Thema: oh happy day.
Da stehen wir an der Autobahnraststätte und warten.
Die Nachbarin hat ihre riesige Sonnenbrille aufgesetzt, der Solariumfan trommelt auf dem Dach seines Autos, ich atme Abgasluft, lasse mir den Wind durchs Haar wehen und muss die Augen zusammenkneifen, weil zur Abwechslung die Sonne scheint.
Manchmal sind die kleinen Momente die wirklich epischen.
Stehen an der Autobahnraststätte, weit genug weg von zuhause, um langsam aufzuatmen, aber nah genug dran, um immernoch die dunklen Schatten zu sehen, die "daheim" auf mein Leben wirft.
Dann sollen sie mich eben bedrohen, die Schatten.
Sehe zur Nachbarin, die sich inzwischen ins Auto gesetzt und angefangen hat, sich zu schminken, weil sie dazu vorher keine Zeit gehabt hat, sie musste früher mit der Arbeit aufhören und ist mit dem Fahrrad hergefahren, um uns noch zu erwischen.
Es ist immernoch seltsam, wieder Kontakt zu ihr zu haben, aber nicht unbedingt negativ.
Meine Angst vor fremden Menschen und davor, mit ihnen zu reden, hat die Angewohnheit, in der Gegenwart der Nachbarin entweder zu verschwinden oder sich zu ungeahnter Intensität zu steigern; für diesen Abend hoffe ich auf Letzteres.
Irgendwann hält das schwarze Auto, eine Hand winkt dem Solariumfan zu, er winkt zurück und die nächsten zwei Stunden fahren wir hinter dem Anderen her, bis wir irgendwann in der Stadt sind und etwas später vor einem Gebäude halten, das rein optisch einer Mischung aus Absteige, Luxusabsteige und Bordell gleicht.
Dort soll sie als Vorband spielen, die Gruppe um den Solariumfan.
Aus dem anderen Wagen steigen der Bruder des Fremden, der immer aussieht wie ein verlorener Plüschpinguin, der Musikmensch, ein mir Unbekannter und am Schluss der Fremde, mit etwas Abstand zum Rest, einer sehr niedergeschlagenen Ausstrahlung, seiner üblichen Anzugjacke und mit Augenringen, die selbst meinen Konkurrenz machen.
Gegrüßt werden wir nur vom Musikmenschen.
Ich schiebe es auf die allgemeine Anspannung und helfe, Musikinstrumente die vier Stockwerke nach oben zu tragen, bis irgendwann alles verräumt ist, wobei ich mir vorstelle, wie es wäre, wenn ich heute Sanitätsdienst hätte und jemanden von dort oben runter zur Straße schaffen müsste.
Beschließe, ab jetzt nicht mehr nur was für die Ausdauer zu tun, Hundertachtzigkilopatienten so weit zu schleppen, weil es keinen Aufzug gibt, ist nämlich definitiv kein Spaß. Aber irgendwer muss es ja machen.
Zwischen zweimal Schleppen lässt der Schlagzeuger der anderen Band einen blöden Spruch in meine Richtung wandern, den ich möglichst grimmig guckend ignoriere, die Nachbarin ist wieder im Dauergrinsmodus, der Solariumfan nicht ansprechbar, der Rest der Band sowieso nicht und auch der Fremde und sein unbekannter Begleiter sprechen lediglich miteinander oder tippen synchron auf ihren Handys.
How wonderful.
Dann kommt der Soundcheck, eine Basssaite reißt, der Fremde holt sich sein zweites Bier, sieben Minuten später geht es weiter und er holt sich sein drittes.
Bis der Soundcheck der ersten Band vorbei ist, hat der Fremde bereits vier Bier intus, steht aber stabil und wirkt auch so, sieht man von seiner Niedergeschlagenheit ab.
"Irgendwie sind die voll unfreundlich!", beschwert sich die Nachbarin, "keiner von denen sagt Hallo und die haben es nichtmal nötig, mit uns zu reden!"
-"Normalerweise sprichst du doch immer einfach die Leute an.."...und ich habe gehofft, dass du das heute auch tun würdest.
"Ich weiß auch nicht, was heute mit mir los ist."
Das Gefühl kenne ich.
" If the sun won't shine for you, it won't either shine for me, my mistakes took me apart, I've faded and lost my path"
Weißt du, was du da mitsingst?
Das möchte ich ihn fragen, den Fremden, jetzt in diesem Moment, in dem er, mit der achten Bierflasche in der Hand, vor der Bühne steht und mitsingt, während sein Bruder und der Musikmensch ebendiese Zeilen ins Publikum werfen und mich dabei fester treffen, als mir lieb ist.
Er wirkt verlorener denn je, geredet haben wir immernoch nicht und ich will es in diesem Moment auch nicht ändern, zuviel von Musik ausgelöster Seelenschmerz bei mir, zuviel von Musik getriggerter Seelenschmerz bei ihm und zuviel Alkohol in seinem Blut.
Ob es ihn gerade wieder einholt?
Mein Blick wandert wieder zu ihm, und ich sehe gerade noch, wie er seine Flasche leert und sich auf den Weg zur Bar macht, um Nachschub zu holen, als ich unsanft angerempelt werde.
Nicht in Stimmung dafür, Leute dumm anzumaulen, drehe ich mich also nicht ganz so motiviert um und stehe auf einmal dem Rotkreuzmädchen gegenüber.
"Mayhem!"
-"Rotkreuzmädchen!"
Umarmung.
Sie hat es doch noch hergeschafft, ist nach der Arbeit und mit Tempo 160 durchgefahren, erzählt sie. Und dass ich gut aussähe, und sie es unglaublich fände, wie lang meine Haare geworden sind.
"Bist du alleine da?", will sie wissen.
-"Die Nachbarin ist dabei, und ich bin mit dem Solariumfan, das ist der da, der Schlagzeug spielt und gerade dem Musikmenschen beim Bühneumbauen hilft, hergefahren. Hast du noch jemanden mitgebracht?"
"Nö, ich finds so aber auch ganz nett, ehrlich gesagt".
Schön.
Sie erzählt von der Arbeit, nervigen Kollegen und davon, dass sie vielleicht doch studieren will,während auf der Bühne ein Keyboard und eine Harmonika, vor der Bühne der Fremde und sein neuntes Bier auftauchen und es trotz meiner Freude darüber, dass das Rotkreuzmädchen doch da ist,schaffen, meine Aufmerksamkeit ein wenig abzulenken, als sie zum dritten Mal das Gleiche erzählt.
"Duhu, Rotkreuzmädchen, wie viel Bier kann man, wenn man das öfters macht, an einem Abend trinken, also ohne, dass man umkippt?", fragt irgendwann die Nachbarin, die sich zwischendurch einen Sekt geholt und den Fremden wohl ebenfalls beobachtet hat.
Das Rotkreuzmädchen zieht eine Augenbraue boch. "Was soll denn jetzt die Frage?"
"Ach, ich hab da so einen gesehen", beginnt die Nachbarin, sieht kurz den Fremden an, dann mich und schließlich wieder das Rotkreuzmädchen, "und der hat schon beim ersten Soundcheck vier oder fünf Bier getrunken und bis jetzt keine Pause gemacht."
"Scheiß Säufer", flucht das Rotkreuzmädchen und nimmt einen tiefen Zug von ihrem Wodka-O. Damit ist das Thema für sie wohl auch beendet, jedenfalls schweigt sie, bis die Band fertig gespielt hat.
Auch bei der semibekannten Band gibt es Probleme mit der Technik, und so zieht die Nachbarin zunächst ihre Stiefel aus und setzt sich neben ihnen auf den Boden, beschließt aber nach einer Weile, dass ihr eher nach frischer Luft zumute ist und verabschiedet sich nach draußen.
Das Rotkreuzmädchen und ich, wir schweigen uns weiter an.
Eigentlich weiß sie, dass ich schnell verunsichert und keine Meisterin des Smalltalks bin, somit gehe ich davon aus, dass sie gerade nicht reden will. Sie ist eine sehr bestimmte Person, die einem auch sehr direkt die Meinung sagen kann und generell den meisten anderen Menschen skeptisch gegenüber steht, insofern bin ich erstaunt, dass sie sich über gerade meine Einladung gefreut hat und gekommen ist.
Ich überlege, ihr das zu sagen; das Risiko, eine nicht allzu nette (wenn auch nicht böse gemeinte) Antwort zu bekommen, ist ja leider doch relativ hoch..
"Hallo Leute, wir sind die semibekannte Band! Freut mich,dass ihr da seid! Geht's euch gut?"
Meine Fresse, wie ich "gehts euch gut", "könnt ihr mich hören" und andere tiefgründige Publikumsinteraktionsaufrufe hasse.
"Man ey, solche blöden Fragen kotzen echt an!", spricht das Rotkreuzmädchen meine Gedanken aus.
Trotzdem ist die Band ganz gut, und irgendwann geht der Sänger auch dazu über, einfach Sänger zu sein und das mit dem Pseudomoderatorenentertainment einfach wegzulassen.
"Ich freue mich übrigens, dass du hergekommen bist."
Da, ich habe es gesagt.
Und sie lächelt. "Jo, ist ja ganz gut hier, und ich hab schließlich gesagt, wenn wieder was ist, kannste dich melden."
In einer Pause sagt sie dann trotzdem, dass sie losmuss, und nach ein paar weiteren Liedern geht sie tatsächlich; Schichtdienst und nur 2 Stunden Schlaf sind eben nicht gerade ideale Voraussetzungen, um ein ganzes Konzert zu überstehen.
Ich bringe sie noch zur Garderobe, umarme sie zum Abschied, vergewissere mich, dass es der Nachbarin gut geht, die immernoch draußen sitzt und inzwischen mit einem der Türsteher über Zoobesuche spricht, und sehe auf dem Rückweg den Fremden an der Bar stehen und wieder Bier holen.
Ein Teil meines Gehirns zögert, diesen Fakt anzunehmen, er wäre dann beim 10., und das hört sich irgendwie nach zu viel für diesen eher kurzen Zeitraum an, und nach zu viel, um noch gesund zu sein.
Es war aber keine Einbildung, und als wir wieder vor der Bühne stehen, er mittig, ich seitlich, wirkt er enthemmter, headbangt auf einmal, wippt und hüpft mit, wenn die Entertainerseele des Sängers wieder mal zum Vorschein kommt und uns dazu auffordert, tut wieder so, als fände er ihn total toll und gröhlt beim Refrain mit.
Ach, Fremder...
"Ich rauch noch eine, dann fahren wir,ok?"
Der Solariumfan, nach abgeschlossenem Konzert wieder ansprechbar, zündet sich eine Zigarette an und prüft extra den Wind, um zu vermeiden, dass die Nachbarin, seine Band oder ich in der Rauchwolke stehen,was ich sehr rücksichtsvoll finde.
Gesprochen hat trotzdem keiner der anderen mit uns, entsprechend deplatziert komme ich mir in unserer kleinen Runde auch vor, und als der Fremde als Letzter die Treppen runterstolpert, sich zu uns stellt und dabei den Kreis so schließt, dass die Nachbarin und ich außerhalb stehen, ist auch dieses Thema beendet.
Außer der Nachbarin, dem Fremden und mir rauchen alle, wobei er er als Einziger Kritik an der Qualmerei äußert. "Das ist nicht gesund für dich, Solariumfan, es stinkt und schadet anderen, das ist schlecht", mahnt er.
"Deine Räucherstäbchen stinken auch", lacht der Pinguinbruder des Fremden, der daraufhin nur betroffen auf den Boden starrt und schließlich seine letzte Flasche abgibt.
"Wieviel hat der eigentlich getrunken?", fragt die Nachbarin den Solariumfan.
"Kann sein, dass es wieder fast ein Kasten war", meint er, "Das passiert bei dem aber manchmal, ist wohl normal".
Ob das normal ist, will ich von der Nachbarin wissen, als wir zurück zum Auto laufen und der Solariumfan noch mit dem Musikmenschen spricht.
Sie wisse es nicht, wirklich. Eine Weile überlegt sie noch, was sie sagen könnte, dann:
"Vielleicht musst du mal mit dem reden."
-"Warum?"
"Naja", erklärt sie, "der sah traurig aus, aber nicht so, wie man traurig ist, wenn jemand eine Verabredung vergisst, oder was ausverkauft ist, oder es Oma nicht gut geht, sondern so traurig wie du."
"Wie traurig sehe ich denn aus?", frage ich sie, und irgendwo in mir meldet sich ein wunder Punkt als leicht getroffen.
"Anders traurig. Das normale traurig wird schnell leichter, aber das andere traurig von dir und von dem Fremden, das geht nicht leicht weg,sondern das bleibt ganz lange da und man wird es nicht richtig los."
Wie lange sie schon über diese Traurigkeit nachdenke, möchte ich wissen. Ganz lange, lautet die Antwort. Schon seit wir wieder Kontakt haben, weil dieses Traurigsein, wie sie es nennt, schon so lange da ist. Der Fremde sei neben mir die einzige Person, bei der sie es gefühlt und gesehen habe, und bei ihm sei es sehr stark ausgeprägt.
"Nachbarin, denkst du, man kann ihm helfen?"
-"Das würdest du gerne machen,oder?"
Sie grinst mich an und fährt fort. "Ich weiß doch, dass du das oft machst, anderen so helfen, dass sie nicht mehr traurig sind. Aber der, der ist anders traurig als die Normalen, der ist so traurig wie du. Dann kann es entweder sein, dass ihr euch gegenseitig helfen könnt, oder dass es dann schlimmer wird.
Ich glaube aber, dass das dann besser wird. Und dass du jemand wie den Fremden brauchst, der dich versteht."
Die Nachbarin hat Talent dafür, mich ohne jegliche böse Absicht endgültig total aus der Bahn zu werfen, in der ich mich vorher sowieso nur noch unsicher schwankend halten konnte.
Die Nachbarin hat ihre riesige Sonnenbrille aufgesetzt, der Solariumfan trommelt auf dem Dach seines Autos, ich atme Abgasluft, lasse mir den Wind durchs Haar wehen und muss die Augen zusammenkneifen, weil zur Abwechslung die Sonne scheint.
Manchmal sind die kleinen Momente die wirklich epischen.
Stehen an der Autobahnraststätte, weit genug weg von zuhause, um langsam aufzuatmen, aber nah genug dran, um immernoch die dunklen Schatten zu sehen, die "daheim" auf mein Leben wirft.
Dann sollen sie mich eben bedrohen, die Schatten.
Sehe zur Nachbarin, die sich inzwischen ins Auto gesetzt und angefangen hat, sich zu schminken, weil sie dazu vorher keine Zeit gehabt hat, sie musste früher mit der Arbeit aufhören und ist mit dem Fahrrad hergefahren, um uns noch zu erwischen.
Es ist immernoch seltsam, wieder Kontakt zu ihr zu haben, aber nicht unbedingt negativ.
Meine Angst vor fremden Menschen und davor, mit ihnen zu reden, hat die Angewohnheit, in der Gegenwart der Nachbarin entweder zu verschwinden oder sich zu ungeahnter Intensität zu steigern; für diesen Abend hoffe ich auf Letzteres.
Irgendwann hält das schwarze Auto, eine Hand winkt dem Solariumfan zu, er winkt zurück und die nächsten zwei Stunden fahren wir hinter dem Anderen her, bis wir irgendwann in der Stadt sind und etwas später vor einem Gebäude halten, das rein optisch einer Mischung aus Absteige, Luxusabsteige und Bordell gleicht.
Dort soll sie als Vorband spielen, die Gruppe um den Solariumfan.
Aus dem anderen Wagen steigen der Bruder des Fremden, der immer aussieht wie ein verlorener Plüschpinguin, der Musikmensch, ein mir Unbekannter und am Schluss der Fremde, mit etwas Abstand zum Rest, einer sehr niedergeschlagenen Ausstrahlung, seiner üblichen Anzugjacke und mit Augenringen, die selbst meinen Konkurrenz machen.
Gegrüßt werden wir nur vom Musikmenschen.
Ich schiebe es auf die allgemeine Anspannung und helfe, Musikinstrumente die vier Stockwerke nach oben zu tragen, bis irgendwann alles verräumt ist, wobei ich mir vorstelle, wie es wäre, wenn ich heute Sanitätsdienst hätte und jemanden von dort oben runter zur Straße schaffen müsste.
Beschließe, ab jetzt nicht mehr nur was für die Ausdauer zu tun, Hundertachtzigkilopatienten so weit zu schleppen, weil es keinen Aufzug gibt, ist nämlich definitiv kein Spaß. Aber irgendwer muss es ja machen.
Zwischen zweimal Schleppen lässt der Schlagzeuger der anderen Band einen blöden Spruch in meine Richtung wandern, den ich möglichst grimmig guckend ignoriere, die Nachbarin ist wieder im Dauergrinsmodus, der Solariumfan nicht ansprechbar, der Rest der Band sowieso nicht und auch der Fremde und sein unbekannter Begleiter sprechen lediglich miteinander oder tippen synchron auf ihren Handys.
How wonderful.
Dann kommt der Soundcheck, eine Basssaite reißt, der Fremde holt sich sein zweites Bier, sieben Minuten später geht es weiter und er holt sich sein drittes.
Bis der Soundcheck der ersten Band vorbei ist, hat der Fremde bereits vier Bier intus, steht aber stabil und wirkt auch so, sieht man von seiner Niedergeschlagenheit ab.
"Irgendwie sind die voll unfreundlich!", beschwert sich die Nachbarin, "keiner von denen sagt Hallo und die haben es nichtmal nötig, mit uns zu reden!"
-"Normalerweise sprichst du doch immer einfach die Leute an.."...und ich habe gehofft, dass du das heute auch tun würdest.
"Ich weiß auch nicht, was heute mit mir los ist."
Das Gefühl kenne ich.
" If the sun won't shine for you, it won't either shine for me, my mistakes took me apart, I've faded and lost my path"
Weißt du, was du da mitsingst?
Das möchte ich ihn fragen, den Fremden, jetzt in diesem Moment, in dem er, mit der achten Bierflasche in der Hand, vor der Bühne steht und mitsingt, während sein Bruder und der Musikmensch ebendiese Zeilen ins Publikum werfen und mich dabei fester treffen, als mir lieb ist.
Er wirkt verlorener denn je, geredet haben wir immernoch nicht und ich will es in diesem Moment auch nicht ändern, zuviel von Musik ausgelöster Seelenschmerz bei mir, zuviel von Musik getriggerter Seelenschmerz bei ihm und zuviel Alkohol in seinem Blut.
Ob es ihn gerade wieder einholt?
Mein Blick wandert wieder zu ihm, und ich sehe gerade noch, wie er seine Flasche leert und sich auf den Weg zur Bar macht, um Nachschub zu holen, als ich unsanft angerempelt werde.
Nicht in Stimmung dafür, Leute dumm anzumaulen, drehe ich mich also nicht ganz so motiviert um und stehe auf einmal dem Rotkreuzmädchen gegenüber.
"Mayhem!"
-"Rotkreuzmädchen!"
Umarmung.
Sie hat es doch noch hergeschafft, ist nach der Arbeit und mit Tempo 160 durchgefahren, erzählt sie. Und dass ich gut aussähe, und sie es unglaublich fände, wie lang meine Haare geworden sind.
"Bist du alleine da?", will sie wissen.
-"Die Nachbarin ist dabei, und ich bin mit dem Solariumfan, das ist der da, der Schlagzeug spielt und gerade dem Musikmenschen beim Bühneumbauen hilft, hergefahren. Hast du noch jemanden mitgebracht?"
"Nö, ich finds so aber auch ganz nett, ehrlich gesagt".
Schön.
Sie erzählt von der Arbeit, nervigen Kollegen und davon, dass sie vielleicht doch studieren will,während auf der Bühne ein Keyboard und eine Harmonika, vor der Bühne der Fremde und sein neuntes Bier auftauchen und es trotz meiner Freude darüber, dass das Rotkreuzmädchen doch da ist,schaffen, meine Aufmerksamkeit ein wenig abzulenken, als sie zum dritten Mal das Gleiche erzählt.
"Duhu, Rotkreuzmädchen, wie viel Bier kann man, wenn man das öfters macht, an einem Abend trinken, also ohne, dass man umkippt?", fragt irgendwann die Nachbarin, die sich zwischendurch einen Sekt geholt und den Fremden wohl ebenfalls beobachtet hat.
Das Rotkreuzmädchen zieht eine Augenbraue boch. "Was soll denn jetzt die Frage?"
"Ach, ich hab da so einen gesehen", beginnt die Nachbarin, sieht kurz den Fremden an, dann mich und schließlich wieder das Rotkreuzmädchen, "und der hat schon beim ersten Soundcheck vier oder fünf Bier getrunken und bis jetzt keine Pause gemacht."
"Scheiß Säufer", flucht das Rotkreuzmädchen und nimmt einen tiefen Zug von ihrem Wodka-O. Damit ist das Thema für sie wohl auch beendet, jedenfalls schweigt sie, bis die Band fertig gespielt hat.
Auch bei der semibekannten Band gibt es Probleme mit der Technik, und so zieht die Nachbarin zunächst ihre Stiefel aus und setzt sich neben ihnen auf den Boden, beschließt aber nach einer Weile, dass ihr eher nach frischer Luft zumute ist und verabschiedet sich nach draußen.
Das Rotkreuzmädchen und ich, wir schweigen uns weiter an.
Eigentlich weiß sie, dass ich schnell verunsichert und keine Meisterin des Smalltalks bin, somit gehe ich davon aus, dass sie gerade nicht reden will. Sie ist eine sehr bestimmte Person, die einem auch sehr direkt die Meinung sagen kann und generell den meisten anderen Menschen skeptisch gegenüber steht, insofern bin ich erstaunt, dass sie sich über gerade meine Einladung gefreut hat und gekommen ist.
Ich überlege, ihr das zu sagen; das Risiko, eine nicht allzu nette (wenn auch nicht böse gemeinte) Antwort zu bekommen, ist ja leider doch relativ hoch..
"Hallo Leute, wir sind die semibekannte Band! Freut mich,dass ihr da seid! Geht's euch gut?"
Meine Fresse, wie ich "gehts euch gut", "könnt ihr mich hören" und andere tiefgründige Publikumsinteraktionsaufrufe hasse.
"Man ey, solche blöden Fragen kotzen echt an!", spricht das Rotkreuzmädchen meine Gedanken aus.
Trotzdem ist die Band ganz gut, und irgendwann geht der Sänger auch dazu über, einfach Sänger zu sein und das mit dem Pseudomoderatorenentertainment einfach wegzulassen.
"Ich freue mich übrigens, dass du hergekommen bist."
Da, ich habe es gesagt.
Und sie lächelt. "Jo, ist ja ganz gut hier, und ich hab schließlich gesagt, wenn wieder was ist, kannste dich melden."
In einer Pause sagt sie dann trotzdem, dass sie losmuss, und nach ein paar weiteren Liedern geht sie tatsächlich; Schichtdienst und nur 2 Stunden Schlaf sind eben nicht gerade ideale Voraussetzungen, um ein ganzes Konzert zu überstehen.
Ich bringe sie noch zur Garderobe, umarme sie zum Abschied, vergewissere mich, dass es der Nachbarin gut geht, die immernoch draußen sitzt und inzwischen mit einem der Türsteher über Zoobesuche spricht, und sehe auf dem Rückweg den Fremden an der Bar stehen und wieder Bier holen.
Ein Teil meines Gehirns zögert, diesen Fakt anzunehmen, er wäre dann beim 10., und das hört sich irgendwie nach zu viel für diesen eher kurzen Zeitraum an, und nach zu viel, um noch gesund zu sein.
Es war aber keine Einbildung, und als wir wieder vor der Bühne stehen, er mittig, ich seitlich, wirkt er enthemmter, headbangt auf einmal, wippt und hüpft mit, wenn die Entertainerseele des Sängers wieder mal zum Vorschein kommt und uns dazu auffordert, tut wieder so, als fände er ihn total toll und gröhlt beim Refrain mit.
Ach, Fremder...
"Ich rauch noch eine, dann fahren wir,ok?"
Der Solariumfan, nach abgeschlossenem Konzert wieder ansprechbar, zündet sich eine Zigarette an und prüft extra den Wind, um zu vermeiden, dass die Nachbarin, seine Band oder ich in der Rauchwolke stehen,was ich sehr rücksichtsvoll finde.
Gesprochen hat trotzdem keiner der anderen mit uns, entsprechend deplatziert komme ich mir in unserer kleinen Runde auch vor, und als der Fremde als Letzter die Treppen runterstolpert, sich zu uns stellt und dabei den Kreis so schließt, dass die Nachbarin und ich außerhalb stehen, ist auch dieses Thema beendet.
Außer der Nachbarin, dem Fremden und mir rauchen alle, wobei er er als Einziger Kritik an der Qualmerei äußert. "Das ist nicht gesund für dich, Solariumfan, es stinkt und schadet anderen, das ist schlecht", mahnt er.
"Deine Räucherstäbchen stinken auch", lacht der Pinguinbruder des Fremden, der daraufhin nur betroffen auf den Boden starrt und schließlich seine letzte Flasche abgibt.
"Wieviel hat der eigentlich getrunken?", fragt die Nachbarin den Solariumfan.
"Kann sein, dass es wieder fast ein Kasten war", meint er, "Das passiert bei dem aber manchmal, ist wohl normal".
Ob das normal ist, will ich von der Nachbarin wissen, als wir zurück zum Auto laufen und der Solariumfan noch mit dem Musikmenschen spricht.
Sie wisse es nicht, wirklich. Eine Weile überlegt sie noch, was sie sagen könnte, dann:
"Vielleicht musst du mal mit dem reden."
-"Warum?"
"Naja", erklärt sie, "der sah traurig aus, aber nicht so, wie man traurig ist, wenn jemand eine Verabredung vergisst, oder was ausverkauft ist, oder es Oma nicht gut geht, sondern so traurig wie du."
"Wie traurig sehe ich denn aus?", frage ich sie, und irgendwo in mir meldet sich ein wunder Punkt als leicht getroffen.
"Anders traurig. Das normale traurig wird schnell leichter, aber das andere traurig von dir und von dem Fremden, das geht nicht leicht weg,sondern das bleibt ganz lange da und man wird es nicht richtig los."
Wie lange sie schon über diese Traurigkeit nachdenke, möchte ich wissen. Ganz lange, lautet die Antwort. Schon seit wir wieder Kontakt haben, weil dieses Traurigsein, wie sie es nennt, schon so lange da ist. Der Fremde sei neben mir die einzige Person, bei der sie es gefühlt und gesehen habe, und bei ihm sei es sehr stark ausgeprägt.
"Nachbarin, denkst du, man kann ihm helfen?"
-"Das würdest du gerne machen,oder?"
Sie grinst mich an und fährt fort. "Ich weiß doch, dass du das oft machst, anderen so helfen, dass sie nicht mehr traurig sind. Aber der, der ist anders traurig als die Normalen, der ist so traurig wie du. Dann kann es entweder sein, dass ihr euch gegenseitig helfen könnt, oder dass es dann schlimmer wird.
Ich glaube aber, dass das dann besser wird. Und dass du jemand wie den Fremden brauchst, der dich versteht."
Die Nachbarin hat Talent dafür, mich ohne jegliche böse Absicht endgültig total aus der Bahn zu werfen, in der ich mich vorher sowieso nur noch unsicher schwankend halten konnte.