Dienstag, 3. April 2012
Als gestern abend die Welt unterging, saß ich gerade mit einer Tasse Tee im Fenster und beobachtete die verschwindende Sonne und die viel zu schnell vorbeirasenden Autos.
Eigentlich war es zu kalt, um in Top und Sporthose in einem Fenster zu sitzen, den Rücken am Mauerwerk, die Füße gegen die gegenüberliegende Seite gedrückt und die Beine angewinkelt, aber mir war nach Imfenstersitzen gewesen, und zumindest meine Tasse war warm.
Eine bunte Tasse war es, fröhlich-grün mit dicken, zufrieden-gelben Comickatzen drauf, meine Mutter hatte sie mal gratis bekommen und ich hatte die dicken gelben Comickatzen zusammen mit rosa-roten Schafen und orangen Hunden vor dem Tod durch lebendiges Begraben in der Restmülltonne gerettet, indem ich mich weigerte, sie rauszurücken.
Das rationale Argument "Wir brauchen auch Tassen, in die mehr als 200ml reinpassen" hatte schließlich gezogen und so konnte ich auf der Fensterbank sitzen und aus der Tasse, die eigentlich nicht einmal schön war, warmen Tee bei frostigen Spätabendtemperaturen trinken, als die Welt unterging.

Ich habe nicht sofort realisiert, dass die Welt unterging, als das Telefon klingelte; sicher, das Bauchgefühl deutete sowas dezent an, aber ich verlasse mich nicht immer darauf; und richtige Vorzeichen gab es ja keine, selbst der Kater döste weiter auf dem Sitzplatz meines Vaters, so war ich dann auch relativ unvorbereitet, als mir nach Abheben des Telefons unkontrolliertes Schniefen und Schluchzen entgegenschallte.
Ein Blick aufs Display enthüllte, dass es sich bei dem schniefenden Etwas um die Vatersfreundin handelte, die, nachdem sie mich beinahe eine Minute angeschluchzt hatte, wieder etwas ruhiger wurde, soweit man bei ihr eben von "ruhig" sprechen kann.
"Wollte dir nur sagen,dass ich dich und die Katze jederzeit abhol, wenns dir zu viel wird, musst nur anrufen!"
.Sicher, und nur deswegen rufst du an und heulst mir derart schlimm durchs Telefon, dass ich Angst haben muss, dass du die ganze Wohnung unter Wasser setzt. ... Mir schwante Böses.
-"Danke. Darf man fragen,was los ist, weil du weinst?"
Tja,und dann ging auf einmal die Welt unter.
Mein Vater, dieser furchtbare Mensch, legte die Vatersfreundin los und zählte alles auf, all die Eigenschaften, die er nun einmal hat, deren Ursprung und Verwurzelung in all dem, was war, ich ihr so oft erklärt habe, die sie immer nur halb wahrhaben wollte, die sie in einer Sekunde "glasklar" sieht, angeblich, und von denen sie in der nächsten nichts mehr hören wil.
Schildert es, die Probleme. Er, der keine Gefühle zeigen kann. Er, der grimmig schaut, wenn sie mit anderen Männern tanzt. Er, der nie spricht, wenn sie mit der Vatersfreundinverwandschaft unterwegs sind.
Er, der so rücksichtslos ist. Er, der so gefühlskalt ist.
Er, der immer denkt, seine Meinung sei die einzig richtige.
Er, der nichts mehr von seiner Tochter wissen will.
Er, der davon ausgeht, dass nur er selbst Ahnung hat.
Er, der nicht auf die Idee kommt, dass andere Menschen auch einmal etwas sinnvolles sagen könnten.
Er, der so in diesen verkrusteten Denkmustern festklebt, die ihm als Kind eingeprügelt wurden.
Und vor lauter traditionsbedingter Blindheit nicht sieht, dass sie falsch sind.
Sie redete und redete, die Vatersfreundin, und erzählte mir dabei all das,was ich sowieso schon wusste.
Was sie hätte sehen können, hätte sie es wahrhaben wollen, eine Sekunde lang nachgedacht, oder zugehört, wenn in einer ihrer gerne einberufenen und mittendrin mit einem "und ab jetzt wird alles anders" vorzeitig abgebrochenen Krisensitzungen all das von mir thematisiert wurde,leise zwar, aber so, dass sie es hören konnte, und er auch.
Man hätte es hören und verstehen können, hätte man mich ausreden lassen. Hätte er mich ausreden lassen,ohne böse zu lachen,
hätte sie mich ausreden lassen, ohne in ihre pathetische und zu laute Wortkannonade zu fallen, hätte es uns vielleicht den Weltuntergang erspart.

Eigentlich war es kein unvorhersehbarer Weltuntergang, wir hatten das in letzter Zeit öfter.
Sicher, es steigerte sich, aber die Vatersfreundin hatte in letzter Zeit schon mehrmals an meiner Schulter gejammert und mir ihr Leid geklagt, und so oft hatte sie, wie beim Weltuntergang auch, hochdramatisch ausgerufen, sie halte das alles nicht mehr aus.
Im letzten Weltuntergang sagte sie es.
Sagte, sie würde das ja nicht länger aushalten, in unserem Haus müsse man ja anfangen, zu trinken.
Ich hätte ihr am liebsten durch die Telefonleitung hindurch einen Tritt ins Gesicht verpasst, und zwar mit Stiefeln.
Unterließ es aber, statdessen ließ ich sie weiter den Raum mit ihrer Verzweiflung fluten,einfach weiter, bis es ihr dann wirklich etwas besser ging.
Wenn ich das irgendwann nicht mehr aushalte in den Ferien,kann ich zu ihr, betonte sie wieder.
Ich musste lachen. Vatersfreundin, ich halte das seit fünf Jahren nicht mehr aus. Und davor habe ich es so lange nicht mehr ausgehalten, wie mein Gedächtnis zurückreicht.
Habe es laut gesagt. Einfach so.
Ja, da könnte ich wohl recht haben, sagte sie. Scheint es langsam einzusehen, nach diesen vielen Monaten.
Man kann kaputte Vasen zusammenkleben, sodass sie fast wieder wie neu aussehen, aber keine kaputten Menschen.
Umtauschen kann man sie auch nicht, also bleiben notdürftige Reparatur oder einfach liegenlassen als einzige Optionen.
Ich weiß nicht, welche ich gerade mit mir praktiziere.
"Vatersfreundin, mein Papa ist kaputt. Physisch kaputt und psychisch kaputt. Ich bin es auch", werfe ich ihr entgegen.
-"Ja, da hast du recht. Und der macht sich ja immer kaputter, immer kaputter macht er sich, immer nur Arbeit, und sein beschissenes Rotes Kreuz da. Sind ja alle immer wichtiger als die Familie.Kein Wunder, dass der kaputt ist."
"Du bist es auch." Kaputte Menschen finden sich immer gegenseitig.
Sie schluckte hörbar und setze anscheinend schon zu einer Erwiderung an, entschied sich dann aber für ein "Vielleicht hast du Recht" und ging dann dazu über, mir wieder zu erzählen, von ihrer Kindheit und von ihrem toten Mann.
Und wieder, dass mein Vater so einen festen Platz in ihrem Herzen habe, aber es so nicht weitergehen könne und er das nicht einsehen wolle.

Zwei Stunden lang saß ich im Fenster und hörte der Vatersfreundin und ihrem Weltuntergang zu, während die Sonne komplett verschwand und mein Tee, so wie übrigens auch mein Rücken, immer kälter wurde.
So lange hatte sie mit ihm nicht geredet, über das, was ihre Welt untergehen ließ, sagte sie. Aber so oft hätte sie es thematisiert, und nie habe er es richtig angehört.
Sie glaube, er könne sich nicht ändern.
"Doch, kann er." Da ist er wieder, mein Optimismus der Verzweifelten. "Es dauert nur".
Sie wolle aber nicht so lange warten.
"Ist er dir so wenig wert?"
Er bedeute ihr so viel..
"Dann gib ihm die Chance. Du hast von Anfang an gewusst, worauf du dich einlässt, er hat dir gesagt, worauf du dich einlässt, ich habe es dir gesagt. Du weißt, wie er erzogen worden ist und du weißt, was mit meiner Mutter war. Also musst du entweder damit klarkommen oder nicht.Wenn du es tust, dann geht es weiter, wenn nicht, musst du einen Schlussstrich ziehen."
Sie habe ihm schon mehrere Chancen gegeben.
"Manches braucht mehrere Anläufe. Er ist ja auch nicht innerhalb eines Tages zu dem geworden,was er jetzt ist".
Und da sind noch Reste von Menschlichkeit in ihm; daran glaube ich.
Da sind Reste meines Vaters, und die lasse ich nicht einfach so gehen.
Wenn sie ihn gehen lassen will, soll sie es machen, aber ich lasse ihn nicht gehen. Punkt.
Die Weltfremde, bei der sie immer putzt, habe gesagt, sie solle einen Schlussstrich ziehen, bevor es zu schwierig wird, erzählte die Vatersfreundin schließlich. Aber es sei so schwer.
-"Lieben tut weh".
Da habe ich etwas Wahres gesagt. Ihr Mann sei auch so jemand wie mein Vater gewesen, fing sie an, und wieder wurde die Vergangenheit ausgepackt und vor mir seziert.
Man hält sich eben an vertraute Muster.

Habe mich nicht getraut, ihr zu sagen, dass wir uns im Kreis drehen, und so drehten wir uns weiter im Kreis, bis schließlich auch ihr schwindlig wurde und sie beschloss, aufzulegen, um ihr gedankenschweres Hirn zu beruhigen, schließlich müsse sie morgen arbeiten.
"Und denk dran, mein Angebot gilt!", waren ihre Abschiedsworte, dann legte sie auf.

Und ich saß in meinem Fenster, mit meinem kalten Tee in der kalten Katzentasse, dem Rücken am kalten Mauerwerk hinter mir, mit angewinkelten Beinen und dem Wissen, dass ich gerade keinen Weltuntergang verhindert, aber die Wucht abgedämpft hatte.
Wie schon so oft.

Kaputte Menschen finden sich früher oder später.Immer. Und kollidieren. Und gehen weiter kaputt. Finden sich wieder. Kollidieren.
Das ewig gleiche Spiel, mit Folgeschäden, die sich Runde um Runde immer mehr steigern, und eine Möglichkeit zum Aussteigen gibt es nicht, auch nicht bei Totalschaden; manchmal glaube ich, irgendjemand mit einem sehr makaberen Humor hat mir die Mechanikermütze aufgesetzt.
Aber ich kann da nichts reparieren, weil nichts mehr übrig ist, das man reparieren könnte; also mache ich das, was sie uns auch beibringen für draußen, für den Ernstfall: Nicht sagen, das ist jetzt dein Ende, nicht sagen, du wist wieder völlig gesund, sondern da sein.
Dasein und sagen, dass alles gut wird, irgendwie.

Mehr kann ich doch auch nicht..