Wir sind keine Seelenverwandten,sie kann nicht gut zuhören, intellektuell ist sie eher..,ach, reden wir nicht drüber, wüsste sie, wie es in mir aussieht,würde sie es nicht verstehen, und tiefgreifendere Gedanken brauch ich ihr nicht mitteilen,weil sie sie schlicht nicht versteht, aber heute hat meine Nachbarin indirekt mein Leben gerettet.


Sie stand vor der Tür, wie sie das öfters macht,spontan-unangemeldet, und mit dem Wunsch, jetzt genau in diese Moment etwas unternehmen zu wollen.
Diesmal hatte sie wieder ihren Hund dabei, einen vom Idealgewicht etwas abgedrifteten Beagle, und fragte, ob ich spazierengehen wollte.
Bergauf durch fremde Gärten und ein Stück Wald, reden und atmen und reden und atmen, bereits nach der Hälfte des Weges bin ich völlig fertig, fuck, meine miese Kondition war doch auch mal besser.. sie beruhigt mich und sagt, bei ihr ists doch auch so. Ich füge in Gedanken hinzu: aber du musst nicht im Rahmen deines Oberstüflerinnendaseins im Oktober den 5km-Schulmarathon in weniger als 30 Minuten schaffen.
Ein bisschen belangloses Gerede, bis sie das Gespräch zur alten Sache bringt, der für sie nichts weiter ist, als ein Mann,in den ich mich ein bisschen verliebt habe.
Das Gespräch verliert etwas an Leichtigkeit, ich wirke auf mich mich erstaunlich gefasst und gefühlsleer, als ich sie über seine Freundin informiere.
Nachbarin beginnt,mir zu erzählen,wie toll doch das Singleleben ist, mit seinen ganzen Pluspunkten wie einer Armee von Verehrern, die nur darauf warten, einen zu umschwärmen und Getränke zu spendieren (Ich wäre schon froh, wenn mir einer übern Weg laufen würde), die Unabhängigkeit (wenn einem die in einer Beziehung so komplett verloren geht, stimmt etwas mit der Beziehung nicht..) und so weiter und so fort.
Wir einigen uns darauf, dass ich manches davon zwar auch sehe, aber "mein bisschen Liebeskummer" (ha, ha) mich immer mal wieder in Negativgedanken runterzieht.
So wie in diesem Moment..


...und dann waren wir draußen aus dem Wald und auf der alten Panzerstraße.
Bis zum Horizont Felder und ein wenig Wiese, mitten hineingegraben in dieses Bild eine Schneise aus hellgrauem Beton, doppelt so breit wie normale Straßen, wirbelnder und wehender Wind, der meine Ohren sofort auf Minusgrade tiefkühlte, sodass ich zum Zwecke der besseren Isolation das Zopfband löste und mein Haar die restliche Zeit offen trug.
Vor meinen Augen dunkelrote Strähnen,in den schmalen Lücken zwischen ihnen helles Sonnenlicht, der Nachbarin fegt es die Mütze vom Kopf und sie rennt fluchend los,um sie zu fangen,hinter ihr her hetzt der Hund und trainiert damit gleich in Richtung Idealgewicht.
In meinem Kopf setzt eine bekannte Melodie ein.
Sie rennen weiter, irgendwohin, und ich stehe alleine mitten auf der Panzerstraße.
-Sonne im Gesicht.
-Das Lied ist beim Teil vorm Refrain angekommen.
Ich erinnere mich.
-Inzwischen Ohren-und Kopfschmerzen von der Kälte.
Ich erinnere mich.
Als ich das letzte Mal mit dem Lied hier gelaufen bin, lag Schnee,hüfthoher Schnee. Am Rand der Panzerstraße waren die Schneeberge höher als ich, und gelegentlich wühlte ich mich in einen rein,um aus einer interessanteren Perspektive irgendetwas zu fotographieren.
Einmal habe ich es geschafft, bin über einen Weg gelaufen, der nicht mehr da war, stand dafür bis zum Hintern im Schnee, habe mich aber weitergewühlt und bin dann auf den größten Schneeberg geklettert,den ich finde konnte.
-Wind überall.
Und da war Sonne.
Das ist Kunst, mindestens in 1000 Jahren
Konnte gefühlte Kilometer weit sehen und um mich herum auch nichts als Weite, Felder und Wiesen kein Unterschied mehr, alles unter einer weißen Decke, nur stellenweise unterbrochen durch Strommasten und durch die Panzerstraße,die auf einmal gar nicht mehr so mächtig wirkte, und der Wind wehte mir die Mütze vom Kopf und sie landtete im Schnee, und der Schal, den ich mir über Mund und Nase gebunden hatte, hielt die Kälte genauso wenig ab wie die dicke Kapuzenjacke,die inzwischen verschwunden ist, und der Wind pfeifte ganz furchtbar, aber in diesem Moment nahm ich es nur wahr, mehr nicht, denn in diesem Moment war da sowas wie Freiheit.
Frei von allem,der ganze Dreck abgeschüttelt, unten gelassen, im Dorf. Frei von allem.
Frei vom ehemaligen Problem, einer der Hauptgründe, wieso ich an diesem Tag spazieren gegangen war. Wollte den Kopf freibekommen.
Ich erinnere mich wieder,
seit diesem Tag hör ich Frittenbude.

Diese eine Szene wurde von mir nicht bildlich festgehalten, ich habe an dem Tag einige Fotos gemacht, aber keines reicht heran an das Original.
Aber seit diesem Tag sehe ich jedes Mal, wenn ich Mindestens in 1000 Jahren höre, ein unendlich weites Schneefeld vor meinen Augen auftauchen, von oben betrachtet, mit einer winzigkleinen Baumgruppe am rechten Bildrand, einer unendlichen Linie aus zwischen Elektromasten gepanntem Kabel und einer lila Mütze unten im Schnee, immer,wenn die Melodie vorm Refrain und schließlich auch der Refrain selbst anfängt.


Als die Nachbarin samt Hund und Mütze zu mir herkommt, wirkt sie fast sowas wie beeindruckt.
"Das gerade,wie du da so dagestanden hast, mitten auf der Panzerstraße und der Wind deine Haare so ganz arg verwirbelt hat, und du da einfach so ganz ruhig gestanden hast und dich nicht bewegt hast...irgendwie, keine Ahnung..das war so...wow, ich weiß nicht, das hat irgendwie..so einen Ausdruck gehabt."