Samstag, 19. Dezember 2015
Thema: monolog
Inzwischen ist der Punkt erreicht, an dem ich mich selbst nicht mehr aushalte.

Gefühlt scheitere ich an der Uni, oder bin schon gescheitert, und selbst die Theaterproben werden langsam schwierig.
Was im Angesicht der nächsten Monat anstehenden Aufführung gar nicht mal so günstig ist.
Das einzige Problem auf der Bühne ist, ironischerweise, einen flennenden Abgang hinzulegen.


Auch das Weinen außerhalb des Probenraums wird seltener; positive, oder überhaupt richtige Emotionen nehmen wieder schrittweise ab.
Das Einzige, was ich garantiert und ganz sicher spüre, ist das stetige dumpfe Brennen, Pochen, Reißen und Stechen der innerlichen Entzündung, die immer weitere Kreise zieht und die so schwierig zu beschreiben ist, wenn ich in der Therapie gefragt werde, wie es sich anfühlt und was ich fühle.

Immerhin, noch fühle ich.
Dass der Malstrom wieder da ist beispielsweise. Der, von dem ich schon vor ein paar Jahren geschrieben habe, auch hier.
Das fühle ich den ganzen Tag und die ganze Woche.
Nur manchmal, da spürt man es weniger. Dann bin ich neutral.
Wenn ich mit ein paar Leuten zusammensitze, obwohl ich, nachdem in die Uni gehen wieder nicht geklappt hat, eigentlich gar keine Lust hatte, das Haus, oder meinen Dachbunker, zu verlassen, trotzdem noch in die Stammkneipe gekommen bin und mir eine Dosis anderes Leben verpasse, zum Beispiel.
Aber es wird weniger.

Trotzdem, es heißt doch, man solle sich über die kleinen Dinge freuen.

Vor meiner Tür und im restlichen Haus tobt gerade mal wieder eine Abfuckhippieparty, auf der ein paar Versagergestalten sich darüber freuen, dass sie mal wieder anderen Leuten beweisen können, wie unangepasst, alternativ und überlocker sie sind, während sie abwechselnd ach-so-trippy Youtubemusik, nervtötenden Reggae und Seed abfeiern.
Einer, der sich besonders tiefgründig vorkommt, ist irgendwie auf den Dachvorsprung vor meinem Fenster geklettert, um dort abwechselnd seinen Blick in den (nicht zu sehenden) Sternen und seine Zunge im Hals der Sozialpädagogin neben sich zu versenken.

Irgendwie führt das zu einem neutralen Moment.
Vielleicht funktioniert gerade nichts und mein Innenleben verpasst mir bald eine Sepsis, aber wenigstens muss ich am Wochenende nicht so tun, als hätte ich ein anderes, total lockeres Über-Leben, weil die dazugehörige restliche Existenz sonst nichtmal mittelmäßig, eingeschlafen und letztlich gescheitert ist.
Für einen kurzen Moment habe ich mich gefragt, ob meine Variante, das Verbarrikadieren in meinem Zimmer mit einer von unten geklauten Tasse Glühwein, ein paar Dominosteinen und Urfaust, während Kater Mayhem das Geschehen unten mit der Art von Menschenhass und Abfälligkeit im Blick, die nur eine von mir großgezogene Katze haben kann und für die ich ihn so sehr liebe, beobachtet, im Vergleich so das Wahre ist, aber das beruhigende Gefühl, "besser" zu sein, macht sich, zusammen mit dem Bedürfnis, irgendeinen "Studenten feiern und werden abgeschlachtet"-Horrorfilm umzusetzen, in mir breit und daher gehe ich davon aus, dass es so ist.


Eine Nachricht vom Billardspieler, die verkündet, dass er nach seiner Rückkehr ins Auenland am Sonntag gerne etwas mit mir unternehmen würde, kombiniert mit der Nachfrage, ob der dezente Bluterguss, den ich habe, immer noch aussieht wie ein Porträt von Klaus Kinski, lässt mich lächeln, während man aus dem Wohnzimmer lautes Stampfen und von der Frau, die denkt, sie könne singen, ein eher semi-gut intoniertes "Du hast den Farbfilm vergessen" vermutlich bis ans Ende des Auenlands rummsen hört.

Die Party der gescheiterten Existenzen schwenkt auf "Sie ist weg" um und mein Glühwein neigt sich dem Ende zu.
Ich weiß immer noch nicht, wie es funktionieren soll, weiter zu machen, aber wenigstens, dass ich es nicht einfach lassen kann.
Nicht jetzt.

Und dass ich mir nicht noch einen Glühwein holen kann, Bedürfnis nach ungesundem Trinkverhalten hin oder her. (Unten Wechsel zu "Bon Voyage". Ich mache mir etwas Sorgen um Kater Mayhem, denke mir aber, dass der wohl hochkommen wird, wenn ihm danach ist).
Valdoxan ist von Haus aus schon nicht das Beste für die Leber und die Verpackungsbeilage legt einem nahe, dieses an sich doch recht wichtige Organ am besten gleich in die Tonne zu kloppen, wenn auch noch andere Medikamente (Jo!) und vor Allem Alkohol (passiert) dazu kommen.
Bisschen Verlust ist wohl immer.




Montag, 8. September 2014
Thema: monolog
Mit drei Stunden Verspätung (schließlich sind wir ja mit dem Postboten gefahren) auf dem Zeltplatz einmarschiert.
Die Flagge gehisst, das erste Bier aufgemacht.
Eine Runde gedreht und die paar Menschen begrüßt, die keinen zu schlimmen Brechreiz auslösen.
...Unter Menschen spüre ich in Insekten auf der Haut..
Später auch ein paar nettere Sichtungen. Der Raucher, der Friseur, der Rentiermann und Co.
Natürlich auch der Exilsachse; das Ignorier-und-Anstarr-Spiel beginnt wieder.

Dann tritt Mr.Gaunts Band auf, reißt mir dabei routinemäßig mein kleines Herz raus, legt einen Brand in der leeren Höhle und liefert nebenbei ein absolut episches Konzert ab.
Gewöhnt man sich dran.
Auch daran, Mr.Gaunt mit neuer Freundin zu sehen, die gar nicht mehr so neu ist.
An den Fluchtreflex.
Daran, ihm nicht mehr in die Augen sehen zu können, weil sonst das fragile Gerüst, das gerade mein emotionales Innenleben darstellt, in sich zusammenfällt und tonnenschwer auf mich herab stürzt.
Unsere Ignoranz ist kein Spiel, sondern absolute Gleichgültigkeit auf der einen, und der stockende Versuch eines Heilungsprozesses auf der meinen Seite.
Unter Menschen stelle ich mich lieber mal ins Abseits, bevor ich alles abfackel und mit euch verbrenn..

Gegen Abend beschließe ich, dass mich der Exilsachse vorerst genug möglichst auffällig nicht beachtet hat (und umgedreht) und begrüße ihn. Es folgen ein paar Versuche seinerseits, mich verbal aus der Reserve zu locken, auf die ich so gekonnt reagiere, dass ich mir selbst ganz unheimlich bin und mich fast ein bisschen freue.

Die Freude vergeht mir, als er nach der letzten Band mit seiner Gelegenheitsaffäre (sie will eigentlich eine Beziehung und fühlt sich ausgenutzt; er sagt, sie soll ihn nicht stressen), der Frau mit dem Pferdegebiss, die Zweisamkeit seines Zeltes meiner Gesellschaft vorzieht.
Auch Tante Emma hat irgendwie besseres zu tun (vor Allem mit dem Rentiermann), als mir seelische und moralische Unterstützung zu leisten, und Ms Golightly ist seit heute Nachmittag verschollen.
Also parke ich meinen Klappstuhl vor unserem auf einmal so geräumigen Zelt, stelle meine Stiefel daneben ab, und mache es mir zwischen Tante Emmas Gepäck, das für eine italienische Großfamilie reichen würde, und Ms Golightlys Plüschtieren bequem.
Alleine.
Bitte ein mitleidiges "Oooooooh" an dieser Stelle.

Am letzten Abend habe ich die Fielmannfrau gefunden, die wieder aufgetauchte Angst/Aggression/Ekel vor/gegen fremde/betrunkene Menschen nach ein paar Versuchen halbwegs nieder gerungen, höre meine Nackenmuskulatur weinen und bin erneut zu der Erkenntnis gekommen, dass Mr.Gaunt die Art des Lebens ist, das, was ich dem Raucher emotional angetan habe, wieder auszugleichen.
Außerdem habe ich vom Grinsebuddha genug "Band Member"-Getränkebons bekommen, um außer der Fielmannfrau (und natürlich den Menschen auf der Bühne) nur noch das Barpersonal anschauen zu müssen.
Die Versuche des Exilsachsen, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ignoriere ich mit gelassener Gleichgültigkeit; erst, als ich nach einer Kippenpause wieder vor die Bühne gehe und er gerade von dort kommt, treffen sich unsere Blicke, genau die halbe Sekunde lang, die er braucht, um an mir vorbeizulaufen.
Mit der Frau mit dem Pferdegebiss.

"Heeeeey mayhem, lässt dich auch mal bei uns im Camp Deluxe blicken?"
-"Sorry Friseur, ich hol nur meinen Klappstuhl." Eigentlich wollte ich auch einen Brandsatz auf das Zelt des Exilsachsens werfen, aber das wäre mehr Emotionalität, als er verdient hat.
"Och maaaaan".

Vor meinem eigentlichen Zelt sitzen Ms Golightly, Tante Emma, der Fremde und eine Freundin von ihm, die Bikerin. Einfach so, sind sie alle wieder da.
Man hat sogar eine Lücke für meinen Klappstuhl gelassen, und zur Begrüßung drückt mir die Bikerin wortlos eine Zigarette und unsere Packung Gummibärchen in die Hand.
Manches braucht keine Worte.
Dann sagt sie, wenn der Fremde, der so geistesgegenwärtig war, seine Gitarre mitzubringen, und ich nicht sofort für sie Snuff, Trough Glass und rein aus Prinzip irgendwas von Pink covern, skalpiert sie mich mit bloßen Händen und verspeist mein Gehirn.


"Schön haste gesungen", findet die Bikerin, als ich sie am nächsten Morgen mit der Fielmannfrau zum Toilettenwagen eskortiere.
-"Wenn du das sagst."
Weil ich mich hinter meiner Sonnenbrille verstecke, sieht der Exilsachse nicht, ob die Tatsache, dass er dort steht und die Pferdegebissfrau im Arm hält, meine Gleichgültigkeit auch nur ansatzweise berühren kann.
Er sieht auch nicht, dass meine Zigarette erst halb aufgeraucht war, als ich sie gerade weggeworfen habe, um so schnell wie möglich in den Toilettenwagen flüchten zu können.
Aber ich sehe, dass seine Gleichgültigkeit durch mein Auftauchen zumindest kurz ins Schwanken gerät.
Dass er den Arm weg zieht, mich ansieht, und sofort weg schaut.
Die Sprüche, die er in Richtung Fielmannfrau wirft, wirken fast so hölzern wie die, die sie sich zur vermeintlichen Tarnung meiner Unsicherheit von mir anhören muss, als wir wieder raus gehen und er immer noch da steht.
Als die Bikerin mit einem absolut befriedigten "Boah Leute, ich musste sowas von kacken!" den Toilettenwagen verlässt, können wir endlich gehen, nachdem ich den Exilsachsen aus Versehen angeschaut, dabei aber keine Miene verzogen und absolute Immunität gegen seinen Huskyblick bewiesen habe.
Kopf hoch, Kippe an, und weiter gehts.

Ich verabschiede mich nicht (weshalb sollte ich?) ; erst, als der Friseur mir etwas später schreibt, erzähle ich irgendwas von alkoholbedingtem Totalausfall und entschuldige mich, einfach gegangen zu sein, ohne ihm, dem Rentiermann, und Bauarbeiterbob Tschüss gesagt zu haben.

Ich weiß nicht, ob ich Lust auf Spielchen habe.
Die Glasglocke um mich scheint so viel möglich werden zu lassen, aber es bin immer noch ich, die darunter sitzt.
Und so, wie es aussieht, wäre Zuneigung in egal welcher Form gerade das Beschissenste, was ich im Hinblick auf den Exilsachsen ausbrüten könnte.
Ich bin zu alt zu kaputt für so eine Scheiße.




Sonntag, 15. Juni 2014
Thema: monolog
Am Freitag kann Tante Emma noch gar nicht glauben, dass sie auf einem Festival ist.
Mit mir.
Überhaupt, wir hier.
Draußen. In der anderen Welt.
Wir kletten uns zwischendurch immer mal an den stockbesoffenen Fremden oder den Mischpultmann, gelegentlich sorge ich zusammen mit ein paar Sachsen schonmal dafür, dass ich am nächsten Tag mit einem Monsterdread auf dem Kopf und fiesem Nackenmuskelkater aufwachen werde, was aufgrund der Tatsache, dass wir es rein aus Protest zu schlechtem Girliepop tun, sämtliche Kamerablitze in unsere Richtung lenkt. Egal.
Ein bisschen wirken wir auf mich wie Laborhunde, die gerade freigelassen worden sind.

Zu den Sachsen gehört auch ein Exilsachse, der inzwischen hier wohnt und immer seinen Tabak bei mir gekauft, mich dabei sehr sympathisch angelächelt und meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.
Klassischer Dummschmarrer, wie ich es nunmal bin, wenn ich gerade nicht in meinem Angstzustand festhänge, bekommt der Exilsachse eine freundlich-lockere Begrüßung sowie meinen Namen entgegengeworfen. Wenn wir eh schon alle bei seiner Autogruppe (die auch die des Mischpultmanns und Co. ist) hier rumstehen.
Dachte ich mir.
Der Exilsachse sieht mich ausdruckslos an, zieht eine Braue hoch, dreht sich um und stiefelt zum Auto seines Kumpels.
"Wunder dich nicht, der is selbsterklärter Master of Coolness." Der Raucher. Und er spricht mit mir!
-"Ah, ok. Naja, ich bin ja auch nicht evil Black Metal, wie ihr das alle seid."
"Moooment, ich denke, du bist die Fürstin der Finsternis, Miss Mayhem, der Tod und überhaupt? "
"Den Posten hatte ich eigentlich an den Nagel gehängt", seufze ich, "aber man hat ja sowieso nie seine Ruhe. Geht ja alles vor die Hunde, wenn ich nicht da bin."

Nachdem zwei von drei aus dem Nichts aufgetauchten, vollkommen betrunkenen Schwedinnen sich mehr oder weniger auf Tante Emma und mich stürzen wollten und die eh schlafen gehen will (und das schon um 4.30Uhr morgens!), endet der Abend grübelnd, etwas frierend und dezent verwirrt (der blöde Exilsachse! Und wieso spricht der Raucher normal mit mir? Und was mache ich eigentlich mit der ganzen anderen Scheiße?) in meiner Zeltecke.
Ohne Schwedin. Die eine hat mir gleich zur Begrüßung wahllos ihre Hände auf die Brüste geflatscht und wollte gar nicht mehr loslassen vor Begeisterung; der Alkoholpegel der anderen hat dafür gesorgt, dass ich mir wie ein frauenausnutzender Highschool-Creep vorgekommen wäre, wäre ich auf ihr schwankendes Lallen eingegangen.

Am Samstag kann ich nicht glauben, dass ich tatsächlich mit dem Raucher auf einem Festival bin.
Der Fremde ist zwischendurch heimgefahren, hat mich zum Katzefüttern und -bespaßen abgesetzt, ein paar Stunden später sitze ich zwischen dem Mischpultmann und dem Raucher, der keine frischen Narben hat, nicht kifft, gar nicht so homophob und rassistisch klingt und schon bei "betrunken" von Bier zu Cola übergeht.
Man hört sich ein paar Bands an, ich schnorre mich in Sachen Flüssignahrung und Zigaretten so effektiv bei sämtlichen vorbeilaufenden Menschen durch, dass der Raucher und ich überlegen, eine Firma damit aufzuziehen, und als die anderen vor der Bühne und Tante Emma und ihre neue Bekanntschaft an der Bar sind, kommt die Frage, vor der ich mich die ganze Zeit gefürchtet habe:
"Wie gehts dir eigentlich so?"
Leider Gottes auch noch ernst gemeint.
Und wir machen Mackenabgleich, die ganze Scheiße, die in letzter Zeit bei mir gelaufen ist und die, die ihn überrollt hat, als ich weg war.
"Ich wollte nur, dass du glücklich bist."
-"Ich auch.
Deshalb hab ich Schluss gemacht. Mir ist das über den Kopf gewachsen."
"Mir ja auch."
-"Im Endeffekt hätten wir uns wahrscheinlich beide weggehängt."
"Glaub ich auch. Kippe?"
-"Immer her damit."

Sein Hund lebt immer noch, Methusalem ist nichts dagegen. Und in seinem Kleiderschrank liegt immer noch einer meiner Leitpfosten.
Erzählt er so, während irgendeine schlechte Hardcoreband lieblos Töne auf die Bühne rotzt.
Was alles gleich geblieben ist.
Dabei ist so viel passiert.

Dann erkläre ich es ihm. Was damals eigentlich alles los war, in meinem wirren Hirn und meinem verwirrten kleinen Herz, und wieso ich so war, wie ich war.
Und er tut nicht nur so, sondern versteht es sogar wirklich. Und sieht ausnahmsweise mal so aus, als würde er klarkommen.
Mit sich, und der Welt, mit mir, und überhaupt mit Allem.
Und dann sagt er, eigentlich wars trotzdem schön.
Dass das kein Versuch sein soll, es wiederzubeleben, aber ich als Mensch gefehlt habe.
Aus irgendeiner Ecke in mir kommt Zustimmung, zusammen mit der Angst, dass er es doch anders meint, oder ich es anders meine, oder Mist baue, aber als er mich am nächsten Tag heimfährt, wie früher immer, noch kurz die Katze flauscht und sich dann verabschiedet, weiß ich, dass es nicht so ist.

Und aus irgendeiner Ecke kommt ein Hinweis, eigentlich klingt er mehr wie eine Tatsache, dass das ausnahmsweise kein Mist war. Und er mir nicht wieder was vorspielt. Und ich nicht wieder scheiße baue.
Dass er wieder der ist, der er mal war, nur anders, und dass das gerade ganz gut tut.
Er mir, ich ihm, wie auch immer.
Man sieht sich immer zweimal im Leben.
Und manchmal ist das ganz gut so.




Freitag, 3. Januar 2014
Thema: monolog
Seit Silvester habe ich mich wieder.

Habe die Beinahe-Lehrerin tot und wieder lebendig geredet,
mit der Löwin und ein paar anderen Leuten irgendein total krankes, aber dadurch auch ziemlich lustiges Kartenspiel gespielt und durch meine Weigerung, daraus ein Trinkspiel zu machen, ein paar anderen den Mut gegeben, es ebenfalls zu lassen.
Und es war ok und ich deswegen sogar irgendwie cool.

Habe mich aufgeregt, als Mr. Gaunt mich nicht nur auf dem (stockfinsteren, mir völlig unbekannten) Weg Richtung Burgruine, sondern auch generell irgendwie alleine gelassen hat, aber mir gedacht, Scheiß drauf, festgestellt, dass ich zur Abwechslung mal klarkomme, und mich an den Postboten und die Beinahe-Lehrerin geklettet.
Die ebenfalls einen massiven Schlag, und davon abgesehen mich irgendwie in ihr Herz geschlossen hat.
So waren es auch sie und ihr Freund, die mich um 24 Uhr umarmten und mir ein frohes Neues wünschten, während Mr.Gaunt mit der Löwin und ein paar anderen Mitfeiernden Raketen auf uns abschoss, von denen mich zwei fast erwischt hätten.
Später ein kurzer Kuss und eine Umarmung.
Und einer dieser Blicke, die alles heißen können, oder auch nichts, aber die sagen, das ist es irgendwie wert.

Habe später erfahren, dass er früher Stripper war. Vielleicht auch mehr.
"Mein Ausbildungsgehalt hat halt nicht gereicht. Mein Vater war arbeitslos. Also nach der Arbeit duschen, da hin, wieder duschen, schlafen, Arbeit.
Vier- bis fünfhundert an einem Abend, ist ziemlich gut. Und ich kann mit relativer Sicherheit sagen, dass die Meisten, egal, was sie wollten oder gemacht haben, inzwischen schon ein paar Jahre tot sind."
Und auf einmal ergibt so vieles Sinn.
"Alle wollt ihr immer nur meinen Körper!" Standardausruf von ihm. Immer möglichst locker, aber immer mit gleichzeitigem Zurückweichen. Egal, ob es eine gespielte Anmache von einem Kumpel, oder nur ein sein Äußeres betreffendes Kompliment war.
Sofortiges Umschalten bei "Live Strip"-Werbung, ähnlichen Szenen in Filmen, oder wenn dort jemand zu sexuellen Dingen gezwungen wird.
Wenn er sich festklammert an mir, und für eine Sekunde alles andere aufhört, zu existieren.Und er mich die Wochen darauf nicht mehr an sich heranlässt. Zumindest nicht auf diese Art und Weise.

Und mir trotzdem immer näher kommt. Und ich das zulassen kann.

Und zwischen den ganzen anderen betrunkenen Feiermenschen, auf dieser komischen Silvester-Grillparty, bin ich einen weiteren Millimeter näher zu ihm gekommen.
Ich wollte ihm irgendwas sagen, und mich für manches im Nachhinein entschuldigen, aber alles war so laut und grell und am Feiern. Also blieb es dabei. Ich habe mich weiter mit der Beinahe-Lehrerin unterhalten, er sich mit dem Mafiapaten, einem alten Freund von ihm, der spontan aufgetaucht war, sämtliche Geisteswissenschaftler oder solche, die es werden wollen (Die Beinahe-Lehrerin, die Löwin und mich) mit auf Stammtischdiskussionsniveau angesiedelten Argumenten als völlig blöd und später sowieso langzeitarbeitslos abgestempelt hatte, und Mr. Gaunt um Hilfe bei einem "Projekt", das "mit genug Startkapital ein voller Erfolg werden wird" bat.
Und um seelische und moralische Unterstützung, er habe da ein Problem mit ein paar Leuten und bräuchte somit wiederum ein paar Personen, die hinter ihm stehen und möglichst böse wirken würden.
Und während bei mir sämtliche Intuitions-Alarmglocken nicht nur läuteten, sondern ohrenbetäubend laut schepperten, tat der Mensch an meiner Seite das, was er immer tut, wenn jemand auf der Matte steht, den er zuvor als Freund eingestuft hat: Er fragte nicht weiter nach, sicherte seine personelle und finanzielle Hilfe zu, und erklärte freimütig, er würde dem Mafiapaten ohne zu Zögern sein Leben anvertrauen.
"Der ist wie mein großer Bruder, der hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Der Mafiapate ist für mich wichtiger als meine Mutter, oder mein Bruder, oder mein Vater."
-" Ich weiß. Und dass ich mich da nicht einmischen brauch. Ich will auch gar nicht wissen, bei was er da so dringend deine Hilfe braucht. Aber ich möchte, dass du vorsichtig bist.
Dass du jetzt denkst, ich bin paranoid und doof, und er würde dich niemals hintergehen oder dir schaden wollen, ist mir klar. Aber so haben schon genug andere Leute gedacht, und sind auf die Fresse gefallen. Bitte sei einfach nur vorsichtig.Ich hab da ein massiv ungutes Gefühl, und das sag ich nicht, weil er vorhin erklärt hat, ich solle doch einfach BWL studieren und wenigstens nen Arbeitsplatz kriegen."

Von der "Was richtiges"-vs.-Geisteswissenschaften-Diskussion schwenken wir wieder aufs Thema Studium, brechen ab, als der Mafiapate wieder irgendwas will, ich weine fast, weil der Raucher, dank einer mehr als unsensiblen Bemerkung der Löwin zu den Narben an seinem Oberarm und der an seinem Hals, fast weint, und er mir so leid tut, irgendwann geht er und dann auch wir, das Thema landet wieder beim Mafiapaten und wieder bei meinem geplanten Studium.
"Bist du ganz sicher, dass du in die Stadt hinter den sieben Bergen willst?"
-"Sicher bin ich mir doch nie bei irgendwas. " Außer bei meinen Gefühlen für dich, aber das traue ich mich nicht, zu sagen, und eigentlich weißt du es auch so. "Aber ich kann da studieren, was ich vorhabe und mutmaßlich will, und es ist nicht gerade die schlechteste Uni dafür. Falls ich jetzt nicht genug auf die Seite legen kann, muss ich halt vorher ne Ausbildung machen.
Warum fragst du?"
-"Wollts halt wissen."

Am nächsten Tag sitzen wir beim Stammasiaten und ich bin gerade mit einem weiteren (erfolglosen) Versuch, mit Stäbchen umzugehen, beschäftigt, als er es sagt.
"Du, mayhem?"
-"hm? Boah, die scheiß Stäbchen! Mir egal, ob ich die einzige bin, die Sushi mit Messer und Gabel isst!"
"Ich wollte mir ja diesen, oder nächsten Monat ne Wohnung suchen. Da hätte ich mal gefragt, wies mit Katzen und so aussieht."
Ok, mein Kampf mit dem Sushi ist jetzt uninteressant.
"Ich hab zwar gesagt, ich will nix WG-mäßiges mehr, sondern alleine wohnen, aber ich hab überlegt, wenn du bei mir wohnen würdest, könntest du ja von dort aus zur Uni fahren. Mit dem Auto halt, das dauert zwar, aber ist schneller als mit dem Zug. Miete würde ja dann ich zahlen, dann haut das auch mit den Spritkosten hin. Kommt dir billiger als ne Wohnung da, und du bekommst ja dann auch wieder Waisenrente und Kindergeld. Vielleicht kannst du ja auch nen Minijob machen, oder so."
Während ich ihn mindestens zwanzig Sekunden geschockt anstarre, muss mich der Kellner, der ebenso lange auf eine Beantwortung der Frage "Möchten Sie noch etwas trinken?" wartet, für total bekloppt halten.
"Äh, ja, ein stilles Wasser.
Aber jetzt mal ehrlich, du kannst nicht einfach die Miete und alles für mich-"
-"Doch, das geht schon. Miete, Strom und so hab ich eh, das werden die Katze und du nicht so dramatisch schlimmer machen. Wenn ich alles einrechne, auch Lebensmittel und meine Fahrtkosten zur Arbeit, hab ich noch 600 pro Monat übrig. Reicht eindeutig."
"Das ist dein Ernst?"
-"Bleibt mir ja nix anderes übrig, oder?" Sagt er so und lacht. Einfach so.
"Wenn ich in die Kleinstadt ziehen würde, könnte ich meinen Job bei der Tanke behalten. Mein Vertrag geht bis 01.01.2015, wenn sie mich nicht früher rausschmeißen, wie die bei meinem Praktikum. Falls ich die 20h/Woche schaffe, wärens 640 pro Monat. Wenn ich auf Minijob runter gehe, 450, plus Kindergeld und Waisenrente. "
-"Siehst du, damit wären deine Spritkosten mehr als gedeckt."
"Ich geb was zur Miete dazu. Also, wenn wir das so machen würden."
-"Ja, wie gesagt, ich hätte halt mal gefragt, wie das mit Katze und so aussieht. Ich kenn ja den Sohn vom Master of Immobilien, da geht das schon."

Es folgen noch ein erfolgloser Stäbchenversuch, ein Anruf des Tankstellenchefs mit meinen Arbeitszeiten für diese Woche, und der Kellner mit Rechnung und Glückskeksen.
"Alle sind verrückt nach Ihnen", liest Mr.Gaunt seinen vor. "Is ja nix neues. Was spricht deiner?"
-"Sie werden dieses Jahr große Schwierigkeiten überwinden. Heißt das jetzt, alles wird gut, oder es passiert noch mehr Scheiße, die dann aber vorbei geht?"
"Alles wird gut."
-"Wär ja mal ganz nett."
"Fänd ich auch. In dem halben Jahr mit dir bin ich mindestens 10 Jahre älter geworden."
-"Also sind wir jetzt bei 20 Jahren Altersunterschied, Opa?"
"Jo, Grandma."
-"Ich bin noch zu nah an der Minderjährigkeit, um Grandma genannt zu werden."
"Ich bin nicht die mit dem kaputten Rücken, den Gelenkschmerzen bei Wetterumschwüngen oder auch mal so, und der Migräne."
"Dafür kriegst du graue Haare, nen grauen Bart, und Falten."
-"Aber nur wegen dir!"
"Mach dir nix draus, ich find dich ja so oder so toll."

Alles wird gut.
Irgendwann wird alles gut.
Bis es soweit ist, finden Sie mich in meinen wirren Gedanken, beziehungsweise in zwölf Stunden zumindest körperlich hinter der Kasse der Tankstelle am Ende der Welt, mehr oder weniger freundlich lächelnd.

Seit Silvester habe ich mich wieder.
Schrittweise in den Tagen davor darauf hingearbeitet, und auf einmal war ich da.
Vielleicht auch ein bisschen mehr.
Ein bisschen Zukunft. Und vielleicht auch ein bisschen Vergangenheit, die wieder zu mir gekommen ist, oder zu der ich gekommen bin.
Zwischen endlosen Fehlschlägen und mehreren Momenten, in denen ich kurz vor "Das ist der Zeitpunkt für die Notfall-Tablette" stand.
Was ich jetzt mir mir mache?
Keine Ahnung.
Einfach weiteratmen. Und schauen, was passiert.
Alles wird gut.




Sonntag, 20. Oktober 2013
Thema: monolog
Nach gefühlten Ewigkeiten und Nonstop-unter-Strom-stehen (aber hey, ich hab nicht nur ein Praktikum, das wohl ganz gut wird, sondern auch einen Nebenjob, den ich schon nach einem Tag Probearbeiten abgrundtief hasse, auf den ich aber leider als Einnahmequelle angewiesen bin) mal wieder einen Tag mit/bei Mr.Gaunt verbracht, ohne, dass es in einem emotionalen Weltuntergang endete.
Und noch einen, weils grad so schön war.
Und noch einen, weil ich, nachdem wir die Küche geholt haben, sowieso wieder bei ihm war.
(Selbstverständlich wurde die Katze zwischendurch gefüttert, getränkt und, zugegebenermaßen etwas sporadisch, gekuschelt).

Richtig, ich habe eine Küche.
Normalerweise hätte ich mir sowas gesucht, wenn es denn dann soweit ist, aber für 45Euro Du-bist-Mr.Gaunts-Freundin-das-passt-schon-so-Sonderpreis die mir bekannte und von mir heimlich angeschmachtete Band-WG-Küche mit funktionierendem (und echt guten) Herd, intaktem und fast neuen Ceranfeld, Kühl- und Gefrierschrank, Spüle,Unterschrank und Arbeitsplatte sowie zwei Hängeschränken abzustauben, ist dann doch etwas, was man als "Glücksgriff" bezeichnen kann.
Da das gute Stück bis Ende dieser Woche aus der WG raus musste und ich eine Möglichkeit habe, sie bis zum Umzug Richtung Unistadt* zu lagern, war ich zu schnellem Handeln gezwungen (ich hassehassehasse Entscheidungen), aber passt schon.
Küche abgebaut, Küche mit Mr.Gaunt und Papa Mayhem verladen,fertig.
Von Papa Mayhem ein bisschen sinnlos anschreien lassen, Küche bei ihm abgestellt und nochmal anschreien lassen, weil ihm spontan eingefallen ist, dass er doch nicht helfen will, sie in ihr Zwischenlager zu bringen; bisschen drüber aufgeregt, aber passt schon.

Erwähnte ich schon, dass ich endlich mal wieder weltuntergangsfrei Zeit mit Mr.Gaunt verbracht habe?
Wahnsinn, wie gut das tun kann.
Ein bisschen tiefgründig geredet, ein bisschen seinem Vortrag über Verstärker und Bässe, die so viel kosten wie ein mittelmodernes gebrauchtes Auto, gelauscht; seine sehr ausführlichen Begründung, warum er genau so einen braucht, angehört und versucht, in Anbetracht der für mich utopischen Geldbeträge nicht allzu erschüttert zu wirken. Der spielt in einer Band mit Plattenvertrag und nächstes Jahr auf diversen nicht mal so unbekannten Festivals, der darf Instrumente anpeilen, deren Preise im vierstelligen Bereich liegen, und unter seinen vier bereits vorhandenen einen Lieblingsbass besitzen, der so viel gekostet hat, wie das Mayhemmobil.
Außerdem verkauft er seine Seele nach wie vor an eine der eher weniger netten Fabriken hier, weil er sich nicht traut, sich bei einer besseren zu bewerben, die aktuell Leute sucht, aber ihm, als er sich vor über einem Jahrzehnt für einen Ausbildungsplatz beworben hatte, eine Absage erteilt hatte.

Kurz vor Ladenschluss durch den Supermarkt gelaufen, Nahrungsbeschaffungsmaßnahmen durchführen. Total verpennt und wohl mehr oder weniger verwahrlost aussehend, aber das muss so. Opa Gaunt vorm Kühlregal getroffen, als die inzwischen nicht mehr ganz so neue Freundin vorgestellt worden. Reaktion überrascht, aber nicht unfreundlich. Eher neutral.
Ein Plüsch-Robbenbaby gesichtet, für toll und süüüüß und überhaupt ganz super und absolut besitzenswert befunden und nach einem Blick aufs Preisschild enttäuscht bis ansatzweise traurig zurückgelegt.
Ich mag Robben und Seehunde.
Ich mag Plüschtiere (man ist nie zu alt für Plüschtiere!).
Plüsch-Robben haben einen ganz großen Platz in meinem Herzen.
Aber nicht für 7,99 Euro.
Leider.

Auf der Terasse gesessen, die Nebelschwaden über der Kleinstadt beobachtet, die eigentlich ganz ok ist, und nachts sogar relativ schön.
In mich hineingehört und festgestellt, es ist alles gut.

Wieder reingegangen und nicht nur den inzwischen aus dem Proberaum zurückgekehrten Mr.Gaunt, sondern auch die Plüsch-Robbe auf dem Sofa vorgefunden.
Mal wieder geistig und emotional total überlastet gewesen. "Du kannst doch nicht einfach 7,99 für mich ausgeben!"
-"Doch."
Noch ein bisschen vor dem Fernseher gegammelt, ich hatte schon fast vergessen, wie laut und nervig Werbung sein kann.
Angekommen gefühlt.
Am nächsten Tag seiner Mutter wohl einen mittelschweren Schock verpasst, weil sie, zeitgleich anklopfend und den Kellerbunker betretend, mit meiner tendenziell eher unbekleideten Seitenansicht konfrontiert wurde.
Sehr schneller Rückzug ihrerseits, zum wiederholten Male die Ankündigung ihres Sohnes, den Bunker in Zukunft abschließen zu wollen.
Äußere, um ihn zu ärgern, ein "Würdste nich in deinem Alter wieder bei Mutti wohnen, hättste solche Probleme nicht!" und kann gerade noch schnell genug ausweichen, um nicht mit einem Arbeitspullover abgeworfen zu werden.
Blick auf die Uhr, doch schon so spät.
Schade.
Freies Wochenende gibts nur alle sechs Wochen.

Irgendwann dann doch mal auf den Heimweg gemacht. Vorbei an Mrs Gaunt, die sich nicht traut, mich anzuschauen, zum von diversen Dorfeingeborenen bereits misstrauisch beäugten Mayhemmobil.
Total verpennt, tendenziell wohl ein bisschen verwahrlost aussehend, mit Tasche, Duschtuch und einer Alditüte bepackt und einer 35cm-Plüschrobbe unterm Arm.

Alles wird gut.




-----------------------------------------
*Etwas anderes Studienfach, andere Stadt, nicht der Ursprungsplan, man kennt mich ja. Tendenziell wohl aber die bessere Entscheidung, bis jetzt zumindest. Weiß man ja vorher nie so genau.
Jedenfalls heißt es,mutmaßlich zum Sommersemester (Ja, Sommersemester. Auch nicht Plan A, aber weniger Ansturm und verbesserte Wohnungschancen sind ein Argument), sofern ich mir das nicht auch wieder anders überlege: Adios, Mayhemsdorf, Hallo Großstadt.




Donnerstag, 26. September 2013
Thema: monolog
Es ist die Angst, die dich so beherrscht..

So eine Abwärtsspirale bringt ganz neue Zukunftsperspektiven mit sich.
Und wer bestimmt, wo oben oder unten ist?
Es geht ja doch immer noch ein Stück weiter.
Tiefer.
In die Hölle. Äußerer Ring.
Noch weiter. Chefzentrale.
Und wieder zurück.
Mehrfach.
Jojo-Effekt.
Oder wie ein Flummi.
Mit voller Wucht gegen die Wand laufen, zurückprallen und gegen die nächste knallen, und das selbe Spiel nochmal, bis einer weint und noch viel weiter.

Eingesperrt auf weiter Flur.
Eingeklemmt zwischen Unmöglichkeiten und Grenzen, die vielleicht gar keine sind.
Denn wer bestimmt, was möglich ist?
Es ist die Angst, die dich so beherrscht.

Kontrollverlust bedeutet Freiheit.
Man könnte sie nutzen.
Aufstehen. Wenn es geht.
Ansonsten liegen bleiben, einfach weiteratmen. Versuchen, zu kriechen.
Austesten, was geht. Vorsichtig über die Reste der eigenen Grenzen steigen, um zu sehen, was dahinter liegt.
Man könnte es tun.
Der Leere ins Gesicht schauen.
Die Angst besiegen (?).

Versuchen, vom Fleck zu kommen.
Fluchtreflex, oder unbewusstes Pflichtgefühl.
Versuchen, zu kriechen.
Bis nichts mehr geht.
Alles versucht, alle Grenzen überschritten.
Der Leere ins Gesicht geschaut und ihr vor die Füße gespuckt, die Angst nieder gerungen und ins hinterste Verlies geworfen.
Darauf gewartet, dass alles gut wird.
Manchmal wurde es gut.
Dann darauf gewartet, dass es schlecht wird.
Die einzig verlässliche Komponente der Zukunftsplanung.
Dabei festgestellt, dass Katastrophen meist im Dutzend geliefert werden.

Bis nichts mehr geht.
Verloren auf weiter Flur.
Begraben unter Unmöglichkeiten, irgendwo im feindlichen Gebiet.
Und dann ist da die Angst.
Schwarz und zähflüssig wie Teer. Oder Moorschlamm.
Nimmt die Luft zum atmen.
Ersticken, weil die angstverklebten Atmungsorgane einfach nicht mehr weiteratmen können.
Tod durch Gefühlsvergiftung.
Es ist die Angst, die dich so beherrscht.

Einfach weiteratmen.
Was wäre, wenn es funktionieren würde?
Egal, was ist: Einfach weiteratmen.
Die Angst ignorieren.
Sie zurückdrängen, in ihre Ecke.
Sie wegsperren.
Sie entsorgen.
Sie ausradieren.

Die Angst lässt sich nicht entsorgen.
Oder wegsperren.
Oder ausradieren.
Die Angst ist immer da.
Sie lauert.
Hinter ihrer Kerkertür und in jedem Bus.
Am Bahnhof und auf öffentlichen Toiletten.
Auf Konzerten und in der Schlange vor der Supermarktkasse.
Sie ist überall.
Sie findet dich.
Egal, wo du sie ausgesetzt hast.
Sie lässt dich nicht entkommen.
Sie lässt sich nicht loswerden.
Es ist die Angst, die dich so beherrscht..

Verloren auf weiter Flur.
Eingesperrt durch Unmöglichkeiten, gefesselt durch Grenzen, die viel zu real sind.
Von der Angst beinahe um den Verstand gebracht.
Man könnte sie ansehen.
Ihr ein Gesicht geben, in das man schauen kann, ohne zu blinzeln und ohne weg zu sehen, solange man es eben aushält.
Austesten, was geht.
Sich weniger fesseln, weniger ersticken lassen.
Millimeterweise die Stabilität gewinnen, die es braucht, wenn kein Halt mehr da ist und kein Boden unter den Füßen.
Die Angst schrumpfen, bis sie nur noch ein wenig größer ist als man selbst.
Und sich darauf vorbereiten, dass sie immer wieder Überhand gewinnen wird.

Abwarten, bis es soweit ist. Und dann gewappnet sein.
Sie über sich hinwegrollen lassen, in ihr untergehen und wieder auftauchen.
Sehen, wohin sie einen treibt.
Und sie gewähren lassen.
Aufhören, dagegen anzukämpfen.
Und sich gleichzeitig nicht in ihr verlieren.

Es ist die Angst, die dich so beherrscht.
Man könnte ihr zuhören.
Ihr einen festen Raum geben,mit eigenem Schreibtisch und einer Topfpflanze.
Man könnte sagen, bis hierhin, und nicht weiter.
Eine Grenze ziehen.
Sich arrangieren.
Gemeinschaftliches Arbeiten, mehr oder weniger.
Sich leiten lassen, aber nicht beherrschen.
Sie wahrnehmen, aber nicht als einzige Wahrheit.
Den doppelten Boden der Realität wiederfinden.
Zurück von weiter Flur.
Immer wieder an Grenzen, die manchmal selbstgezogen sind.
Manchmal aber auch viel zu real, und außerhalb des Einflussbereiches.
Und immer dabei die Angst.
Manchmal im Begriff, überhand zu nehmen.
Gelegentlich tut sie das auch.
Aber manchmal lässt sie sich zurückdrängen.
Nicht in den Kerker, sondern in ihr Büro mit eigenem Schreibtisch und Topfpflanze.
An den Platz, den man ihr eingeräumt und zugeteilt hat.

Vielleicht würde sie irgendwann dort bleiben.
VIelleicht wäre es ja so, dass die Angst sich an die neuen Umstände gewöhnt, wie man sich an sie gewöhnt hat, und alles würde ein wenig seinen Schrecken verlieren.
Und sie würde nicht mehr beherrschen, sondern nur noch warnen.
Man könnte ihr zuhören und selbst entscheiden, ob das, was sie sagt, richtig ist oder nicht.
Man könnte ihre Warnungen in den Wind schlagen und fallen, oder auf sie hören und ebenfalls fallen.
Aber man hätte die Wahl.
Nach wie vor alleine auf weiter Flur, aber man hätte ja immer noch sich selbst, würde sich wieder unverzerrt wahrnehmen, und vielleicht würde das reichen.

Nichts würde besser werden. Aber man selbst vielleicht nicht komplett wahnsinnig.

Wäre eventuell eine ganz nette Aussicht.




Montag, 15. Juli 2013
Thema: monolog
Seit ein paar Tagen ein zweiter Ölfleck unterm Mayhemmobil (das, Baustelle nebenan sei dank, fast unter seiner Staubschicht verschwindet), weiter rechts und großflächiger, als es der erste ist,
aber wird schon

Seit ein paar Tagen nur noch unter Strom wegen der Vatersfreundin, und freundlich oder zumindest zivilisiert verhalten ist anstrengender denn je,
aber wird schon

Seit zwei oder drei Monaten eigentlich nie mehr als vier Stunden geschlafen, außer in letzter Zeit, wenn Mr.Gaunt hier war; dann waren es fünf, manchmal sogar sechseinhalb. Zwei, drei, vier Nächte, die die vier, fünf, sechs, neun Wochen auch nicht ausgleichen können,
aber wird schon

Seit ein paar Wochen ohne die erste Zweckgemeinschaft, die eine bessere Freundin ist, als es die Feindin je war;
die auswandern wird,
leider nicht nur nach Österreich, sondern in die USA,
aber wird schon

Seit zwei Wochen im Integrationsprozess, was den Freundeskreis von Mr.Gaunt betrifft, mit schrecklich viel Angst vor schrecklich vielen Menschen, und der Einladung/Bitte, mit ihnen auf ein Festival zu gehen,
und somit noch viel mehr Angst,oder eher Panik ohne Ende,
aber wird schon

Jetzt also mit der Gewissheit, technisch gesehen so gut wie familienlos,
aber davon abgesehen und trotz Allem mit dem Gefühl, nicht (mehr) ganz so verloren zu sein,
denn es wird schon
irgendwie
machen wir das schon


Irgendwie
kriegen wir alles hin,
Und irgendwann
hört es auf, einen zu zerreißen.
Nicht, weil es zu einem gewohnten Zustand wird,
sondern weil es verheilt,
irgendwann
und die Flut sich langsam wieder zurückzieht
irgendwann
und das, was da frei wird, nicht ein Haufen Bruchstücke einer Person, sondern eine komplette Trümmerpersönlichkeit ist, in einem Stück und noch funktionsfähig,
und die Angst nur noch leitet, und nicht mehr beherrscht,
und die Sorgen nur noch vorsichtig machen, und nicht mehr verrückt,
und die Welt nicht mehr rast, nicht mehr stehen bleibt, nicht mehr untergeht, sondern sich einfach weiter dreht,
kontinuierlich und ohne einem dabei das Herz zu zerquetschen oder die Knochen zu zermalmen.

Irgendwann
wird alles gut

und vielleicht
beginnt "irgendwann"
gerade jetzt.






Montag, 27. Mai 2013
Thema: monolog
Gestern Nacht.

Mein Vater steht so vor meiner Haustür, klein und alt und so emotionsbetäubt, wie wir es immer sind, wenn wir in Extremsituationen feststecken und kein Ende in Sicht ist, und sagt mir, gestern Nacht ist es passiert. Organversagen, absehbar, man wusste ja, dass es so kommen würde, er habe mir nur Bescheid sagen wollen.
Ich nehme ihn in die Arme, impulshaft, verabschiede ihn und lege mich wieder in mein Bett.
Sieben Uhr dreißig, sagt der Wecker. Vor vier Stunden bin ich eingeschlafen, vor sechs Stunden und fünfzig Minuten ist Opa Mayhem gestorben.
Ich warte immer noch, dass da irgendwas ist. Trauer, Schmerz, sowas.
Was man eben empfindet, wenn jemand stirbt.
Nichts. Stattdessen dumpfe Angst, diffus, aber da.
Der Tod rotiert in meinem Kopf, ich habe Angst davor, Menschen zu verlieren, die mir noch nicht mal so viel bedeuten, Angst davor, nicht alt zu werden, und Angst davor, dass genau das eintritt. Dahinsiechen, das letzte, was man wahrnimmt, der Pflegeheimkrankenhaustodgestank.
Das letzte, was meine Mutter bemerkt hat, waren wohl weiße Badwandfliesen, oder dunkelbraune Holzbaddecke, und Blutgeschmack im Mund.
Vermutlich schmeckt man ziemlich viel Blut, wenn man vom Alkohol krampfadermäßige Dinger in der Luft-/Speiseröhre hat und die dann explodieren.
Wahrscheinlich hat das Schicksal keinen netten, schmerzlosen, angenehmen Tod für mich vorgesehen,sondern irgendwas hochdramatisches, fieses, je nach Tagesform vielleicht auch schmerzhaftes.
Die Angst, zu verlieren bleibt trotzdem stärker als die, verloren zu gehen.

Gegen Mittag sitze ich mit meinem Vater und seiner Freundin an ihrem neuen Küchentisch, esse anstandshalber ein Brötchen und lasse mir von ihr erzählen, was sie schon alles organisiert haben, wie rücksichtslos und kalt der Pfarrer doch sei, und dass ich gefälligst in beiden Rosenkränzen und bei der Beerdigung aufzutauchen habe.
Mein Vater verlegt sich auf ein "es wäre schön", was die Rosenkränze betrifft, und schafft damit viel mehr Druck, als es alle Befehle und Drohungen dieser Welt könnten.
Ich sichere zu, zur Beerdigung zu kommen und mir den Leichenschmaus anzutun, verspreche, die Verwandschaft nach Möglichkeit nicht zu sehr zu erschrecken und bekomme im Gegenzug die Erlaubnis, gegebenenfalls früher heimzugehen (was im Endeffekt auch nur 10 Minuten ausmachen wird, denn "der Anstand gebietet es" schließlich, nicht so früh wieder zu gehen) sowie (aus Rücksicht auf die anderen Anwesenden allerdings nur knöchelhohe) Kampfstiefel auf den Friedhof anzuziehen, damit ich trockene Füße behalte und auf den unbefestigten Wegen nicht komplett im aufgeweichten Erdmatsch versinke, wie es sonst immer der Fall war.
Meine Mutter war die einzige, die sich einen Termin zum Sterben ausgesucht hat, der eine Beerdigung ohne mindestens ein aufgeschürftes Knie (ausrutschen auf spiegelglatten Abhängen) oder ein eingeschlammtes Kind (wie bereits erwähnt, unbefestigte Wege, rutschig, gegebenenfalls glatt) möglich machte.
Als sie geht, bittet mich die Vatersfreundin nochmals, zu den Rosenkränzen mitzukommen, ich sage nochmals, dass ich es ihr nicht versprechen will, erkläre es wieder meinem Vater, der eigentlich erwartet, dass ich hingehe, aber weiß, dass ich mich nicht zwingen lasse (eigentlich) und darüber maßlos enttäuscht ist, und irgendwann kriegen wir die Kurve, reden über geklaute Straßenschilder und darüber, dass mein Vater mal eines bei den Obstbäumen gefunden und mitgenommen hat, und dass ich es haben kann, wenn ich will, und dass er jetzt weiter die Küche renovieren muss.
Ich könne ja abends nochmal vorbeikommen, meint er.

Die einzige noch lebende Person, die sicher blutsverwandt mit mir ist und sich zur engeren Verwandschaft zählen lässt, ist mein Patenonkel.
Wenn mein Vater doch mein Vater ist, sind es immerhin 2.

Als ich die Haustür aufschließe, habe ich der Egoschleuder für Mittwochabend abgesagt, einerseits prophylaktisch, falls ich in den Rosenkranz gehe und somit die Möglichkeit, mit seiner Schwester zu fahren, verpasse, andererseits, weil er gestern weinend die gesammelte Scheiße, die er so im Leben gebaut hat, vor mir ausgebreitet und außerdem die Vermutung geäußert hat, zu glauben, eventuell in mich verliebt zu sein, obwohl wir beide genau wissen, dass es sich nur um Ersatzanziehung handelt, weil er immer noch an der Nixe hängt und ich im Moment die einzige Person bin, die für ihn da ist, und außerdem die Nachbarin abgeschmettert, die am Freitag mit mir irgendwas unternehmen wollte.

Dann ruft Ms Golightly an und verkündet, nicht ohne Stolz, dass sie a) demnächst beim Raucher vorbeistiefeln, ihm gehörig die Meinung sagen und bei der Gelegenheit meinen Leitpfosten holen würde, den Mist, den er rumerzählt, könne man so schließlich nicht stehen lassen, und b) ihren Freund davon überzeugt hat, sich mal bei Mr.Gaunt zu melden und zu fragen, ob er am Wochenende schon was vor hat.
Donnerstag sieht sie den Mützenträger wieder und es wird angerufen, Freitag ist das angepeilte Datum.
"Da wird mein Großvater beerdigt, ich weiß nicht, ob.."
-"Oh, das tut mir Leid. Naja, aber bis abends wirst du da fertig sein. Drück uns die Daumen, dass wir ihn überzeugen können, mit zu gehen, obwohl er meinen Hasen nur unwesentlich besser "kennt" als dich. Bis dann!"
Ich hasse es, wenn Menschen ihren Partner "Hase" nennen.




Thema: monolog
Krankenhaus.

Als wir ins Krankenhaus reingehen, weiß ich, dass mein Großvater da nicht mehr bei Bewusstsein rauskommt.
Wir stehen dreieinhalb Ewigkeiten bei einer Aktenwälzerin, die nicht verstehen will, dass es zwar eine Vollmacht, aber keine Patientenverfügung gibt und Papa Mayhem deshalb nicht einfach beschließen kann, dass die piependen und blinkenden und gluckernden Geräte abgeschalten werden.
Nachdem sie uns unsere Standpauke gehalten hat von wegen, das hätten wir ja mal regeln können, kümmert sie sich um das, was sie eigentlich machen soll, nämlich die Nummer des Seelsorgers/Pfarrers raussuchen. Letzte Ölung.
Mein Großvater ist ein gläubiger Mensch und Papa Mayhem will, dass für den Notfall alles geplant ist.
Die Aktenwälzerin findet den gesuchten Flyer nicht, netterweise kommt aber das Mädchen, das eventuell meine Halbschwester ist, vorbei, findet das Gesuchte auf Anhieb und sieht mir mal wieder viel zu ähnlich. Wenigstens hat sie braune Augen und dunklere Haare (sind die gefärbt?).
Und ein Grinsen, das sogar mir Angst macht, weil es so aufgesetzt-künstlich und furchtbar kalt ist.
Aber vermutlich muss man sich das antrainieren, wenn man im Krankenhaus arbeitet.

Als wir uns Opa Mayhems Station nähern, vorbei an den Bereichen, die "es gibt noch Hoffnung" sagen, und an dem Getränkeautomat, an dem ich mir früher immer einen warmen Kakao mit extra Zucker geholt habe, wenn wieder irgendein inzwischen längst verstorbenes Familienmitglied hier war, ist da wieder der Krankenhausgeruch.
Wenn sie sagen "Ich hasse Krankenhausgeruch", verbinden das viele Leute mit Desinfektionsmittel.
Da, wo wir rumlaufen, ist es anders. Desinfektionsmittel riecht ein bisschen stechend, aber auf saubere Art und Weise, vielleicht auch ein bisschen nach Chlor.
Der Krankenhausgeruch, den ich meine, der eigentliche, ist fast der gleiche wie im Pflegeheim. Totgekochtes, breiiges Essen, menschliche Ausscheidungen, die nur durch Infusionsbeutel überhaupt zustande kommen konnten, seit Urzeiten nicht mehr gelüftete Zimmer, muffige Handtücher, sterbende Menschen, mit Glück noch ein Hauch Desinfektionsmittel.
Das ist für mich Krankenhausgeruch.
Und ich hasse ihn.

Opa Mayhems Zimmer ist nichtmal in einem Bereich, der sagt "das kriegen wir eventuell wieder hin", sondern ganz am Ende, da, wo sie die Leute zum Sterben hinbringen.
In seinem Zimmer liegt noch ein Araber, der ebenfalls nur ein Knochenhaufen ist, über den man ein bisschen Haut gespannt hat, und bei dem man nichtmal mehr Pupille, Netzhaut und Augapfel unterscheiden kann, so glasig und matschig sind seine Augen in seinem Gesicht, das sich verschoben hat und ganz krumm und schief ist, und mit dem er auf wundersame Art und Weise irgendwelche Laute zustande bringt, als ich den Raum betrete, die ich aber nicht verstehe.
Weil ich mich nicht traue, ihn zu fragen, was er gesagt hat, gehe ich ein Bett weiter.
Ein Mann, der nur mittelschwer verwirrt und nur ein bisschen tot wirkt, entweder haben sie sich vertan und ihn aus Versehen her gebracht, oder sie wollen, dass er bald stirbt. Als Patient hält man es hier nicht lange aus und wird irgendwann selbst so.
Manchmal auch als Pfleger oder Arzt.
Noch ein Bett weiter.
Kamera schwenkt auf Großvater, kurzzeitig Katastrophenzustand im Inneren der Enkelin, verzeifelte Versuche, irgendwie Kontakt zu seinem Vater aufzunehmen von Papa Mayhem.
Der Araber mit dem deformierten Gesicht versucht wieder, mit mir zu reden.
Ich bleibe auf meinem Stuhl sitzen, mit Sicherheitsabstand zu Allen, und schaue meinem Vater beim Verzweifeln und seinem Vater beim Sterben zu.
Weil er komplett dehydriert ist und irgendeine Entzündung hat, die laut Arzt wie eine Lungenentzündung aussieht, aber keine ist, rasselt er beim Atmen lauter als alles, was ich vorher aus menschlichen Atemwegen gehört habe, und seine Haut hat sich so weit zurückgezogen, dass er den Mund nicht mehr schließen kann, was das Rasseln und Gluckern nur noch verstärkt.
Seit er ins Pflegeheim gekommen ist, bin ich jedes Mal, wenn ich ihn gesehen habe, aufs Neue erschrocken, wie tot er im Vergleich zum letzten Mal aussieht.
Vermutlich hat es seinen Höhepunkt erreicht.
Papa Mayhem versucht weiter, mit ihm zu reden, streichelt sein Gesicht, hält seine Hand, wenn er im Schlaf hustet und Panik bekommt, und verlässt seinen Platz neben dem bett erst, als ein Krankenpfleger ihn darum bittet, weil der Mann, der viel zu lebendig ist, um hier zu sein, auf den Toilettenrollstuhl muss und das nicht machen will, wenn jemand da ist.
Also verabschieden wir uns, ich mich innerlich, Papa Mayhem mit Schulterdrücken, Hand halten, Worten und Zunicken, lassen uns auf dem Gang nochmal vom Arzt erzählen, dass mein Großvater ja eigentlich stabil sei, unpraktischerweise leider "stabil schlecht", aber immerhin, und auf dem Weg zum Auto kann ich mich die ganze Zeit nicht überwinden, meinen Vater zu umarmen, auch, wenn ich es gerne würde.
Damit er sich nicht so verloren fühlt. Einfach, damit jemand da ist.
Ich schaffe es nicht. Den Standardsatz sage ich, das, was man immer sagt, ich bin da, wenn du irgendwann reden möchtest, auch, wenn ich genau weiß, dass du das nicht mit mir tun wirst.
Damit hat es sich dann auch.
Und wir fahren wieder heim, und nach ein paar Tagen wird Opa Mayhem zurück ins Pflegeheim verlegt.
Zustand: Immer noch "stabil schlecht".




Thema: monolog
"Hast du am Freitag schon was vor?"
-"Da bin ich auf Beerdigung".

Geburtstag.
Gefühlswelt und reales Handeln können so erschreckend weit auseinander gehen.
Während ich nämlich gefühlt mein Herz gesprengt und mich in Stücke gerissen habe und so leise vor mich hin verblute, sitze ich mit der Vatersfreundin im Pflegeheim, während mein Vater auf Reha ist und nicht vorbeikommen konnte, und wir warten.
Man bringt uns ungefragt Kaffee, der so schmeckt, wie abgestandenes Abwasser riecht.
Wir warten.
Eine alte Frau schiebt sich und ihr Gehwägelchen immer wieder an uns vorbei, Gang rauf, Gang runter, und singt gefühlt alles, was das Kirchengesangbuch hergibt.
Wir warten.
Heute werde ich mit dem Raucher Schluss machen. Sollte ich das hier überleben, ohne endgültig den Verstand zu verlieren.
Wir warten.
Es bringt mich jetzt schon um. Aber was tut das im Moment nicht.
Wir warten.
Der vom Heim ohne Zustimmung irgendeiner zuständigen Person bestellte Akkordeonvergewaltiger kommt, stürzt sich auf die Vatersfreundin und würdigt mich keines Blickes.
"Ja, so ein Tag, das ist immer was ganz besonderes für die Alten, da blühen sie richtig auf und die ganze Familie hat mal wieder einen Lichtblick und kann den Tag genießen!"
Ich freue mich so sehr, ich könnte die Wände des Pflegeheims mit meinem Herzblut-Organ-Matsch streichen. Alle.
"Aber ich versteh das schon, wenn sie da zurückhaltend sind. Meine Mutter, ach, das ist ja auch so ein Fall.. sie werden halt verwirrt mit dem Alter."
Mein Großvater spricht nur noch, um aus seinem Bett heraus zu verkünden, dass er sterben will.Soviel dazu.
Aber sein System versteht er trotzdem noch.
Das System, hat Papa Mayhem erklärt, ist ein einfaches. Mein Großvater weiß, dass er etwas sagen muss, wenn sich jemand mit ihm unterhalten soll, aber er versteht nicht, was zu ihm gesagt wird, also spricht er einfach gar nicht.
Der Akkordeonvergewaltiger redet weiter, in einer Tour, und ich kann verstehen, wieso mein Großvater, seit er hier ist, nur noch davon redet, dass man ihn gefälligst endlich standesgemäß erschießen soll, schließlich sei er bis zum Schluss im Krieg gewesen, und bei den Russen, und danach bei den Franzosen.
Eine Pflegerin scheucht uns in den Speisesaal, in dem es, wie überall im ganzen Haus, nach abgepacktem, überkochtem Essen, altem Urin, alten Menschen und ein bisschen Desinfektionsmittel riecht, und nach Tod, wir werden an einem Tisch platziert, Opa Mayhem wird, mit Gehwägelchen, reingeschubst und verbringt seine Geburtstagsfeier damit, immer wieder den Kopf auf die Tischplatte sinken zu lassen, unaufhörlich mit den Zähnen zu mahlen und seinen Entschluss, sterben zu wollen, den niemand außer mir für mehr hält als ein verwirrtes Hirngespinst, zu festigen, je mehr "alte Klassiker" der Akkordeonvergewaltiger viel zu laut mit seinem Opfer durch den Raum schleudert. Als er zu uns kommt, versucht Opa Mayhem, zu schreien, aber seine Stimmbänder sind so schwach, dass nur die Vatersfreundin und ich sein wütend-verzeifeltes "Hör auf! Hör auf, geh weg!" hören. Es wiederholt sich noch zweimal, dann verzieht sich der Akkordeonvergewaltiger in eine andere Ecke und mein Großvater legt seinen Kopf wieder auf der Tischplatte ab.
Diverse Versuche der Vatersfreundin, ihn krampfhaft-gespielt-fröhlich aufzubauen, lässt er gekonnt an sich abprallen und so dämmern wir in unserem Weltschmerz vor uns hin, nur noch einmal unterbrochen, als er sich an einem Stückchen Kuchen, dass sie ihm aufzwingt, so sehr verschluckt, dass sein Gebiss herausfällt.
Aber hey, es ist doch ein "ganz besonderer Tag für die Alten. Da blühen sie immer richtig auf!"
Eine hummerrote Hand krallt sich in meine Schulter, als ich mich umdrehe, sehe ich einem anderen Tod ins Gesicht. Der hier wohnt in einer alten Frau, die sonst immer aus irgendwelchen Gründen beim Brötchenholen mit mir reden wollte. Ihr Tod scheint gerade ziemlich am Wüten zu sein, ihre Augen sind leicht gelblich und sehr glasig und verquollen, und ihr ganzes Gesicht ist so hummerrot wie ihre Hände, mit dunkelroten Flecken und an den Kopf geklebten, dünnen Haaren in dem gleichen Topfschnitt, den der "Friseur" hier wohl allen verpasst, obwohl Opa Mayhem aufs Heftigste protestiert hat, schließlich kämmt und pomadisiert er sich die Haare seit mindestens 73 Jahren auf die gleiche Art und Weise zurück, und das geht nunmal nicht mit Topfschnitt.
Die alte Frau redet auf mich ein, während ihr Tod mich auslacht, weil ich so erschrocken bin. Ich werde wieder die ganze Zeit mit dem Namen meiner Mutter angesprochen und sie scheint auch irgendwie mit einer Mischung aus uns beiden zu reden, bis sie von einer Pflegerin weiter geschoben und auf ihren Platz gesetzt wird, wo sie der Tischdeko erzählt, dass sie sich gerade so nett mit meiner Mutter unterhalten hat.
Opa Mayhem legt seinen Kopf auf die Tischplatte und mahlt mit den Zähnen.
88. Geburtstag. Steht auf der Kerze, mit Tippex über die vorherige Zahl geschmiert, den Aufwand einer eigenen Kerze für jeden Bewohner betreibt man nicht. Lohnt sich ja doch nicht.