Sonntag, 12. Juli 2020
Am Tag vor meinem Geburtstag liege ich im Bett und höre die Welt unter meinem Fenster vorbeiziehen.
Es ist 12 Uhr, 13 Uhr, 15 Uhr. Es ist Kopfkrieg, Hirnsumpf, Bleischwerdämmernebel, und wieder von vorne.
Irgendwann zwischen 16 und 17 Uhr wühle ich mich da raus, gieße die Pflanzen, augentropfe die Katzen und schaffe es, mich danach nicht postenwended wieder hinzulegen, sondern immerhin zu setzen.
Ich bin angsterschöpft, irgendjemand hat meine Knochen durch Beton und mein Blut durch Blei ersetzt. Was an sich erträglicher wäre, fast schon friedlich, wenn meine Nervenbahnen darauf verzichten würden, sich immer wieder in Starkstromleitungen zu verwandeln.
Tun sie aber nicht, also wechsle ich zwischen Bleibeton und Starkstrom.
War auch schon mal besser.

Irgendwann nach 18Uhr habe ich es geschafft, zu duschen, meine Zähne zu putzen und das Antragsformular für meine Abschlussarbeit auszudrucken.
Weil die Welt gerade Dystopie spielt, muss es handschriftlich ausgefüllt, eingescannt, an den Betreuer geschickt, von ihm weiter ausgefüllt, eingescannt, an mich zurückgeschickt, zur nächsten Instanz geschickt, weiter ausgefüllt, eingescannt, an mich zurückgeschickt und dann an das Prüfungsamt geschickt werden.
Etwas umständlich, aber in der Theorie machbar.
In der Praxis ist das natürlich wieder nicht so einfach, ich drucke fünfmal aus, fülle fünfmal aus und jedes Mal passt irgendwem in meinem Kopf irgendwas nicht.
Mal ist es die schief geratene Mailadresse - normalgroße Formularfelder sind meinem Vor- und Nachnamen schlichtweg nicht gewachsen, also muss ich quetschen, also wird es krumm und winzig und hässlich.
Dann sind es die Felder, in die meine Daten rein sollen, aus dem gleichen Grund.
Ich versuche es ein paar Mal und schäme mich, und das theoretische Wissen, dass das nicht so wichtig ist und verdammt nach Vermeidung oder Prokrastination aussieht, ändert auch nichts daran, dass das gerade wirklich, wirklich schwierig ist.
Als das Ausfüllen geschafft ist, greift sich die Uniblockade das nächste Detail - Scanqualität.
Mein Drucker ist uralt, aber er kann das. Nicht besondes hübsch, aber leserlich, und es geht hier nur um eine Formalität, erkläre ich mir und dem Selbst, dass da gerade so verloren auf der Kommandobrücke rumsteht, weil ich gerade wieder auseinanderfalle und eine Vergangenheitszeitreise mache.
Freundliches Erklären hilft aber irgendwie auch nicht weiter, das Vergangenheitsselbst und ich, wir haben ganz furchtbare Angst, sind ganz grausam verloren und es tut ganz schrecklich weh.
Ich mache drei Scans mit unterschiedlichen Einstellungen, schreibe zwei Entwürfe für die dazugehörige Mail, lösche beide und schreibe drei neue, dann klappe ich den Laptop zu, weil der Zeitreise-Effekt immer stärker wird, gefühlt falle ich in ein neun- bis zwölfjähriges Ich, und Kinder sollten gehört und wertgeschätzt, aber nicht ans Steuer gesetzt werden.
Die Therapeutin hat gesagt, wenn ich merke, dass das Selbst auseinander fällt und Zeitreisen passieren, kann ich ein paar Übungen ausprobieren, also mache ich das.
Sie hat auch gesagt, ich soll stolz sein, wenn ich es bemerke, egal, ob die Übungen helfen oder nicht, also versuche ich das.


Ein paar Stunden vor meinem Geburtstag sitze ich mit Thekenzwergin und Thekenzwerginmann hoch oben auf dem Betonklotz, esse vegane Lasagne, höre die Bands, die ich eigentlich gesehen hätte und schaue mir an, was der Himmel so macht. Die Thekenzwergin hat Abschlusskram vollbracht und meine Mutter vor einiger Zeit das Ergebnis ihres Fremdficks aus sich rausgepresst, das kann man schon mal feiern.
Statt Kuchen und ein paar Bier habe ich nur mich selbst mitgebracht, macht aber irgendwie anscheinend nichts; dass ich aufgetaucht bin, sei Leistung genug, sagen sie und meinen es anscheinend auch so und ich bin wieder überlastet und selbst das ist ok und überlastet mich darum noch mehr.
Kann ja keiner damit rechnen, dass so ein Leben auf einmal anfängt, zu funktionieren,nur, weil man seit Jahren an dem Ding und sich selbst arbeitet.

Am Morgen meines Geburtstags laufe ich durch die große, schlafende Stadt, die meine ist. Höre ihr beim Atmen und schaue der Sonne beim Aufgehen zu.
Ich denke an ein paar vergangene Aufführungen und gelesene Theaterstücke, und zwischendurch an ganz banale Dinge wie die Frage, ob ich bei rot über die Ampel gehen kann, wenn mich keiner sieht.
Ich entscheide mich dagegen; kann ja sein, dass da gerade kein Auto kommt, aber überfahren werden wäre jetzt wirklich unpraktisch.

Also stehe ich an einer Kreuzung, minutenlang, es kommen immer wieder LKWs vorbei aber immer in Abständen, die groß genug wären, um von Verkehrsinsel zu Verkehrsinsel bis zur anderen Straßenseite zu kommen.
Ein Radfahrer kommt kurz neben mir zum Stehen und fragt mich auf russisch, ob ich von hier bin, und dann sicherheitshalber nochmal auf englisch; erklärt mir, dass ich da ruhig rübergehen kann.
"Danke, ich möchte da aber kein Risiko eingehen, überfahren werden wäre momentan wirklich unpraktisch."
Ich habe Katzen, die auf mich warten und Freunde, denen ich fehlen würde.
Eine Stadt, die meine Heimat ist.
Einen Vater, dem ich nicht egal bin.
Ich habe einen Studienkredit abzubezahlen.
Ein Masterprojekt zu erledigen, einen Vortrag zu verschriftlichen und einen weiteren vorzubereiten.
Eine letzte Haus- und eine erste Abschlussarbeit zu schreiben.
Familienbannkreise zu brechen und Wahrscheinlichkeiten zu töten.
Ich vollbringe gerade das große Trotzdem, ich habe keine Zeit für Unfälle.
Also warte ich, bis die blöde Fußgängerampel endlich grün wird.
Komme auf der anderen Seite an und dann irgendwann auch nach Hause.
Grüße die Katzen, schminke mich ab, putze meine Zähne.


Am Morgen meines Geburtstags sitze ich vorm Laptop, schreibe eine Mail, hänge einen Scan an und drücke auf Absenden.

Und am Nachmittag meines Geburtstags sagt mir eine Mail, das ist doch alles bürokratische Kackscheiße,für so ein Hin und Her hat doch niemand Zeit, ich hab da mal ein bisschen nachgeholfen. Viel Erfolg, Ihre Abschlussarbeit ist jetzt angemeldet. Alles Gute zum Geburtstag, Frau Mayhem, Sie machen das schon.




Montag, 6. Juli 2020
..ich zu sämtlichen Instanzen und Selbsts in meinem Kopf. Kleinigkeiten begegne ich mit Ausnahmezustand, Ausnahmezuständen mit Pragmatismus.

Der Kopfkrieg erscheint immer öfter wie ein Ringkampf mit meiner Mutter; weniger, weil sie da plötzlich mitspielt (ok, ein bisschen mehr als sonst vielleicht, aber die Welt macht gerade auch seltsame Sachen), eher, weil ich es immer häufiger schaffe, das, was aus dem Hirnsumpf hochtentakelt, zu packen und, wenn schon nicht immer auf den Seziertisch, so doch wenigstens unter die OP-Leuchte zu hieven (in Blitzgeschwindigkeit, bevor es mir wieder entgleitet).
Und naja, meistens ist es dann doch kein Seeungeheuer, sondern einfach nur meine Mutter oder eine ihrer Streubomben.
(Ich war versucht, zu schreiben, dass ein Seeungeheuer vielleicht einfacher zu handhaben wäre - da ich kein Seeungeheuer persönlich kenne und auch keine Lust habe, dass der Hirnsumpf eines ausbrütet, um das zu ändern, habe ich es dann doch lieber gelassen)

Meistens tue ich dann das, was sie schon zu Lebzeiten furchtbar aufgeregt hat: ganz ruhig und gelassen darauf hinweisen, dass Streubombenabwerfen auf Andere nichts an den eigenen Baustellen ändert und es eine ziemlich armselige Nummer ist, sich auf diese Art Ersatzbefriedigung dafür verschaffen zu wollen, dass man sein eigenes Leben verkackt hat. "Ich krieg's nicht hin, mir meine Probleme einzugestehen und an ihnen zu arbeiten, deshalb gehen sie nicht weg, und deshalb muss ich dafür sorgen, dass andere auch welche haben"? Nee Mama, so funktioniert das nicht.

Hört sie natürlich nicht gerne. Und die Stille, wenn ich sie danach ignoriere und mich jeder weiteren Diskussion verweigere, erst recht nicht. Ist mir aber egal, da muss sie jetzt durch. Ich bin alt genug, um mir selbst eine ganz hervorragende MutterVaterKind-Personalunion zu sein.

Das ist natürlich alles nicht so friedlich, wie es jetzt klingt.
Schließlich ist meine Mutter die Person, von der ich die Emotionalität, das Intensive und das Chaos habe, und Schauspielerin ist sie auch noch.
Btw, ich bin besser.
Wollte ich nur mal so erwähnt haben.
Spiele nämlich gemeinhin mehr als ein- und die selbe Rolle, und kann außerdem beurteilen, wann an die Stelle des kompulsiven Schauspiels vielleicht doch lieber Lebensbewältigung treten sollte.


Apropos Lebensbewältigung:
Die finale Version des Abschlussarbeit-Konzepts ist erledigt, abgegeben und seit heute genehmigt. Das heißt, ich kann sie jetzt anmelden.
Das heißt, dass es bald los geht mit dem Ding.
Das heißt, dass ich, sofern ich die andere Hausarbeit auch noch fertig kriege, in absehbarer Zeit den ersten Abschluss geschafft habe.

Es ist toll, dass das geklappt hat.
Weniger toll ist, dass es auf den letzten Drücker war, weil in meinem Kopf ein derartiges Spektakel gefeiert wurde, dass ich drei Stunden vorm Mailprogramm saß, bis ich die Nachricht abgeschickt hatte und ich zweimal eine Panikattacke niederringen musste.
Ich meine, ich hab' ja Routine mit sowas, und das darf meinetwegen alles rumschreien und tentakeln wie es will,wenn es unbedingt will, aber doch bitte mit etwas Rücksichtnahme auf den Zeitplan.
Ich habe hier nicht nur im Hirnsumpf zu fischen und Mutterstreubomben auszuweichen, sondern auch akademische Großartigkeiten zu vollbringen, da kann man schon mal höflich darum bitten, dass im Hirnwohnzimmer wenigstens dann Ruhe ist, wenn ich versuche, zu arbeiten.


Immerhin, ein weiteres Mal das große Trotzdem auf dem Weg zum richtig großen Trotzdem vollbracht.
Nachts, mit runter geheultem Makeup (Nein, der Eyeliner war wohl doch nicht wasserfest), zwischenzeitlich mal auf dem Boden zusammengerollt und hyperventilierend, irgendwann wieder am Rechner, einen Satz tippen, und nochmal das Ganze, und wieder zurück an den Rechner.

Und, Novum: nicht ganz alleine.
Gegen 22 Uhr der Thekenzwergin geschrieben, ob sie sich das Konzept mal durchlesen kann, im meinem Hirnwohnzimmer tobt gerade eine dermaßen laute infernale Party, dass ich nicht mehr höre, wie der Text zu beurteilen ist und ob ich den abschicken kann.
Die Thekenzwergin wundert sich nicht, die Thekenzwergin beschwert sich nicht, die Thekenzwergin stellt keine Fragen. "Schick mir das mal, ich lese mir das durch und danach können wir telefonieren, wenn du das möchtest."
Fast eine Stunde für vier Seiten Korrekturlesen erscheint mir dann irgendwie etwas viel, gleichzeitig traue ich mich aber nicht, nachzuhaken.
Also beobachte ich, was ich so mache, versuche, das Selbst wieder einzusammeln, wenn es auseinanderfallen und Zeitreisen in die Vergangenheit starten will und schaffe es, ein paar Kleinigkeiten im Konzept zu verbessern.

Klingt wieder friedlicher, als es war - man muss sich im Hintergrund das Geschepper der infernalen Party im Hirnwohnzimmer vorstellen, sekündlich einschlagende Mutterstreubomben und den ganzen anderen Kram, der sich so meldet, wenn man circa 0,37cm davon entfernt ist, in den Hirnsumpf zu fallen.

Trotzdem, in dieser Nacht falle ich nicht rein.
Die Thekenzwergin antwortet, sie wollte eigentlich nur kurz Henna in die Haare packen, hat aber unterschätzt, wie lange sowas dauern kann, letztes Mal hatte das ihr Mann für sie übernommen, aber der schläft schon. Nee, das ist voll ok, dass wir jetzt das Uni-Ding machen und telefonieren, sie geht eigentlich nie vor vier Uhr schlafen, Abschlussdruck und Thekentätigkeit formten diesen Schlafrhythmus.
Wir verquatschen uns, weil man sich mit der Thekenzwergin immer verquatscht, und während sie so von der Arbeit erzählt, und vom Haarefärben, und vom geplanten Hund und den Festivals und der Musik und dem Alltag und dem Leben da draußen und und und und und und

legt sich der Schalter in meinem Kopf um und die Zeitreise hört auf.
Sammle ich die Selbsts wieder ein, füge sie zusammen und bringe sie in die Gegenwart.
Fange ich an, ganz schlimm zu weinen, aber ohne Panik und ohne plötzliches Dissoziationsnebelende.
Legen die Hirnsumpfgestalten auf der infernalen Party eine Spielpause ein.
Gehen wir das Konzept durch und sie sagt, das wäre sogar für eine Doktorarbeit gut genug, woraus wir schließen, dass es den Ansprüchen meines Betreuers knapp genügen dürfte, und irgendwie ist das tatsächlich lustig.
Sie bleibt am Telefon, als ich noch ein paar Format-Sachen ändere und das Ganze in ein pdf umwandle.
Und auch, als ich versuche, endlich die dazugehörige Mail zu schreiben.

Es klappt.
Um 0:57 Uhr ist das Konzept abgeschickt.

Um 09:30 Uhr kommt eine Mail vom Betreuer zurück.
Schönes Konzept, klingt, als wisse ich, was ich vorhabe und wie ich es umsetze, er ist schon gespannt, was dabei rauskommt.

Das bin ich auch.




Donnerstag, 2. Juli 2020
In die Projektbesprechung (Masterkram) eingeloggt mit dem Ziel, zu erklären, warum ich das wahrscheinlich hinschmeiße. Ansprüche und Zeitplan absolut inkongruent mit den anderen, dringenderen Baustellen, gerade in der momentanen Situation. Krieg ich schlicht und ergreifend nicht hin.

Also die Schwierigkeiten beschrieben, und dass das Thema interessant, aber momentan für mich nicht zu stemmen ist.

Dozent findet es super, wie toll ich meinen Arbeitsprozess beschrieben habe, man merke, dass ich da engagiert dabei bin, mich auskennen würde und außerdem hätte ich da wirklich gute Zwischenergebnisse gebracht.
"Viel Erfolg noch, Frau Mayhem! Sie machen das super so, ich freue mich schon auf die Präsentation nächste Woche!"

Das Leben hat Humor.




Alles ein Kampf, der oft wie einer auf dem verlorenen Posten aussieht.

Dann die Seminare, die ich mag. In denen ich gut bin. So gut, dass sogar ich anfange, an meine Kompetenz zu glauben.
Natürlich wieder die Gegenstimme im Hirn, die es abwerten will. Zählt weniger, ist jetzt nicht wichtig, sind ja nur ein paar Kurse, hier ist der, in dem du schlecht bist, hier ist deine Abschlussarbeitsblockade, hier ist die unfertige Hausarbeit aus dem letzten Semester, hier sind Waisenrente, Studienkredit, Krankenkasse und die anderen Sachen, von denen du schon mehrfach gesagt hast, wir machen das nach Anmeldung der Abschlussarbeit, abermanwirdjanochpöbelndürfen.

Nö.

Egal, was sie so ausgräbt: wenn meine Mutter wieder loslegt, sage ich ihr, nö, halt die Fresse, du bist tot, komm mal klar ey.

Rutsche trotzdem manchmal weg. In die Vergangenheit (seit die Therapeutin die Ego States-Geschichte erwähnt hat, kann ich es immerhin benennen. Und seit es einen Namen hat, fällt es mir leichter auf) oder den Dissoziationsnebel. Oder einfach ganz normales AngstAnspannungLähmungErschöpfungÜberlastungEmotionenAAAH.
Ziemlich oft sogar.
Aber: dann ist das eben so. Mach ich meine Sachen halt trotzdem.
Oder versuche es.


Im Seminar Expressionismusquerschlag, ich unvorbereitet, unkonzentriert und verunsichert aber trotzdem ganz vorne mit dabei.
Es klappt, gut sogar.
Einmal vorgespult, wie es sein könnte.
Es hängt an einer Bachelor- und einer halben Hausarbeit. Wieso hänge ich da überhaupt fest? Es wäre bewältigbar. Ich kann das. Ich komme mit komplizierteren Dingen klar. Da müssen nur ein paar Sachen geschrieben werden, beides zusammen gerechnet vielleicht 40, 50 Seiten, das ist doch keine große Nummer.
Ein Kommilitone, gerade ruminterpretierend an KeineAhnungWelchemText wirft ein: "Das mit dem Untergang, also, was wir da beachten sollten: ein Untergang kann ja auch etwas positives sein".


Videochat mit Legolas, keine Ahnung, wann wir das letzte Mal Kontakt hatten. Paar Jahre bestimmt, da hieß es von mir noch "wenn du dein Abi nachgeholt hast, hab ich hoffentlich meinen ersten Abschluss fertig".
Legolas ist Schnellstudierer und generell so produktiv, dass sogar er selbst Angst bekommt. Dabei wächst es nicht mal aus Verdrängung oder Wahn, sondern einfach so, auf einem, hold your beer, stabilen Fundament.
Dann und wann hüpft auf dieser oder jener Seite des Bildschirms eine Katze durch's Bild, oder zwei.
Allgemeiner Musikabgleich, was man so verpasst hat.
Immer noch unendliche Dankbarkeit seinerseits, dass ich einfach ganz pragmatisch in den Sumpf gestiefelt bin und ihn da rausgezogen habe, als wäre das ein Routine-Eingriff und keine große Sache.
Allgemeiner Lebensabgleich, was man so verpasst hat.
Mit dem Großteil des gemeinsamen Freundeskreises haben wir beide nichts mehr zu tun und stellen fest, ist auch eigentlich egal, was die so machen.
Ob ich es gehört habe, Mr.Gaunt und Heirat und so.
-Jaja, hab ich mitgekriegt, manchmal freue ich mich für die zwei, meistens ist es mir aber tatsächlich echt egal.
Hm, ja, das hat dich ja damals schon mitgenommen.
- Ja, passiert halt.
Dann, feierlicher Legolas-Moment:
"Projektionen sind ja etwas menschliches. Und das war ja damals auch so eine Sache. Aber:
Alles, was du in ihm sehen wolltest, und was er so gerne sein wollte:
Das extrovertierte, manchmal laute, wahnsinnig intensive, verpackt mit der Musik, den ganzen Piercings und Tattoos und den Haaren in eine Persönlichkeit, die ihr eigenes Gravitationsfeld hat.
Das bist du nicht nur geworden. Das hast du übertroffen.
Und ich bin mir sicher: du vollbringst noch Großes."

Könnte ich eigentlich mal machen.
Irgendwo muss ich mit meinem Potenzial ja schließlich hin.




Dienstag, 2. Juni 2020



Allgemeine Hirnüberlastung, mittlerweile hinterfragen allerdings etwa 10% meines Verstandes die anderen 90%, die von Rückschritt oder absolutem Stillstand, in jedem Fall aber unausweichlichem Super-GAU sprechen.
(Dory hat mal gesagt, Stillstand sei das Aufrechterhalten eines erreichten Zustands, es überführe diesen in den dauerhaften Bereich und gelte somit auch als Fortschritt).

Die Arbeit an der Abschlussarbeit ist nach Bestätigung der Fristverlängerung temporär pausiert, weil der Gottimperator eines Masterseminarprojekts beschlossen hat, dass das Ding noch vor dem Ende der Vorlesungszeit fertig sein muss.
Ich bin mit Zwischenschritt 1 mittlerweile eine Woche zu spät dran, eigentlich sollte Zwischenschritt 2 bis spätestens übermorgen erledigt sein und generell grenzt die Mission so ein bisschen an Wahnsinn, Prüfungsleistung und -zeitpunkt sind allerdings alternativlos.
Kurz Krise, dann Mail schreiben, dann: "Sie hatten ja einen Nachteilsausgleich bis letztes Semester. Sofern Ihre Einschränkungen noch bestehen, gehen wir jetzt einfach mal davon aus, dass er verlängert werden wird und Sie arbeiten einfach so zügig wie möglich".
Kurz Krise, weil das keine absolut klare Zeitangabe ist und außerdem wieder irgendwas aus dem Hirnsumpf ruft, dass ich Dinge gar nicht so gut und zügig mache wie möglich, sondern mich nur anstelle, nur Ausreden suche, nur faul bin. Dann packe ich das Projekt auf die Liste der akuten Monstrositäten, auf eine mehr oder weniger kommt's bei der Gesamtbilanz eh nicht mehr an.
Auch nicht darauf, ob da was unwahrscheinliches oder was beinahe-unmögliches erledigt werden muss.
Die Gesamtbilanz sagt nämlich, dass ich genau das kann.


Die Hirnüberlastung wird manchmal von tatsächlicher Erschöpfung abgelöst, die im Vergleich zum Kopfkrieg deutlich einfacher zu handhaben ist. Sie ist rational und logisch, und sie hat Manieren. Sie nimmt mich ebenso ernst wie ich sie; weiß, dass es in den nächsten Monaten keine nachhaltige Entspannung geben wird, und ist daran interessiert, Kompromisse auszuhandeln, die ihr ebenso weiterhelfen wie mir und dem Zukunfts-Ich.

Die Erschöpfung verordnet mir eine mehrtägige Pause und lässt nicht mal vom Kopfkrieg Widerworte zu.
Ungefähr 30 Seiten für's Masterseminarprojekt gelesen, ein paar Sätze geschrieben, mehr nicht. Zwischendurch mit Tante Emma telefoniert, weil sie das gerade braucht. Mental davon verabschiedet, sie aus der Beziehung zu dem grenznarzissistischen Spinner, der ihr Verlobter ist, rausholen zu können. Bin es Leid, die immergleichen, immer wiederkehrenden Probleme mitzufühlen, mitzudenken und das immer wieder, immer gnädig, jedes Mal, wenn sie wieder zurückrudert oder relativiert.
Kann sie verstehen, sagt sie. Sie hat irgendwie schon auch das Gefühl, dass da was nicht passt, aber er kann ja auch nett sein. Dann muss sie auflegen, weil er ist grad aus seinem Nachmittagsschläfchen aufgewacht und regt sich auf, dass sie auf dem Balkon sitzt, auf den er sie befohlen hat, weil er sonst nicht schlafen kann.
"Ok."
Ich investiere da nicht mehr. Erschöpfung macht nicht emotionslos, aber pragmatisch.

Wäsche waschen, ein paar Pflanzen umtopfen.
Selbst das ist ein immenser Kraftakt, wie auch das Pause machen an sich, weil der Kopfkrieg keine Ruhe geben will. Die Stimme meiner Mutter gibt ein Geisterachterbahnkonzert.
Ich teile ihr mit, dass sie ganz schön selbstbewusst ist für jemanden, der in keinem einzigen Lebensbereich je das erreicht hat, was ich schon jetzt geschafft habe, und der seine gesamte Zeit damit verbringt, andere sabotieren zu wollen, um nicht mit dem eigenen Versagen konfrontiert zu werden und um davon abzulenken, dass er vielleicht nicht am Ursprung, wohl aber an Umfang und Dauer seiner Misere selbst schuld ist. Es gibt kein Erbe, das nicht ausgeschlagen werden kann.

Beschließe, dass ich jetzt lerne, freiwillige Pausen zu machen und sie auszuhalten, auch, wenn irgendwer aus dem Hirnsumpf meint, dass das so nicht geht und alles viel zu lange dauert (hab schließlich besseres zu tun, als auf betrunkene ü40-Frauen zu hören, die seit 13 Jahren tot sind).


Im Zuge dieser Maßnahme auch die Thekenzwergin und ihren Mann besucht; der erste (zwischen)menschliche Kontakt seit März.
Also, emotional, nicht physisch.
Maske im Bus, Abstand auf der Dachterasse.
Trotzdem: Menschen.

Der Thekenzwerginmann grillt, die Thekenzwergin macht Unisachen und Hundadoptionssachen. Wir sitzen in Campingstühlen und trinken Bier, zwischendurch schauen Leute aus Fenstern, betreten ihren Teil der Terasse oder gehen wieder rein, weil es langsam kalt wird.
Die Gegend ist sehr sauber, sehr modern und sehr teuer; wären wir nicht auf dem Dach eines riesigen hässlichen Betonklotzes, würde ich sie 'nobel' nennen.
Trotzdem sind irgendwie alle freundlich. Man winkt uns, wünscht weiterhin gute Gesundheit und noch einen schönen Abend.

Die Thekenzwergin, einzige Studentin unter den Mitgliedern der 593919345124921 Mietparteien sagt, sie war anfangs auch verwirrt, man gewöhnt sich aber dran und meint damit den Klotz ebenso wie eine Realität, in der Dinge plötzlich gut werden.
In der man nach geschmissenem Erststudium und Fachwechsel auf einmal kurz vorm Bachelor ist, während man den Master angefangen hat, in ein paar Wochen die erste Abschlussarbeit abgeben wird und irgendwie scheint es tatsächlich zu klappen.
In der Geldsorgen bewältigbar sind und auch die Angst.
In der glückliche Ehen passieren, weil neben diesem Liebe-Ding, das sich auf Menschen bezieht statt auf Projektionen, auch die Kommunikation funktioniert, konstruktiv, respektvoll und ehrlich,wie man das so macht, und die Punkte auf der "Ich brauche das"-Liste der menschlichen Eigenschaften erfüllt sind.
In der Omas nach Afrika auswandern, aber trotzdem zweimal im Jahr selbstgestrickte Socken schicken.
Und Eltern über ein derart unerschütterliches Maß an Freude, Stolz-Sein und Vertrauen verfügen, dass es selbst dann noch da wäre, wenn die Sonne implodiert und uns alle auffrisst.

Der Thekenzwerginmann sagt, er ist immer noch regelmäßig verwirrt, verängstigt, überfordert oder gleich alles auf einmal, aber vielleicht gewöhnt man sich daran und meint damit nicht den Klotz (er ist ein Stück älter und finanzstärker als wir), sondern eine Realität, in der Dinge plötzlich gut werden.
In der man nach zwei Studiengängen und achtzehn Semestern einen Job findet, der nur entfernt und mit sehr großzügiger Betrachtungsweise etwas mit den studierten Fachbereichen zu tun hat, weil zufällig jemand an der richtigen Stelle sitzt und der Meinung ist, dass geht schon, Persönlichkeit und Menschlichkeit sind einfach mal wichtiger als die paar Wissenslücken, die sich locker beseitigen lassen.
Und in der es dann tatsächlich auch geht.
In der man trotzdem beschließen kann, den Job zu schmeißen. Und dann auch wieder einen neuen findet.
Und danach noch einen.
Und dann ist man auf einmal auf nem Beamtenposten und verdient genug, um nebenher noch ein drittes Studium per Fernuni aufnehmen zu können.
In der die eigenen Eltern zu denen gehören, die machen, dass man sich selbst die MutterVaterKindPersonalunion sein muss.
Und dann hat man auf einmal 'ne Freundin und deren Eltern nehmen einen einfach an und auf und überhaupt.
Eine Realität, in der der Beziehungen traumatisieren und der ganze andere Scheiß eh, also verarbeitet man und arbeitet dran. Immer wieder und immer weiter.
Vollbringt nebenher Großartigkeiten und fällt in Abgründe. Immer wieder und immer weiter.
Und man wird besser.
Und auf einmal sind da Chancen und Möglichkeiten und Potenziale, und Dinge passieren, gute Dinge, und das Glück haut dir auf die Fresse und das Leben mit geballter Positivfaust in die Magengrube, dass dir die Spucke weg bleibt.
Und es fühlt sich vielleicht nicht wie Normalität an, verhält sich aber trotzdem so und bleibt einfach dabei.
Egal, wie misstrauisch man es beäugt.

Das Mögliche Ist Ungeheuer
Das Ungeheure Ist Möglich.