Dienstag, 1. Mai 2012
Ich habe heute spontan mal wieder meine Mutter besucht.
Eigentlich war ich zu dem Entschluss gekommen, es zu lassen, und die letzten Wochen habe ich auch eher weniger daran gedacht, aber als ich dann auf Höhe des Hintereingangs feststellte, dass da, wo ich eigentlich weiterlaufen wollte, Bekannte meiner Restfamilie standen, drückte ich instinktiv die Klinke runter, trat ein und bin, immer links und rechts schauend, ob da andere Menschen waren, bis zu ihr gelaufen.
Ein paar Amseln hüpften zwischen den Gräbern hindurch oder raschelten im Gebüsch hinter mir, sonst war niemand außer mir auf dem Friedhof, der Rest der Welt hatte heute wohl anderes zu tun.
Ich kam mir wieder etwas verunsichert vor, deplatziert. Es ist ein wenig seltsam, mit seiner Mutter zu reden, wenn sie dabei physisch durch eine Steinplatte auf einem kleinen Urnenwandschacht verkörpert wird.
Und ich weiß ja garnicht, ob sie mich überhaupt hört, oder hören will.
So stand ich dann zunächst 90 Meter von der Urnenwand entfernt, bis ich weiter vor bin, zu dem Stein, auf dem sich die älteren Leute abstützen können, wenn sie kniend beten.
Ich habe mich nicht hingekniet und gebetet.
Bin vorbei an dem Stein, und weil ich nicht so recht wusste, wie ich am Besten anfange, habe ich eben ein Kreuzzeichen gemacht, kein instinktives und schon gar kein selbstbestimmtes, zackiges, wie das die Leute in der Kirche immer machen, aber es war als eins zu erkennen.
Ich habe mich gefragt, ob sie es blöd findet, wie ich mich anstelle, aber ich habe ja schließlich keine Routine darin, durch Urnenwandsteinplatten hindurch mit Angehörigen zu reden, meine Mutter ist bis jetzt die einzige verstorbene Angehörige, die ich überhaupt besuche. Habe trotzdem Hallo gesagt, nicht laut, sondern in Gedanken.
Ich bin mir ja nicht sicher, was sie von da oben, oder unten, oder wo auch immer das Jenseits ist, wenn es denn existiert, überhaupt sehen kann, das erwähnte ich zur Sicherheit, sollte sie von da oben oder da unten aus alles sehen können, und dass der emotionsgeleitete, verletzte Teil von mir, der zu viele Gruselromane bei zu schlechten Nerven gelesen hat, sich natürlich wünscht, dass meine Mutter sich durch die Vatersfreundin gestört fühlt, ich das aber eigentlich nicht möchte.
Ich habe ihr gesagt, Mama, sei nicht böse auf meinen Vater, oder auf seine Freundin, weil sie sich gefunden haben.
Und dann habe ich ihr erzählt, dass ich ausziehen werde.
Eine ziemlich krasse Sache ist das mit dem Auszug, und ich habe gesagt, Mama, ich weiß nicht, was du davon hälst, aber ich ziehe das durch, weil ich muss.
Ich komme dich dann wahrscheinlich noch seltener besuchen, aber ich komme dich weiterhin besuchen, Indianerehrenwort.
Und wenn du kannst, dann bitte ich dich darum, meinen Auszug abzusegnen.
Wenn das geht, so mit schützende Hand über mich halten und so, dann möchte ich dich darum bitten, dass du das tust.
Ich weiß nicht, ob du da oben oder da unten, wo auch immer das Jenseits ist, wenn es denn exisitiert, noch so bist, wie du warst, als du gestorben bist, oder ob du da vollkommen klar bist; aber wenn du das kannst, dann hilf mir bitte damit.
Ich kam mir eher unbeholfen vor in unserem Gespräch, und vielleicht habe ich dich mit der Formulierung gereizt, mit dem "klar sein", das habe ich ja wiederholt gesagt, aber mir ist kein besserer Ausdruck eingefallen. Bitte sei mir nicht böse.
Als ich mich verabschiedet habe, wieder mit Kreuzzeichen, habe ich noch kurz meine Hand auf ihre Steinplatte gelegt, hätte das eine der Friedhofsomas, die immer zum tratschen und Grab gießen herkommen, gesehen, sie hätte mich mit dem Besen verprügelt, aber ich habe es trotzdem getan, weil ich das immer mache, wenn ich meine Mutter besuche.
Dann habe ich Tschüss gesagt, bis dann mal wieder irgendwann.

Ich habe mir so lange Zeit gegeben, mich zu sammeln, wie ich brauchte, um die Friedhofsordnung zu lesen.
Allerdings lese ich sehr schnell, so hat es dann auch nicht lange gedauert, bis ich weitere Treppen nach unten gestiegen und dann wieder auf einem richtigen Weg gelandet bin, und ein paar Minuten später stand ich vor der Tür derer, die zwar im Endeffekt beinahe genauso wenig Ahnung hat wie ich, aber eine so gnadenlose Optimistin ist, dass ich manchmal nicht weiß, ob ich weinen oder einen Blumentopf auf ihrem Kopf zerdeppern soll, und jetzt sitze ich hier und wälze Paragraphen, um vorbereitet zu sein, und muss demnächst wieder das Unmögliche vollbringen und fremde Menschen anrufen, diesmal welche vom Sozialamt. Termin verlangen, die gnadenlose Optimistin anrufen, Termin bestätigen, auf den Weg machen.
Mit der Optimistin, auch, wenn mir nicht ganz wohl dabei ist, aber noch unwohler fühle ich mich, wenn ich alleine hinmuss, und vermutlich kann sie mir helfen.
Hinfahren, Beamten notfalls in Grund und Boden diskutieren, hoffentlich mit der Bewilligung von Wohngeld und/oder vergleichbaren Stützen wieder aus dem Amt rauskommen, heimfahren, die Katze in die Arme schließen und ihr sagen können, dass alles gut wird, sobald ich eine Wohnung habe, deren Vermieter weder mit mir, noch mit einem Haustier Probleme hat.

Zumindest in der Theorie ist das alles ganz einfach.