Thema: persoenlichkeitsfetzen
16. Mai 12 | Autor: mayhem | 0 Kommentare | Kommentieren
"(...)
Es war einmal ein arm Kind und hat kein Vater und keine Mutter, war alles tot und war niemand mehr auf der Welt.
Alles tot, und es ist hingegangen und hat gesucht Tag und Nacht.
Und weil auf der Erde niemand mehr war, wollt's in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an;
und wie es endlich zum Mond kam, war's ein Stück faul Holz.
Und da ist es zur Sonn gangen, und wie es zur Sonn kam, war's ein verwelkt Sonneblum.
Und wie's zu den Sternen kam, waren's kleine goldne Mücken, die waren angesteckt, wie der Neuntöter sie auf die Schlehen steckt.
Und wie's wieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürzter Haufen.
Und es war ganz allein, und da hat sich's hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und is ganz allein.
(Die Großmutter in Georg Büchners Woyzeck)
Das Balancieren wird zur Routine für mich und ich falle seltener runter.
Mein Vater muss sich noch daran gewöhnen.
Ich weiß nicht, wie oft er fällt, aber ich weiß, dass er es tut.
Dass er schwankt, wenn der eine Mann da vorbeikommt.
Der, der mit ihr geschlafen hat.
Der jetzt mit meinem Vater im Gemeinderat sitzt.
Es setzt ihm noch heute zu, weil das damals wohl Liebe für ihn war, die auch durch die ganze Sache mit meiner Mutter nicht totzukriegen war.
Dieses Herz, das sich geweigert hat, zu kollabieren, und auf der anderen Seite ihres, überbelastet.
Auf beiden Seiten Eltern, die nicht unbedingt gute waren; die einen unfähig, die anderen mit früher ungesundem Trinkverhalten und anschließender Mäßigung, aber leider immernoch keiner Erleuchtung in Sachen Erziehung.
Verpasste Chancen, verfahrene Ansichten und weggeprügelte Emotionalität vs. Haltlosigkeit. Leben als Drahtseilakt, irgendwo zwischen Perspektivenlosigkeit, Resignation und dem Auflehnen dagegen. Immer mit Bier- oder Sektflasche in der Hand.
Irgendwann hat es ihr den Boden unter den Füßen weggezogen.
Vielleicht damals, als er bei einem Motorradunfall gestorben ist. Ihre alte Sache. Sechs Jahre lang in Gedanken ihre alte Sache, sein scherzhafter Satz, Großmutter Mayhem, ich werd mal dein Schwiegersohn.
Zwei Wochen später seine Todesanzeige, ausgeschnitten in ihrem Tagebuch. Darunter, die Familie trauert. Mit Kuli ergänzt "und Ich", in ihrer Schrift.
Sie hat sein Sterbebild bis zuletzt aufgehoben und mir auch 20 Jahre später noch davon erzählt.
Von ihm, und dem Unfall, und wie sein brennender Leichnam im Gebüsch gefunden wurde.
Dass ihr Herz auf der Beerdigung fast auseinandergefallen wäre.
Dass sie immer wegen ihm die Fußballspiele angeschaut haben, sie und ihre Mutter, jahrelang, vorbei an diversen kleineren Schwärmereien. Immer sonntags die Fußballspiele.
Vielleicht war es das.
Vielleicht war es das, was ihr Herz so kaputt gemacht hat, dass es einfach nicht mehr richtig zurücklieben konnte. Nicht so, wie ein Herz das normalerweise macht.
Das Herz meines Vaters liebt auch nicht so, wie ein Herz das normalerweise macht.
Es tut das eher versteckt und manchmal auf eigene Art und Weise, weil es so zurechtgequetscht und ihm eingebläut wurde, dass es die Sache mit dem Gernhaben doch bitte möglichst bleiben lassen sollte.
Das zurücklieben, das wurde nur an dafür vorgesehenen Tagen deutlich sichtbar; Hochzeitstag, Kennenlerntag, Geburtstag. Da muss man schließlich schenken, dachte sich wohl Papa Mayhems Herz, und schenkte. Schmuck, oder Blumen, oder beides.
Es tut das manchmal heute noch, wenn es der Vatersfreundin Gefühle zeigen will. Blumen schenken, oder eine Tafel Schokolade, oder einen Schokoladenosterhasen, wenn gerade Ostern ist.
Für ihn ist das keine belanglose Nebensächlichkeit, und keine absichtliche Reduktion auf greifbares, sondern eine notwendige; greifbare Gefühle sind so viel einfacher und verlangen einem oft so viel weniger ab.
Manche Gefühle kann man nicht auf greifbares reduzieren.
Sie hat es gewusst und versucht, sie wegzukriegen, er will es bis heute nicht wahrhaben.
Ich lasse ihre Übermacht über mich hinwegrollen und warte, bis die Flut sich wieder zurückzieht und irgenwann ein Verarbeitungsprozess einsetzt.
Manchmal tut er das nicht; stattdessen kommt die Flut wieder oder wird zum Malstrom, und für mich als Nichtschwimmer sollte es eigentlich unmöglich sein, in solchen tosenden Massen nicht zu verschwinden, aber irgendwie scheint es zu funktionieren, jedes Mal aufs Neue.
Vielleicht ist die Kunst nicht, unkaputtbar zu sein, sondern die eigene Verletzlichkeit zu akzeptieren und es einfach passieren zu lassen.
Sich treiben lassen,
ohne dauerhaft unterzugehen. Auch, wenn man manchmal mit dem Kopf unter Wasser ist.
Vielleicht ist es ja wirklich so.
Mein Vater kann das nicht, sich treiben lassen.
Er muss sich festhalten, an Realem, an Greifbaren, an Konventionen, Fakten, an irgendwas.
An dem, was "getan werden muss".
So, wie das aussortieren der Wohnung seines Vaters.
Ist ja im Krankenhaus, nicht sicher, wann und wie er zurückkommt, also. Längst fällig, das. Sagen sie.
Akten, die geschreddert werden, Kaufrechnungen von 1971, Wertbriefe von 1962.
Die Garantie für den Staubsauger ist ebenso abgelaufen wie die für den ehemals weißen Teppich, den ich nur in mittelgraubraun kenne.
Oder wie das Abmelden des Autos.
Heute hat er die Nummernschilder abgeschraubt, sie liegen jetzt auf der Treppe.
Landkreis-Anfangsbuchstabe Opa Mayhem-Anfangsbuchstabe Papa Mayhem-65.
Was sie mit dem Auto vorhaben, frage ich.
"Verschrotten", antwortet mein Vater und meint das ernst.
Der eigentliche Plan hatte gelautet, das Schlachtschiff nicht durch den TÜV kommen zu lassen, war alles mit dem Prüfer abgesprochen, und dann weiter zu sehen.
Jetzt ist Opa Mayhem definitiv nicht mehr fahrtüchtig, also wird die Idee der Vatersfreundin umgesetzt.
Wir verschrotten einen 30 Jahre alten Mercedes. Damals neu gekauft worden, als der epische weiße Käfer an Papa Mayhem übergegangen war, der ihn damals genauso toll gefunden hatte wie ich, als ich ihn Jahrzehnte später auf Fotos wiederfand und fortan in der Reihe der Autos, die später im Idealfall für mich in Frage kommen würden, auch den Käfer listete.
Der epische weiße Käfer ist irgendwann gegangen, und bald geht das Schlachtschiff.
30 Jahre alt, nur äußerlich etwas angerostet und bis auf das beschränkte Kofferraumvolumen (Opa Mayhem hatte versucht, in einer gefühlt vier Quadratmeter großen Hofeinfahrt zu wenden) noch völlig in Ordnung.
Und bald verschrottet.
Er hat immer gesagt, irgendwann fahre ich auch mal damit.
Die Vatersfreundin hat immer die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen. Ich in der vierrädrigen Titanic. Könne ja garnicht gut gehen.
Mein Vater hat sich enthalten, wie so oft.
Vielleicht muss es für ihn so sein. Vielleicht kann er das Auto nicht verkauft sehen, sondern muss es verschrottet wissen, findet sonst keine Ruhe und sich damit konfrontiert, dass Opa Mayhem abbaut.
Die Verarbeitungsmechanismen meines Vaters sind insofern etwas eigen, als er keine hat.
Vielleicht ist das einer der grundlegenden Unterschiede zwischen uns beiden.
Ich kann biszumgehtnichtmehr und noch weiter an einer Sache kaputt gehen, aber ich verarbeite.
Wenn auch manchmal langsam, fast unbemerkt und für mich schmerzhaft. Aber ich verarbeite, zumindest aktuell geht das noch,und irgendwann schließe ich mit der Sache ab.
Werde ich damit abschließen können.
Und wieder neu fallen.
Und immer so weiter.
Muss ja.
"Und allem Weh zu Trotze bleib ich
Verliebt in die verrückte Welt.
(hier komplett zu lesen)
Es war einmal ein arm Kind und hat kein Vater und keine Mutter, war alles tot und war niemand mehr auf der Welt.
Alles tot, und es ist hingegangen und hat gesucht Tag und Nacht.
Und weil auf der Erde niemand mehr war, wollt's in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an;
und wie es endlich zum Mond kam, war's ein Stück faul Holz.
Und da ist es zur Sonn gangen, und wie es zur Sonn kam, war's ein verwelkt Sonneblum.
Und wie's zu den Sternen kam, waren's kleine goldne Mücken, die waren angesteckt, wie der Neuntöter sie auf die Schlehen steckt.
Und wie's wieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürzter Haufen.
Und es war ganz allein, und da hat sich's hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und is ganz allein.
(Die Großmutter in Georg Büchners Woyzeck)
Das Balancieren wird zur Routine für mich und ich falle seltener runter.
Mein Vater muss sich noch daran gewöhnen.
Ich weiß nicht, wie oft er fällt, aber ich weiß, dass er es tut.
Dass er schwankt, wenn der eine Mann da vorbeikommt.
Der, der mit ihr geschlafen hat.
Der jetzt mit meinem Vater im Gemeinderat sitzt.
Es setzt ihm noch heute zu, weil das damals wohl Liebe für ihn war, die auch durch die ganze Sache mit meiner Mutter nicht totzukriegen war.
Dieses Herz, das sich geweigert hat, zu kollabieren, und auf der anderen Seite ihres, überbelastet.
Auf beiden Seiten Eltern, die nicht unbedingt gute waren; die einen unfähig, die anderen mit früher ungesundem Trinkverhalten und anschließender Mäßigung, aber leider immernoch keiner Erleuchtung in Sachen Erziehung.
Verpasste Chancen, verfahrene Ansichten und weggeprügelte Emotionalität vs. Haltlosigkeit. Leben als Drahtseilakt, irgendwo zwischen Perspektivenlosigkeit, Resignation und dem Auflehnen dagegen. Immer mit Bier- oder Sektflasche in der Hand.
Irgendwann hat es ihr den Boden unter den Füßen weggezogen.
Vielleicht damals, als er bei einem Motorradunfall gestorben ist. Ihre alte Sache. Sechs Jahre lang in Gedanken ihre alte Sache, sein scherzhafter Satz, Großmutter Mayhem, ich werd mal dein Schwiegersohn.
Zwei Wochen später seine Todesanzeige, ausgeschnitten in ihrem Tagebuch. Darunter, die Familie trauert. Mit Kuli ergänzt "und Ich", in ihrer Schrift.
Sie hat sein Sterbebild bis zuletzt aufgehoben und mir auch 20 Jahre später noch davon erzählt.
Von ihm, und dem Unfall, und wie sein brennender Leichnam im Gebüsch gefunden wurde.
Dass ihr Herz auf der Beerdigung fast auseinandergefallen wäre.
Dass sie immer wegen ihm die Fußballspiele angeschaut haben, sie und ihre Mutter, jahrelang, vorbei an diversen kleineren Schwärmereien. Immer sonntags die Fußballspiele.
Vielleicht war es das.
Vielleicht war es das, was ihr Herz so kaputt gemacht hat, dass es einfach nicht mehr richtig zurücklieben konnte. Nicht so, wie ein Herz das normalerweise macht.
Das Herz meines Vaters liebt auch nicht so, wie ein Herz das normalerweise macht.
Es tut das eher versteckt und manchmal auf eigene Art und Weise, weil es so zurechtgequetscht und ihm eingebläut wurde, dass es die Sache mit dem Gernhaben doch bitte möglichst bleiben lassen sollte.
Das zurücklieben, das wurde nur an dafür vorgesehenen Tagen deutlich sichtbar; Hochzeitstag, Kennenlerntag, Geburtstag. Da muss man schließlich schenken, dachte sich wohl Papa Mayhems Herz, und schenkte. Schmuck, oder Blumen, oder beides.
Es tut das manchmal heute noch, wenn es der Vatersfreundin Gefühle zeigen will. Blumen schenken, oder eine Tafel Schokolade, oder einen Schokoladenosterhasen, wenn gerade Ostern ist.
Für ihn ist das keine belanglose Nebensächlichkeit, und keine absichtliche Reduktion auf greifbares, sondern eine notwendige; greifbare Gefühle sind so viel einfacher und verlangen einem oft so viel weniger ab.
Manche Gefühle kann man nicht auf greifbares reduzieren.
Sie hat es gewusst und versucht, sie wegzukriegen, er will es bis heute nicht wahrhaben.
Ich lasse ihre Übermacht über mich hinwegrollen und warte, bis die Flut sich wieder zurückzieht und irgenwann ein Verarbeitungsprozess einsetzt.
Manchmal tut er das nicht; stattdessen kommt die Flut wieder oder wird zum Malstrom, und für mich als Nichtschwimmer sollte es eigentlich unmöglich sein, in solchen tosenden Massen nicht zu verschwinden, aber irgendwie scheint es zu funktionieren, jedes Mal aufs Neue.
Vielleicht ist die Kunst nicht, unkaputtbar zu sein, sondern die eigene Verletzlichkeit zu akzeptieren und es einfach passieren zu lassen.
Sich treiben lassen,
ohne dauerhaft unterzugehen. Auch, wenn man manchmal mit dem Kopf unter Wasser ist.
Vielleicht ist es ja wirklich so.
Mein Vater kann das nicht, sich treiben lassen.
Er muss sich festhalten, an Realem, an Greifbaren, an Konventionen, Fakten, an irgendwas.
An dem, was "getan werden muss".
So, wie das aussortieren der Wohnung seines Vaters.
Ist ja im Krankenhaus, nicht sicher, wann und wie er zurückkommt, also. Längst fällig, das. Sagen sie.
Akten, die geschreddert werden, Kaufrechnungen von 1971, Wertbriefe von 1962.
Die Garantie für den Staubsauger ist ebenso abgelaufen wie die für den ehemals weißen Teppich, den ich nur in mittelgraubraun kenne.
Oder wie das Abmelden des Autos.
Heute hat er die Nummernschilder abgeschraubt, sie liegen jetzt auf der Treppe.
Landkreis-Anfangsbuchstabe Opa Mayhem-Anfangsbuchstabe Papa Mayhem-65.
Was sie mit dem Auto vorhaben, frage ich.
"Verschrotten", antwortet mein Vater und meint das ernst.
Der eigentliche Plan hatte gelautet, das Schlachtschiff nicht durch den TÜV kommen zu lassen, war alles mit dem Prüfer abgesprochen, und dann weiter zu sehen.
Jetzt ist Opa Mayhem definitiv nicht mehr fahrtüchtig, also wird die Idee der Vatersfreundin umgesetzt.
Wir verschrotten einen 30 Jahre alten Mercedes. Damals neu gekauft worden, als der epische weiße Käfer an Papa Mayhem übergegangen war, der ihn damals genauso toll gefunden hatte wie ich, als ich ihn Jahrzehnte später auf Fotos wiederfand und fortan in der Reihe der Autos, die später im Idealfall für mich in Frage kommen würden, auch den Käfer listete.
Der epische weiße Käfer ist irgendwann gegangen, und bald geht das Schlachtschiff.
30 Jahre alt, nur äußerlich etwas angerostet und bis auf das beschränkte Kofferraumvolumen (Opa Mayhem hatte versucht, in einer gefühlt vier Quadratmeter großen Hofeinfahrt zu wenden) noch völlig in Ordnung.
Und bald verschrottet.
Er hat immer gesagt, irgendwann fahre ich auch mal damit.
Die Vatersfreundin hat immer die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen. Ich in der vierrädrigen Titanic. Könne ja garnicht gut gehen.
Mein Vater hat sich enthalten, wie so oft.
Vielleicht muss es für ihn so sein. Vielleicht kann er das Auto nicht verkauft sehen, sondern muss es verschrottet wissen, findet sonst keine Ruhe und sich damit konfrontiert, dass Opa Mayhem abbaut.
Die Verarbeitungsmechanismen meines Vaters sind insofern etwas eigen, als er keine hat.
Vielleicht ist das einer der grundlegenden Unterschiede zwischen uns beiden.
Ich kann biszumgehtnichtmehr und noch weiter an einer Sache kaputt gehen, aber ich verarbeite.
Wenn auch manchmal langsam, fast unbemerkt und für mich schmerzhaft. Aber ich verarbeite, zumindest aktuell geht das noch,und irgendwann schließe ich mit der Sache ab.
Werde ich damit abschließen können.
Und wieder neu fallen.
Und immer so weiter.
Muss ja.
"Und allem Weh zu Trotze bleib ich
Verliebt in die verrückte Welt.
(hier komplett zu lesen)