieder sein schmieriges Lachen, "Wenn das so ist, da drüben, der Wagen, das ist ein.."
"Nein. Ich möchte jetzt nichts kaufen. Wenn Sie mich bitte durchlassen?"
Schneller, als ich es eigentlich geplant hatte, stieg ich aus, umrundete den Autohändler und suchte Papa Mayhem und den Rest.
Die scharten sich gerade um einen weiteren Neuwagen, den sie alle bestaunten,als hätten sie noch nie etwas derartiges gesehen.
Irgendwann ging aber auch die Bestaunungsrunde zuende und freundlicherweise steigerte sich das Schreikind so sehr in einen Schreikrampf hinein, dass einstimmig beschlossen wurde, den Heimweg anzutreten.
Unterwegs trug Papa Mayhem das Schreikind und redete mit ihm, und wie sie da so gingen und er so freundlich lächelte, tauchte diese Frage in meinem Kopf auf,Was hat uns bloß so ruiniert?, frei nach Muff Potter.
Was hat uns so ruiniert, dass ich dich nicht mehr anlächeln kann und du mich nicht mehr anlächeln willst, dass ich überlege,wohin ich in den Ferien fliehe, wenn du zehn Tage Urlaub hast, dass wir nicht mehr normal mtieinander reden können, dass wir eigentlich überhaupt nicht mehr reden, dass wir nicht mehr Vater und Tochter sind, sondern wie zwei entfernte Bekannte, wie Fremde, sogar im Baumarkt.
Ich wollte dich heute fragen, ob du mit mir nach Prag fahren willst, aber ich habe es nicht übers Herz gebracht.
Ich kann meinen eigenen Vater nicht fragen,ob er an meinem Geburtstag etwas mit mir unternehmen will.
Ich kann dich nicht fragen, ich bringe es nicht übers Herz, weil wir uns so furchtbar fremd geworden sind, so entfremdet, weil du bei mir nicht die Gefühle hervorrufst, die ein Vater hervorrufen sollte, sondern einfach gar keine. Nur das Bewusstsein, dich verloren zu haben.
Ich habe dich verloren, das wurde mir auf der Heimfahrt bewusst,als die Kindsmutter döste, das Schreikind an mich gelehnt schlief und ich dich über den Rückspiegel beobachten konnte. Da war das ganze Vertraute, die Tatsache,dass du nie in den Rückspiegel siehst, deine Augen,die immer wieder zufallen wollten, weil du so überarbeitet bist, dass du auch am Wochenende einfach nur fertig bist, weil sich all die Anstrengungen der letzten Jahrzehnte jetzt nicht mehr aufholen lassen, dein grimmiger Gesichtsausdruck, wenn sich jemand auf der Autobahn vorbeidrängeln wollte.Aber das war es auch.
Mein Gehirn sagte mir immer wieder, dass das mein Papa ist, der da am Steuer sitzt, in der Hoffnung, irgendein "Papa"-Gefühl hervorzurufen, das, was da doch sonst auch war, bei den seltenen Familienausflügen, bei Spaziergängen, im Baumarkt.
Es hatte keinen Erfolg.
Und während du abgeschlossen hast, mit der Entfremdung und mit mir, bin ich mal wieder diejenige von uns beiden, die leise vor sich hin leidet.
Deswegen habe ich darauf bestanden,dass ihr mich zuhause absetzt, bevor eure Fahrt in Richtung Zuhause der Vatersfreundin weiterging; ein gemeinsames Abendessen hätte ich nicht überstanden und wollte ich mir deswegen nicht antun, da konnte sie noch so sehr protestieren, weil das vier Kilometer zusätzliche Fahrt bedeutet hatte.
Ich fahre also ohne dich nach Prag.
Ich fahre ohne dich, weil wir uns nichts mehr zu sagen haben, weil ich dir nichts mehr sagen kann, weil du mir nichts mehr sagen kannst außer Vorwürfen, Unterstellungen und allem, was wehtut,
weil es unsere Vater-Tochter-Bindung nicht mehr gibt.
Ich weiß nicht, ob sie sich heute endgültig aufgelöst hat, oder ob es schon gestern war, fest steht, dass sie den Zersetzungsprozessen der letzten Tage nicht mehr länger trotzen konnte und heute auf einmal weg war.
Einfach so, ich habe sie gesucht, aber sie ist nicht mehr da. Hat sich aufgelöst.
All die Jahre hat sie gebröckelt und gebröselt und ist immer weniger geworden, aber heute, da war sie einfach weg.
Einfach so, wie ein Mantelknopf, den man verliert.
Nirvana - Heart Shaped Box von universalmusicdeutschland
Mit diesem messerscharf formulierten Vorwurf boxte mich das Schreikind mit seiner kleinen Faust in die Seite.
Unter normalen Umständen hätte ich mich weggesetzt oder zurückgeboxt, doch heute war ich gefangen- eingequetscht zwischen dem Kindersitz samt Schreikind links, und der dazugehörigen Mutter rechts von mir, Flucht nach vorne wurde unterbunden durch die Tatsache,dass dort die Vatersfreundin und Papa Mayhem saßen und letztgenannter fuhr.
"Uiiiii, hat die kleine Schreikind die mayhem gehauen, ja? böse Hannah!", brabbelte die Vatersfreundin in diesem Ach-wie-süß-du-kleines-Kind-doch-bist-Ton, den vorwiegend
Ach, wie süß. "Ja mayhem,isse nicht süß?"
-"Unheimlich. Ich werde sie zum Mittagessen schlachten".
Eingepfercht zwischen ungemochten Menschen, Einkäufen und in einem zu kleinen, schwarzen Auto bei 30 Grad Umgebungs- und gefühlten 40Grad Innentemperatur ist mein Geduldsfaden immer etwas angespannter als sonst.
"Hihihi". Die Kindsmutter lachte ebenfalls, aber eher unsicher und ihr Blick sprach, sie wird mich bald töten.
20 Minuten Stau. Ich brauchte dringend Frischluft.
30 Minuten Stau. Ich warf mich übers Schreikind, um das Fenster öffnen zu können. Das Schreikind schrie, die automatisch nach unten fahrende Fensterscheibe wollte eine Haarsträhne von mir mitnehmen, ich wehrte mich aufs Heftigste, schaffte es, die Scheibe zu stoppen und wollte vorsichtig zurückkrabbeln, als das Schreikind es schaffte, den Scheiberunterfahrknopf zu drücken.
Ich konnte mich gerade noch retten und überlegte, das Kind für einen guten Zweck zu opfern. Besseres Mensaessen (auch die fleischessenden Besucher beschweren sich inzwischen,während ich nach Verzehr der vegetarischen Mahlzeit am nächsten Tag die Schule nicht besuchen konnte), schwarzmagisches Ritual,.. oder so.
40 Minuten Stau und laut Radio stockender Verkehr. Ich begann, mein Haar einzuflechten und danach hochzustecken. Ah, Luft an meinem Nacken. Und an meinem Rücken. Wunderbar. Lang lebe der Erfinder rückenfreier Kleider und stabiler Haarnadeln.
50Minuten Stau und stockender Verkehr. Ich begann, dem Schreikind mit Cornrows einen Sidecut zu flechten. Es schien nichts dagegen zu haben und sabberte mich zum Dank grinsend an.
Anstelle eines Kindes werde ich meinen Haushalt zu gegebener Zeit um eine weitere Katze erweitern.
60 Minuten- inzwischend stockender Verkehr, wir rollten mit 40km/h über die Autobahn.
65 Minuten. Ich hatte das Kind inzwischen komplett eingeflochten. Die dazugehörige Mutter war nur zu einem "Oh" fähig.Ob aus Freude oder Entsetzen ist nicht genau nachvollziehbar.
Dem Kind hats gefallen. Braves Kind.
75Minuten- Wir waren endlich in der Stadt angekommen.
Verkaufsoffene Sonntage sind bei uns eigentlich ein regelmäßiges Ereignis, trotzdem erscheint es mir jedes Mal aufs Neue wie die Vorstufe der Apokalypse-
ständig hörte man Feuerwehr-, Rettungswagen- oder Notarztsirenen, Kinder, die schrien:"Aber ich WILL das mitnehmen!", Väter, die einander zuschrien: "Also mein Justin, der hat jetzt Frühförderung Englisch, jaha!", Mütter, die schrien:"Harald, wennde eh zum Subbermarkt fährst, bringste nen Packen Klopapier mit! Ich geh solang mit der Schandalle undm Klehmäns zu Kik!", und Chantal und Clemens, die am heulen waren, ob wegen Kik,der mangelnden Frühförderung oder der Gesamtsituation können Sie sich in diesem Zusammenhang aussuchen.
Mitten in diesem Weltuntergangsszenario jagten die Schreikindmutter und die Vatersfreundin uns von Geschäft zu Geschäft, bis es Papa Mayhem zu viel wurde und wir uns in einen Baumarkt abseilten.
Wir waren oft in Baumärkten, als meine Mutter gestorben ist, mussten ja eine ganze Wohnung wieder aufpolieren, und weil er sich dort, zwischen Schrauben kaufen und Holzstücke ausmessen, Sägen prüfen und Akkuschrauberaufsätze suchen sicher und von Bekanntem umgeben fühlt, war da sogar manchmal ein Zusammengehörigkeitsgefühl.
Ich fühle mich inzwischen ebenfalls in Baumärkten wohl, auch,wenn ich eher nach Pflanzen, insbesondere Sukkulenten (die die Katze sowieso wieder von der Fensterbank fegt,als wären sie Spielzeugbälle) und Holzreststücken mit einem Durchmesser von 14mm (günstiger Ohrschmuck) suche.
Heute war das nicht so.
Papa Mayhem und ich, wir liefen so durch den Baumarkt, er voraus, ich als ungeliebtes Anhängsel hinterher, und meine kläglichen Versuche, irgendwie eine Unterhaltung anzufangen, wurden abgeschmettert, sodass sie durch den halben Baumarkt flogen und schließlich an einer Werbetafel für speziell gemischte Wandfarben zerschellten.
Die Entfremdung scheint mich zur Zeit überall hin zu verfolgen, ob ich will oder nicht.
Sogar bis in den Baumarkt.
Sie ließ sich nicht abhängen,die Entfremdung, und schlich uns weiter nach, zum schwedischen Modehändler, durch diverse andere Läden, zu einem Backgeschäft,in dem die Vatersfreundin und mein Vater Kaffee trinken wollten, zum Autohändler, bei dem sich Papa Mayhem nach einem neuen Wagen umsehen wollte.
Da ging er, und steuerte wieder zielsicher die teuren, neuen Autos an, die, die so viel kosten, dass dafür 24 seiner Monatssgehälter komplett draufgehen würden, und war davon überzeugt, dass es so ein Auto sein müsse.
Die Kindsmutter und das Schreikind setzten sich in einen offenen Kofferraum, die Vatersfreundin dackelte ihm hinterher,schluckte gelegentlich ob der hohen Preise und schimpfte dann und wann auf die "Drecksrussen", die ein Auto kaufen wollten. Was fiel denen nur ein.
Ich versuchte vergeblich, die Vatersfreundin davon zu überzeugen, dass auch Russen Autos kaufen dürfen, und zog mich, nicht gewillt, wieder gegen ihre Abneigung gegenüber jedem, der auch nur ansatzweise "ausländisch" wirkt, anzudiskutieren, zu den Gebrauchtwägen zurück,eigentlich nur, weil da eine nette, langhaarige Gestalt vor einem Golf stand und kritisch das musterte, was sich unter der Motorhaube verbarg.
Und dann sah ich ihn.
In einer Ecke, direkt am Ende des Drahtzauns, der das Gelände umgab, stand ein Polo.
Es war nicht irgendein Polo, sondern der Polo. Ein Polo, wie ihn meine Mutter gefahren hatte.
In meiner kindlichen Logik hatte ich das Auto immer übernehmen wollen,auch, wenn meine eigentlichen Traumautos anders hießen und heißen, und sie hatte nie etwas dagegen gesagt, meinte sowieso, sie müsse sich irgendwann ein neues kaufen, somit stand fest, zumindest in meiner Kinderlogik, dass es später mein Auto werden würde.
Als sie ihren erworben hatte, war der Polo nagelneu, richtig stolz muss sie gewesen sein, ihr erster Neuwagen, eine Sonderedition war er gewesen, in einem Rotton, den ich bis heute nicht wieder gesehen habe. Einen französischen Namen hatte der Rotton, und die Aussprache meiner Mutter war in etwa so gut wie meine, somit wusste ich immer nur, dass der Polo "frohmbwahs-rot" gewesen war, was mir natürlich nicht weiterhalf.
Der Polo, der heute vor mir stand, war normal-rot.
Etwas angestaubt war er auch, so, wie es das Auto meiner Mutter, das mein Vater dann,als sie tot war, an irgendeinen Menschen verkauft hat, der es seiner Frau als "Winterauto" schenken wollte, auch immer gewesen war, allerdings fehlten die Rostflecken,die unser Polo auf dem Kofferraumdeckel gehabt hatte.
Die Fahrertür war nicht abgeschlossen, also setzte ich mich testweise ins Auto. Papa Mayhem war höchstwahrscheinlich sowieso noch damit beschäftigt, überteuerte Neuwägen anzuschmachten.
Die Sitzpolster hatten ebenfalls einen anderen Farbton, nur um Nuancen anders, aber es fiel mir auf. Aber was erwartete ich,meine Mutter hatte immer stolz betont, dass ihr Auto, ihr erster Neuwagen, der über 20 Jahre gehalten hat, eine Sonderedition gewesen war.
Falls die Frau, die ein Winterauto benötigt, ihn nicht weggegeben oder kaputt gefahren hat, hat der Polo bestimmt auch bis heute gehalten.
Mein Vater hatte sich ein neues Auto gekauft, als ich unterwegs war, sie hatte ihres behalten, und im Gegensatz zu seiner Karre musste der Polo nur dann in die Werkstatt, wenn wieder der TÜV anstand, und hatte keine Totalausfälle der Elektronik während Autobahnfahrten.
Vorsichtig stellte ich den Sitz richtig ein. Einfach testweise, nur mal schauen.
Bis zu diesem Bereich des Geländes hatte sich kein Besucher bequemt, die waren alle bei den Neuwägen und den neueren Gebrauchten.
Das Radio funktionierte laut einem handschriftlichen Zettel mit den wichtigsten Angaben sogar.
Im Polo meiner Mutter hatte das Radio irgendwann das Zeitliche gesegnet, und so hörten wir Kassetten, die schon damals etwas älter waren, und da sang Lesley Gore It's my Party und wechselte sich mit dem Soundtrack zu Eis am Stiel ab, manchmal auch mit Weihnachtsmusik,obwohl gar kein Weihnachten war.
"Das Auto magst du? Aber das ist doch älter als du, oder?"
Der Händler war neben mir aufgetaucht und seine Gesichtszüge sagten mir, dass er gerade überlegte, ob ich wirklich so bekloppt war.
"Ich.. ich wollte erstmal schauen. Ich kenne das Auto."
Und manchmal bin ich seltsam.
-"Für 800 ists deiner."
"Ich hab meinen Führerschein noch nicht, und ich bin mir auch nicht sicher..."
Das ist nicht mein Polo. Mein Polo, der ist frohmbwahs-rot, und er wurde vor viereinhalb Jahren für 250 verkauft,an einen Mann, dessen Frau ein Winterauto braucht.
-"Also ich würde ja was moderneres empfehlen, wie sieht das denn sonst aus, so ein junges Mädchen braucht doch nen schmucken Wagen, und die Eltern oder die Großeltern spendieren doch bestimmt was, oder?" er zwinkerte mir zu und kam sich nett und lustig vor.
Ich wollte sagen, waschen Sie erstmal ihre Kleidung, der erste Eindruck zählt, und davon abgesehen bezahlt mir mein Vater nichts und was meinen Großvater angeht, freue ich mich schon, wenn er mich nicht mit dem Namen meiner Cousine oder meines Vaters anspricht..
"Die Finanzierung lassen Sie mal meine Sorge sein."
-"Oho, eine ganz Selbstbestimmte", lachte der Autohändler wieder sein schmieriges Lachen, "Wenn das so ist, da drüben, der Wagen, das ist ein.."
"Nein. Ich möchte jetzt nichts kaufen. Wenn Sie mich bitte durchlassen?"
Schneller, als ich es eigentlich geplant hatte, stieg ich aus, umrundete den Autohändler und suchte Papa Mayhem und den Rest.
Die scharten sich gerade um einen weiteren Neuwagen, den sie alle bestaunten,als hätten sie noch nie etwas derartiges gesehen.
Irgendwann ging aber auch die Bestaunungsrunde zuende und freundlicherweise steigerte sich das Schreikind so sehr in einen Schreikrampf hinein, dass einstimmig beschlossen wurde, den Heimweg anzutreten.
Unterwegs trug Papa Mayhem das Schreikind und redete mit ihm, und wie sie da so gingen und er so freundlich lächelte, tauchte diese Frage in meinem Kopf auf,Was hat uns bloß so ruiniert?, frei nach Muff Potter.
Was hat uns so ruiniert, dass ich dich nicht mehr anlächeln kann und du mich nicht mehr anlächeln willst, dass ich überlege,wohin ich in den Ferien fliehe, wenn du zehn Tage Urlaub hast, dass wir nicht mehr normal mtieinander reden können, dass wir eigentlich überhaupt nicht mehr reden, dass wir nicht mehr Vater und Tochter sind, sondern wie zwei entfernte Bekannte, wie Fremde, sogar im Baumarkt.
Ich wollte dich heute fragen, ob du mit mir nach Prag fahren willst, aber ich habe es nicht übers Herz gebracht.
Ich kann meinen eigenen Vater nicht fragen,ob er an meinem Geburtstag etwas mit mir unternehmen will.
Ich kann dich nicht fragen, ich bringe es nicht übers Herz, weil wir uns so furchtbar fremd geworden sind, so entfremdet, weil du bei mir nicht die Gefühle hervorrufst, die ein Vater hervorrufen sollte, sondern einfach gar keine. Nur das Bewusstsein, dich verloren zu haben.
Ich habe dich verloren, das wurde mir auf der Heimfahrt bewusst,als die Kindsmutter döste, das Schreikind an mich gelehnt schlief und ich dich über den Rückspiegel beobachten konnte. Da war das ganze Vertraute, die Tatsache,dass du nie in den Rückspiegel siehst, deine Augen,die immer wieder zufallen wollten, weil du so überarbeitet bist, dass du auch am Wochenende einfach nur fertig bist, weil sich all die Anstrengungen der letzten Jahrzehnte jetzt nicht mehr aufholen lassen, dein grimmiger Gesichtsausdruck, wenn sich jemand auf der Autobahn vorbeidrängeln wollte.Aber das war es auch.
Mein Gehirn sagte mir immer wieder, dass das mein Papa ist, der da am Steuer sitzt, in der Hoffnung, irgendein "Papa"-Gefühl hervorzurufen, das, was da doch sonst auch war, bei den seltenen Familienausflügen, bei Spaziergängen, im Baumarkt.
Es hatte keinen Erfolg.
Und während du abgeschlossen hast, mit der Entfremdung und mit mir, bin ich mal wieder diejenige von uns beiden, die leise vor sich hin leidet.
Deswegen habe ich darauf bestanden,dass ihr mich zuhause absetzt, bevor eure Fahrt in Richtung Zuhause der Vatersfreundin weiterging; ein gemeinsames Abendessen hätte ich nicht überstanden und wollte ich mir deswegen nicht antun, da konnte sie noch so sehr protestieren, weil das vier Kilometer zusätzliche Fahrt bedeutet hatte.
Ich fahre also ohne dich nach Prag.
Ich fahre ohne dich, weil wir uns nichts mehr zu sagen haben, weil ich dir nichts mehr sagen kann, weil du mir nichts mehr sagen kannst außer Vorwürfen, Unterstellungen und allem, was wehtut,
weil es unsere Vater-Tochter-Bindung nicht mehr gibt.
Ich weiß nicht, ob sie sich heute endgültig aufgelöst hat, oder ob es schon gestern war, fest steht, dass sie den Zersetzungsprozessen der letzten Tage nicht mehr länger trotzen konnte und heute auf einmal weg war.
Einfach so, ich habe sie gesucht, aber sie ist nicht mehr da. Hat sich aufgelöst.
All die Jahre hat sie gebröckelt und gebröselt und ist immer weniger geworden, aber heute, da war sie einfach weg.
Einfach so, wie ein Mantelknopf, den man verliert.
Nirvana - Heart Shaped Box von universalmusicdeutschland