Montag, 10. September 2012
Der Raucher und ich, wir sitzen so bei ihm auf dem Sofa, ich habe wieder beinahe das ganze Wochenende in der Kleinstadt verbracht und wenn ich daheim war, waren es mein Vater und Anhang nicht, aber dafür war er es mit mir, und wir leiden gerade so absurd schmerzhaft an allem, was war und allem, was ist, dass es fast kinofilmtauglich ist.
Wir haben geredet, während wir um halb sechs Uhr morgens auf dem Spielplatz gesessen und geschaukelt haben, und er hat erzählt, von damals, als er zu viel getrunken hat, viel zu viel, und noch mehr geraucht, und als die Absturzparties immer alle bei ihm waren.
Den Gratisalk fanden alle super, aufräumen eher weniger, aber er hat nichts gesagt, und unter der Woche, wenn niemand außer ihm in seiner Wohnung war, kamen genauso viele leere Flaschen dazu wie am Wochenende, wenn da dreißig Mann feierten.
Er hat Leberschmerzen, und seine Lungenkapazität ist eingeschränkt, aber er hat auch panische Angst vor Ärzten und Krankenhäusern, deshalb war er, seit das mit der Lunge festgestellt wurde, nicht mehr dort, auch nicht wegen den Leberschmerzen, und zwischenzeitlich hat er angefangen, zu versuchen, sein Leben auf die Reihe zu kriegen, was gar nicht so einfach ist, wenn man alleine ist, meint er.
Die Vergangenheit lässt einen nicht so schnell los, und da sind nicht nur seine Freunde, die sich wundern, wieso er "zum Weichei" wird, sondern da sind auch Erinnerungsschatten, tot aufgefundene Großeltern, prügelnde Väter, Ärzte, die sich nicht so verhalten, wie sie das eigentlich sollten und Emotionalität.
Er kann emotional sein, der Raucher, so sehr wie ich,
er kann endlos lange zusammengekauert im Bett liegen, ohne die Kraft, aufzustehen, wie ich,
seine Texte sind in Worte gepresste Gefühle, halb zerstörtes Papier und Schriftgemetzel, so, wie meine.
Er wird entweder von Gefühlen überrannt oder sucht sie vergeblich. Generell wird er aber öfter überrannt, sagt er. Und dass das schon ok so ist, denn dauerhaft das andere Extrem würde ihn auch kaputt machen. Sofern das überhaupt noch ginge.
Überlegen, ob wir noch kaputter sein könnten,
kommen zu dem Schluss, dass das sehr wohl ginge und klopfen uns auf die Schulter dafür, dass wir noch nicht total vor die Hunde gegangen sind.
"Auch, wenn ich bei dir Angst hab, dasses bald soweit is", sagt der Raucher und sieht mir ernsthaft in die Augen.
-"Unkraut vergeht nicht, und vielleicht ist das Schicksal unterfordert, wenns nicht regelmäßig Weltuntergänge inszenieren kann".
"Zumindest der, den ich jetzt mitbekomm, haut dich um, und ich will nicht, dass du liegen bleibst."
-"Krampfhaft immer wieder sofort aufstehen wollen ist auch nicht gesund."
"Solange du irgendwann wieder aufstehst, ist alles ok."
Wir schweigen.
Zwischendurch bringt sein Bruder Kekse vorbei, die seine Mutter gebacken hat, verabschiedet sich aber schnell wieder, als er mich sieht.
"Raucher, sieht mans mir so sehr an? Also, das leiden?"
-"Du siehst so aus, dass ich Angst um dich hab."
Der Kopf ist frei, doch das Herz ist so schwer#, es könnte leicht sein, doch es wird immer mehr...
Vielleicht war das Wochenende einfach zu viel.
Zu viel Hoffen, weil ich nach dem letzten eigentlich nur mit dem Fremden reden und es klären wollte,
zu viel Distanz, von ihm aus,
zu viel Verunsicherung, weil der Grinch sich uns anschloss, ganz selbstverständlich das tat, was für mich jedes Mal eine Überwindung aller persönlichen Ängste bedeutet und sich an ihn ankuschelte, mehrmals, und er sich nicht wehrte, und wir so wenig geredet haben, und weil er so einen Aufstand um die Ghettoschwester machte, am Samstag.
Vielleicht war es zu wenig. Zu wenig Klarheit, zu wenig Positivgefühl.
Vielleicht, und das ist wahrscheinlicher, bin ich aber auch mal wieder am Rand des Durchdrehens und habe keine Ahnung, wie ich das Restleben schaffen soll, routinemäßig und gut genug, um das Ding, das Abitur heißt, irgendwie zu überleben.
"Du hast dich in den Fremden verliebt, oder, mayhem?"
-"Was?"
"Du hast dich in den Fremden verliebt." Der Raucher schaut mich wieder ernsthaft an, vermutlich sieht er mehr als andere Menschen. "Ich hab mit ihm nicht drüber geredet oder so, aber ich merks dadran, wie du ihn anschaust. Dass du ihn retten willst, kann auch Freundschaft sein, aber nicht, wie du guckst. "
-"Raucher.."
"Jedenfalls find ich das schön. Also, nicht, dass dir das so wehtut und du da so drunter leidest, aber an sich find ichs schön, weils passen würd. Und weil ichs mir wünschen würde."
-"Für ihn oder für mich?"
"Beide glaub ich.
Hinter dem ganzen Mist, den er baut, weil er jetzt seine Pubertät nachholt, is der Fremde echt n guter Mensch, auch wenn er mit so Gefühlszeug nicht klarkommt.
Und bei dir bin ich einfach nur froh, dass wir beide befreundet sind. Und dass du mich nicht auslachst, wenn ich dir erzähl, dass ich Angst vorm Arzt hab oder sich manchmal die ganze Welt nur kalt und grau anfühlt, und das so ist wie innerlich sterben, nur dass mans jeden Tag hat."
Ich fange an, zu weinen.
Zu oft in letzter Zeit, und nie richtig, immer nur ansatzweise und dann Abbruch, aber diesmal macht es Anstalten, zum richtigen Weinen zu werden, bis ich merke, dass der Raucher, der mich in den Arm genommen hat, selbst kurz davor ist, mitzumachen.
"Junge, wir sind solche Wracks", stelle ich fest und er lächelt sogar.
-"Sind wir echt. Aber ich hab die ganze Zeit gedacht, ich wär allein damit. "
"Bist du nicht. Es gibt immer irgendwo jemanden, der einen versteht, weil er oder sie es selbst kennt."
-"Das klingt jetzt total schwul, aber ich bin froh, dass wir befreundet sind."
"Dito".

Abends noch ein Besuch beim Fremden, bis wir mit ihm, dem Grinch und Ms Golightly wieder zum Raucher fahren, bis jetzt endete jedes Wochenende dort, und auch beim obligatorischen Filmgucken lehne ich mich nicht am Fremden an.
Nicht, weil mein Herz wieder zurückgekehrt wäre, das hat er immer noch, sondern einfach, weil das so nicht mehr geht.
Ich kann nicht nonstop mutig sein und immer über meinen Schatten springen, während in den meisten Fällen keine wirkliche Reaktion kommt und ich von der Hoffnung zehre, die bei den paar Malen wiederbelebt wurde, in denen eine kam. Ich kann mir das alles nicht unbegrenzt lange antun, zusammen mit bevorstehendem Katzenrauswurf, mal wieder, herannahendem Abitur und allgemeiner Überlastung.
Ich bin kein Übermensch, ich habe nicht unendlich viel Kraft.
Der Raucher sagt, er hat eigentlich auch keine mehr, aber er kämpft trotzdem, weil es das Leben wert ist.
Ich weiß es aktuell nicht mehr, ob es das ist. Und das bedeutet, dass es mir nicht nur über den Kopf gewachsen ist, sondern dass ich an der Grenze bin, vor einer Mauer stehe, und dass das alles verdammt nochmal mehr wehtut, als ich vertragen kann.

Und ich habe Angst davor, es dem Fremden zu sagen, einfach so mein Herz zu öffnen, und die ständigen Spekulationen wegen seinem mehr als rätselhaften Verhalten bringen mich auch nicht weiter. Vieles spricht dafür, vieles dagegen, und das verunsichert mich fast so sehr, wie mir der Gedanke an ein Gespräch darüber Angst macht.
Ich habe mir Worte zurechtgelegt heute, aber es gab keinen passenden Moment, zu viel Schweigen, zu viel Verunsicherung und Eifersucht wegen dem Grinch und zwischendurch war er einfach weg, und überhaupt kann er so ein Arschloch sein und es dabei noch nicht einmal merken, weil er, was Zwischenmenschliches betrifft, noch unfähiger ist als ich und ihm zusätzlich noch oft das Feingefühl fehlt.
Habe mir trotzdem die Worte zurechtgelegt, sie behutsam weggepackt, als ich gemerkt habe, dass es heute keinen Sinn mehr hat, aber sie im Hinterkopf behalten.
Sie sind nicht perfekt, und vielleicht schaffe ich es nicht, all das, was da ist, in Worte zu fassen, aber ich werde es versuchen.
Vier Anläufe, es schriftlich festzuhalten. Dass ich es tun werde, wenn der Moment passt, definitiv und ohne "eventuell".
Ich glaube nicht daran, dass alles gut wird, aber vielleicht wird es das ja doch. Ich sollte mich nicht so von meiner Angst beeinflussen lassen, aber wer handelt schon komplett frei von inneren Zwängen?

Ich werde mit ihm darüber reden.
Irgendwann werde ich es ihm sagen, und dieses "irgendwann" sollte ziemlich bald sein, denn eigentlich halte ich es schon länger nicht mehr aus, das alles, und ich glaube, ich bin auf eine Art und Weise am Ende, die eindeutig nicht gesund ist.
Also kratze ich wieder meinen nicht vorhandenen Mut zusammen und springe mit viel Anlauf über meinen größten Schatten.
Ich habe Angst vor der Landung, wenn ich auf den Boden aufpralle und mit großer Wahrscheinlichkeit ziemlich hässliche Verletzungen davontrage, so rein emotional,
aber der Raucher hat auch Angst vor dem Arzt, panische, und geht trotzdem hin.
Sagt das so, als wir Sonntagnacht auf seinem Balkon sitzen und Sterne gucken. Dass ich Recht habe, wenn ich sage, dass da mal wer draufgucken müsste, auf die Lebergeschichte, wie auch auf die Hand, auf die ihm sein Azubi aus Versehen einen 120kg-Stein fallen lassen hat, aber "Ich hab doch so Angst davor. Ärzte sind alle gemein, und die können ihre Position voll ausnutzen".
Drücke seine gesunde Hand und verspreche ihm, mit zu gehen.
"Wenns sein soll, gehe ich bis ins Behandlungszimmer mit und schaue den Arzt so böse an, dass er sich gar nicht traut, irgendwie gemein zu sein.
Aber du bist physisch sowieso jetzt schon total kaputt, und es wird nicht besser, wenn du nie wegen deinen Verletzungen zum Arzt gehst. Und nein, es ist keine harmlose Kleinigkeit, wenn man von einem Bagger drei Meter durch die Luft geschleudert wird oder sich in den Oberschenkel sägt. Und Leberschmerzen sind auch eher weniger lustig, also mach da mal einen Termin aus."
-"Danke".
"Passt schon."
-"Wir kriegen das hin."
"Das mit dem Arzt?"
-"Das auch. Das mit dem Arzt, das mit dem Fremden. Unsere Leben. Wir schaffen das."
"Meinst du wirklich?"
-"Weiß nicht. Wär aber ganz schön."