Sonntag, 12. Juli 2020
Am Tag vor meinem Geburtstag liege ich im Bett und höre die Welt unter meinem Fenster vorbeiziehen.
Es ist 12 Uhr, 13 Uhr, 15 Uhr. Es ist Kopfkrieg, Hirnsumpf, Bleischwerdämmernebel, und wieder von vorne.
Irgendwann zwischen 16 und 17 Uhr wühle ich mich da raus, gieße die Pflanzen, augentropfe die Katzen und schaffe es, mich danach nicht postenwended wieder hinzulegen, sondern immerhin zu setzen.
Ich bin angsterschöpft, irgendjemand hat meine Knochen durch Beton und mein Blut durch Blei ersetzt. Was an sich erträglicher wäre, fast schon friedlich, wenn meine Nervenbahnen darauf verzichten würden, sich immer wieder in Starkstromleitungen zu verwandeln.
Tun sie aber nicht, also wechsle ich zwischen Bleibeton und Starkstrom.
War auch schon mal besser.

Irgendwann nach 18Uhr habe ich es geschafft, zu duschen, meine Zähne zu putzen und das Antragsformular für meine Abschlussarbeit auszudrucken.
Weil die Welt gerade Dystopie spielt, muss es handschriftlich ausgefüllt, eingescannt, an den Betreuer geschickt, von ihm weiter ausgefüllt, eingescannt, an mich zurückgeschickt, zur nächsten Instanz geschickt, weiter ausgefüllt, eingescannt, an mich zurückgeschickt und dann an das Prüfungsamt geschickt werden.
Etwas umständlich, aber in der Theorie machbar.
In der Praxis ist das natürlich wieder nicht so einfach, ich drucke fünfmal aus, fülle fünfmal aus und jedes Mal passt irgendwem in meinem Kopf irgendwas nicht.
Mal ist es die schief geratene Mailadresse - normalgroße Formularfelder sind meinem Vor- und Nachnamen schlichtweg nicht gewachsen, also muss ich quetschen, also wird es krumm und winzig und hässlich.
Dann sind es die Felder, in die meine Daten rein sollen, aus dem gleichen Grund.
Ich versuche es ein paar Mal und schäme mich, und das theoretische Wissen, dass das nicht so wichtig ist und verdammt nach Vermeidung oder Prokrastination aussieht, ändert auch nichts daran, dass das gerade wirklich, wirklich schwierig ist.
Als das Ausfüllen geschafft ist, greift sich die Uniblockade das nächste Detail - Scanqualität.
Mein Drucker ist uralt, aber er kann das. Nicht besondes hübsch, aber leserlich, und es geht hier nur um eine Formalität, erkläre ich mir und dem Selbst, dass da gerade so verloren auf der Kommandobrücke rumsteht, weil ich gerade wieder auseinanderfalle und eine Vergangenheitszeitreise mache.
Freundliches Erklären hilft aber irgendwie auch nicht weiter, das Vergangenheitsselbst und ich, wir haben ganz furchtbare Angst, sind ganz grausam verloren und es tut ganz schrecklich weh.
Ich mache drei Scans mit unterschiedlichen Einstellungen, schreibe zwei Entwürfe für die dazugehörige Mail, lösche beide und schreibe drei neue, dann klappe ich den Laptop zu, weil der Zeitreise-Effekt immer stärker wird, gefühlt falle ich in ein neun- bis zwölfjähriges Ich, und Kinder sollten gehört und wertgeschätzt, aber nicht ans Steuer gesetzt werden.
Die Therapeutin hat gesagt, wenn ich merke, dass das Selbst auseinander fällt und Zeitreisen passieren, kann ich ein paar Übungen ausprobieren, also mache ich das.
Sie hat auch gesagt, ich soll stolz sein, wenn ich es bemerke, egal, ob die Übungen helfen oder nicht, also versuche ich das.


Ein paar Stunden vor meinem Geburtstag sitze ich mit Thekenzwergin und Thekenzwerginmann hoch oben auf dem Betonklotz, esse vegane Lasagne, höre die Bands, die ich eigentlich gesehen hätte und schaue mir an, was der Himmel so macht. Die Thekenzwergin hat Abschlusskram vollbracht und meine Mutter vor einiger Zeit das Ergebnis ihres Fremdficks aus sich rausgepresst, das kann man schon mal feiern.
Statt Kuchen und ein paar Bier habe ich nur mich selbst mitgebracht, macht aber irgendwie anscheinend nichts; dass ich aufgetaucht bin, sei Leistung genug, sagen sie und meinen es anscheinend auch so und ich bin wieder überlastet und selbst das ist ok und überlastet mich darum noch mehr.
Kann ja keiner damit rechnen, dass so ein Leben auf einmal anfängt, zu funktionieren,nur, weil man seit Jahren an dem Ding und sich selbst arbeitet.

Am Morgen meines Geburtstags laufe ich durch die große, schlafende Stadt, die meine ist. Höre ihr beim Atmen und schaue der Sonne beim Aufgehen zu.
Ich denke an ein paar vergangene Aufführungen und gelesene Theaterstücke, und zwischendurch an ganz banale Dinge wie die Frage, ob ich bei rot über die Ampel gehen kann, wenn mich keiner sieht.
Ich entscheide mich dagegen; kann ja sein, dass da gerade kein Auto kommt, aber überfahren werden wäre jetzt wirklich unpraktisch.

Also stehe ich an einer Kreuzung, minutenlang, es kommen immer wieder LKWs vorbei aber immer in Abständen, die groß genug wären, um von Verkehrsinsel zu Verkehrsinsel bis zur anderen Straßenseite zu kommen.
Ein Radfahrer kommt kurz neben mir zum Stehen und fragt mich auf russisch, ob ich von hier bin, und dann sicherheitshalber nochmal auf englisch; erklärt mir, dass ich da ruhig rübergehen kann.
"Danke, ich möchte da aber kein Risiko eingehen, überfahren werden wäre momentan wirklich unpraktisch."
Ich habe Katzen, die auf mich warten und Freunde, denen ich fehlen würde.
Eine Stadt, die meine Heimat ist.
Einen Vater, dem ich nicht egal bin.
Ich habe einen Studienkredit abzubezahlen.
Ein Masterprojekt zu erledigen, einen Vortrag zu verschriftlichen und einen weiteren vorzubereiten.
Eine letzte Haus- und eine erste Abschlussarbeit zu schreiben.
Familienbannkreise zu brechen und Wahrscheinlichkeiten zu töten.
Ich vollbringe gerade das große Trotzdem, ich habe keine Zeit für Unfälle.
Also warte ich, bis die blöde Fußgängerampel endlich grün wird.
Komme auf der anderen Seite an und dann irgendwann auch nach Hause.
Grüße die Katzen, schminke mich ab, putze meine Zähne.


Am Morgen meines Geburtstags sitze ich vorm Laptop, schreibe eine Mail, hänge einen Scan an und drücke auf Absenden.

Und am Nachmittag meines Geburtstags sagt mir eine Mail, das ist doch alles bürokratische Kackscheiße,für so ein Hin und Her hat doch niemand Zeit, ich hab da mal ein bisschen nachgeholfen. Viel Erfolg, Ihre Abschlussarbeit ist jetzt angemeldet. Alles Gute zum Geburtstag, Frau Mayhem, Sie machen das schon.