Mittwoch, 22. August 2012
Thema: monolog
Donnerstag - Hail to the freaks
Entgegen der Prophezeiungen des Rauchers, Papa Mayhems und des deutschen Wetterdienstes sind wir weder im Stau stecken geblieben, noch wurden wir durch ein Gewitter von der Autobahn gefegt oder durch die Fahrkünste des Fremden ("Was, der Fremde fährt? War schön, euch gekannt zu haben...") bei einem Autounfall getötet, und jetzt sind wir hier, poltern staubaufwirbelnd über Semi-Feldweg und fahren dann auf den Parkplatz, dieses riesige Feld im Nirgendwo.
Und da sind wir, stoßen an mit warm gewordenem Dosenbier, klopfen uns auf die Schultern und dösen dann in der Sonne, weil wir erst später Tickets gegen Bändchen tauschen können.
Und es ist so surreal, dass das meine neuen Freunde sind, mit denen ich hier gerade bin, querliegend im Fahrerraum, mein Kopf am Bauch des Fremden angelehnt, Füße aus dem Fenster hängend, und dass wir es geschafft haben, Ms Golightly gegen den Willen ihrer Eltern mitzunehmen...überhaupt, dass wir es geschafft haben.
Stellen später fest, dass der Fremde das Innenzelt daheim vergessen hat, liegen eine Weile auf dem Außenzelt in der Sonne, ich mit dem Kopf auf seiner Brust und seinem Arm um mich gelegt, Ms Golightly mit dem Fastfreund telefonierend, und die Welt ist ein guter Ort.
Später Reden mit den Zeltnachbarinnen, noch später ein geborgtes Zelt, und nachts traue ich mich, an der Schulter des Fremden zu schlafen.
Alles wird gut. Früher oder später wird alles gut, auch, wenn man dafür kämpfen muss.
Das ist es wert.

Freitag - Run away, try to find that safe place you can hide
Die Zeltnachbarinnen hellauf begeistert vom Fremden, ein paar andere Zeltnachbarinnen auch, Feststellung des Tages: Ja, ich bin eifersüchtig. Hauptsächlich verunsichert, aber auch eifersüchtig, wie die Hauptdarstellerinnen der Fotoromane in diversen Teeniezeitschriften.
Versuche, mich zusammen zu reißen, ende dann aber doch mit dem Kopf auf den Knien und flennend vorm Mittagessen, denn es sind heute fünf Jahre, und das ist in dem Moment wichtiger als Dosenspaghetti und potenzielle Konkurrenz.
Überlastete Ms Golightly, die mich umarmt, obwohl ich das gerade eigentlich gar nicht will, und vor lauter Mitgefühl weint sie schlimmer als ich, während der Fremde stoisch unser Mittagessen weiterrührt.
Fünfjähriges.
Fünf Jahre ist es her, seit zwei Jahren fängt es an, weh zu tun und gerade ist "verloren" gar kein Ausdruck mehr dafür, wie ich mich fühle.
Und es tut mir so Leid, Ms Golightly und den Fremden damit zu belasten, aber sie sagen, wenn ich mich noch einmal entschuldige, sperren sie mich in ein Dixieklo und schubsen es um, also lasse ich es und warte darauf, dass der größte Schmerz vorbei geht.
Es folgen diverse Indiebands, die eigentlich niemand hören will, zusammensitzen mit den Zeltnachbarinnen, die eigentlich niemand sehen will, und dann ist es schon abend und ich laufe bekampfstiefelt neben dem Fremden zu der Band, wegen der er eigentlich da ist, werde, während wir eigentlich noch warten und mit Freunden reden, von ihm weiter- und vor die Bühne gezogen, und dann spielen sie auch schon und befinde mich mitten im Moshpit, schlage mich an der Hand des Fremden durch und werde als die mutmaßlich einzige Frau in unserer lustigen Massenschlägerei wahlweise irritiert oder bewundernd angestarrt.
Ein paar Mal werden wir umgeworfen, aber immer wieder aufgehoben, und immer, wenn es wieder losgeht, nimmt der Fremde meine Hand, damit wir uns nicht verlieren, bis ich beschließe, mich bei einer drohenden Wall of Death aus dem direkten Radius zu verziehen und unterwegs noch einen Asiaten aufhebe, der umgeworfen wurde und sich die Nase hält.
"Alles ok?", schreie ich ihm ins Ohr.
-"Ja, alles klar. Der Kerl da und du, ihr seid übrigens so ziemlich das Süßeste, was ich bis jetzt auf einem Metalkonzert gesehen habe. Ist das dein Freund?"
"Nee, aber ich arbeite dran." Wieso habe ich das jetzt eigentlich gesagt?
Der Asiate grinst mich freundlich an. "Finde ich gut, ehrlich. Ich wünsch dir viel Glück, das wird schon!"
Und weg ist er, so, wie auch der Fremde, nur dass der immer wieder zurückkommt, um sicher zu gehen, dass ich noch da bin.
Als wir zum Zeltplatz zurückwanken, hat er aufgeschürfte Knie und Ellbogen, meine Hand blutet, jeder einzelne Knochen tut weh, thanks to linkskonvexe Wirbelsäule habe ich das Gefühl, nie wieder aufrecht gehen zu können und wir könnten nicht zufriedener sein.
Unterwegs nehmen wir noch Asianudeln mit, schmettern ein paar schlechte Anmachsprüche ab, die mir betrunkene und vermutlich verzweifelte Studenten entgegenwerfen, und als wir an diesem Abend schlafen gehen, hält mich der Fremde fest und streichelt mir etwas und unkoordiniert über den Arm, bis wir eingeschlafen sind.

Samstag- Wir machens uns auch einfach nicht leicht
Es ist nicht besser geworden, sondern schlimmer, aber ich will die anderen beiden nicht schon wieder runterziehen, also behalte ich es für mich und hebe mir meinen Gefühlszusammenbruch für Frittenbude auf. Die ganze Zeit kann ich ihn zurückhalten; als der Fremde mit der Ghettoschwester telefoniert, als wir auf einmal bei zu vielen unbekannten Zeltnachbarn sitzen, und auch, als er anmerkt, dass eine der unbekannten Zeltnachbarinnen "echt süß" ist, behalte ich die Fassung, danke dem Schicksal dafür, dass ich die stabilen Nerven bekommen habe, die mein Vater nicht mehr hat, und konzentriere mich darauf, einfach weiter zu atmen.
Einfach weiteratmen, auch, wenn die Welt untergeht.
Alles wird gut, irgendwann..
Als wir zu Frittenbude hetzen, schreibt der Fremde nonstop sms an die Zeltnachbarin, die auch hinwollte, schafft es aber anscheinend nicht, ihr klarzumachen, wo wir auf sie warten, und somit gehen wir ohne sie, denn er hat versprochen, mich zu begleiten.
Er gibt auch nicht auf, als er fast keines der gespielten Lieder kennt, feststellen muss, dass das eigentlich alles viel zu elektronisch für seinen Geschmack ist und headbangen irgendwie nicht so gut klappt, und bei der Wall of Love, die viel zu weit weg von uns ist, nehmen wir uns in die Arme, drehen uns einmal um 360Grad und er schüttet mir dabei den halben Tetrapackwein über den Rücken, sodass das Erreichen des nächsthöheren Promillelevels (Es wäre dann "so betrunken wie nie zuvor gesehen" gewesen) unmöglich scheint, zumindest solange wir noch hier sind und ich meine emotionale Kaputtheit nonverbal rausschreie.
Wir reden nicht auf dem Rückweg, und auch nicht, als wir noch bei den Zeltnachbarinnen sitzen, die ihn systematisch abfüllen, sodass er irgendwann anfängt, noch schlechtere Witze zu machen und die zwei Brüder, die ebenfalls zur Gruppe der Zeltnachbarinnen gehören, zu beleidigen.
Es könnte leicht sein, doch es wird immer mehr..
Einfach weiteratmen.
Ich lehne sowohl den mir angebotenen Joint als auch eine bunte Pille zweifelhafter Herkunft ab und versuche, gleichzeitig mit den fremden Menschen, den fünf Jahren und dem schlimmsten Herzschmerz seit Langem fertig zu werden.
Klappt nur ansatzweise, und an diesem Abend schlafen der Fremde und ich mit den Rücken zueinander und ohne uns Gute Nacht zu sagen.

Sonntag-You don't want to hurt me, but see how deep the bullet lies
Vermutlich ist mein Herz angeknackster, als ich vermutet habe, denke ich mir so, während Placebo übertrieben perfekt-geplant ihre Show spielen und die Zeltnachbarinnen pseudomotiviert tanzen. Sehe zum Fremden, der neben mir steht und wortlos auf die Bühne starrt.
Vielleicht ist auch er angeknackster, als man im ersten Moment vermutet.
Vom anschließenden Zusammensitzen mit den Anderen fliehe ich relativ schnell, werde vom Zeltnachbarn aufgehalten und er macht den Fehler, zu fragen, was los ist.
Also sage ich ihm, was los ist. Nicht alles, nur die Fakten. Wie es ist.
Als ich fertig bin, wünscht er mir Beleid wegen meiner Mutter, alles Gute für/wegen dem Fremden, sagt, dass der ein Idiot ist, wenn er sich so verhält, und ich eigentlich "was besseres" verdient hätte, empfiehlt mir, mich an den Raucher zu halten und jammert mich anschließend eineinhalb Stunden wegen seiner hochdramatischen Beziehung zu seiner Noch-Freundin voll, sodass der Fremde bereits im Zelt liegt, als ich es endlich bis dorthin geschafft habe.
Ich gehe davon aus, dass er schläft, als ich mich nach dem Zähneputzen möglichst leise auf meinen Schlafsack legen will, aber auf einmal ist sein Gesicht neben mir, und er fragt, was los ist.
"Du musst es mir nicht sagen, aber manchmal hilft es, wenn man über etwas redet. Falls du reden willst, bin ich da."
Also rede ich mit ihm. Und manchmal redet er auch, und wir reden zwar nicht darüber, dass er es ist, der mir wehtut, aber dafür über meine Mutter, nicht über alles, nur das grobe Gerüst, und ich sage ihm, woran sie gestorben ist, wie lange es vorher schon so war, wie es eben war, und dass das vermutlich eine Ursache für diverse Macken, die ich habe, ist. Und wir reden über Macken und Depressionen und deprimiert sein, zerfallende Familien und dass einen das mehr mitnimmt, als man im ersten Moment denkt, und bevor wir ruhig sind und der Fremde sich in seine normale Schlafposition mit dem Gesicht zur Zeltwand dreht, weil Ms Golightly, die gerade ins Zelt gekrochen ist und schlafen will, ihr Kissen nach uns geworfen hat, drückt er mich nochmal und flüstert dann ganz leise: "Du bist viel größer, als du denkst."

Montag/Dienstag- mindestens in 1000 Jahren..
Auf dem Heimweg verfahren, irgendwann doch in der Kleinstadt angekommen.
Beim Fremden Musik gehört, bis der Raucher vorbeikommt und uns mit zu sich nimmt, dort auf der Terasse gesessen, das restliche Festivalbier getrunken und den Hund geflauscht, später einen Film geschaut und irgendwann vom Fremden verabschiedet, weil der morgen arbeiten muss und deshalb vorgeschlagen hat, dass ich beim Raucher übernachte.
Der hat damit kein Problem, aber dafür anscheinend nach unserem Gespräch begriffen, dass ich ihn nicht ganz so toll finde wie er mich, und weil das augenscheinlich nichts macht, können wir normal miteinander reden und blöde Witze reißen, bis die Unterhaltung sich in Richtung des Fremden dreht und somit ernster wird.
Der Raucher macht sich Sorgen, weil das nicht gesund ist, sagt er; weder der Alkohol, noch die Ghettoschwester. Ich erfahre,dass es schonmal eine Ghettoschwester gab, seit der Fremde sein Pubertätsnachholbedürfnis auslebt, die, ein wenig wie die jetzige auch, den größten Wert der Sache darin sah, dass er Alkohol und Zigaretten besorgen konnte, und dass der Raucher schon mehrmals versucht hat, mit dem Fremden über die Ghettoschwester und sein Trinkverhalten zu reden.
"Aber ich brauch dem nix sagen, ich bin ja selbst genauso schlimm", meint er, "auch, wenn ichs nicht gut finde."
-"Dann änder es".
Und auf einmal erzählt er vom Zuvieltrinken und Traurigsein, von damals, als er seinen toten Großvater gefunden und ihn das völlig aus der Bahn geworfen hat, und noch ein wenig später halte ich ihn im Arm und er versucht, nicht zu weinen.
Was er auch schafft, obwohl ich ihm sage, dass er weinen soll, wenn ihm das hilft, und irgendwann geht es wieder ein bisschen und er schämt sich und entschuldigt sich so lange, bis es mir zu blöd wird und ich ihn kitzle, bis er keine Luft mehr bekommt und vor Lachen weint.
Gehen nach zwei Stunden freundschaftlicher Schlägerei/Kissenschlacht schlafen, er auf dem Sofa, ich in seinem Bett, und als wir am nächsten Tag den Fremden, der in seiner langen Mittagspause nach Hause gefahren ist, besuchen, schaut der undeutbar, als der Raucher und ich Witze über unseren "Kampf" machen, ist allgemein nicht gerade gesprächig, schreibt zwischendurch mit der Ghettoschwester und ein paar anderen Leuten und grummelt "Ihr habt mir ja auch nicht gesagt, was los ist", als Ms Golightly und ich, nachdem ich mit ihr in die Küche gegangen bin und einen Lagebericht abgeliefert habe, fragen, mit wem er die Nonstopsmsdiskussion führt.
Bevor er wieder zur Arbeit muss, räumen der Fremde und ich noch den Festivalkram in die Spülmaschine, dann schleifen der Raucher und ich den Müllsack mit den leeren Pfandosen zu seinem Auto, während der Fremde sich wieder in Hemd und lange Hose wirft, seine Aktentasche zu seinem Auto bringt und schon losfahren will, bevor wir uns richtig verabschiedet haben.
"So nicht, Mäuschen", ruft der Raucher, der mit dem Fremden gelegentlich eine scrubs-inspirierte JD-Turk-Beziehung führt, umarmt ihn übertrieben innig und hebt ihn dabei ein Stück hoch.
Ich befinde somit, dass eine Abschiedsumarmung legitim ist, hänge ein "bis nächstes Wochenende" an und hole noch schnell meine Chucks (in Kampfstiefeln ist Fahrschulautofahren etwas gewöhungsbedürftig) aus dem Kofferraum, bevor der Fremde endgültig fährt.

Als ich nach Hause komme, habe ich knapp 20 Euro Dosenpfand im Geldbeutel, den Staub von vier Festivaltagen an den Stiefeln, mein Shampoo und Duschgel im Auto des Fremden vergessen, den schlimmsten Schlafentzug seit Langem, werde von der Katze ausgeschimpft dafür, dass ich so lange weg war und denke mir rückblickend, vielleicht hat der Fremde Recht, wenn er sagt, dass ich größer bin, als ich denke.
Und vielleicht bin ich groß genug, um das alles zu überstehen.