Thema: persoenlichkeitsfetzen
"...sondern ich will lediglich ein Leben haben, das mir passt wie eine nicht zwickende Unterhose."
So sitze ich hier, auf dem Veteranensofa, das ich so nenne, weil es das älteste im Oberstufenzimmer ist und zudem aussieht, als hätte es mindestens zwei Weltkriege und drei Revolutionen mitgemacht, wobei, eigentlich sitze ich nicht wirklich, sondern kauere, halb zusammengeklappt, weil das Sofa so eines aus mehreren Kissenteilen ist, die aber nicht mehr miteinander verbunden sind und weil ihm der Unterbau fehlt, weshalb es quasi den Anschein hat, als würde das Sitzmöbel mich auffressen wollen.
Ich sitze nicht alleine hier, da sind auch noch die in den Wänden überwinternden Spinnen, und außerdem habe ich meine aktuelle Lektüre bei mir, natürlich nicht die Schullektüre, wieso sollte ich die auch lesen, sondern eine andere, schönere, und weil sie so schön ist, sitze ich halbaufgefressen zusammengekauert im Sofa und streiche mit meinem winzigkleingewordenen Ikeableistift Textstellen an.
Ich mache das manchmal, Textstellen anstreichen; nicht, wenn ich eigentlich sollte, aber wenn ich freiwillig etwas lese,dann schon. In meinem Faust habe ich auch angestrichen, aber auch hier eher bei schönen als bei wichtigen Textpassagen. So eine Drameninterpretation kann man auch ohne Notizen hinrotzen, wird mit nicht besser, also gehts auch ohne.
Außer den Spinnen, dem Bleistift, dem Buch und mir ist keine weitere Lebensform im Raum, sieht man von der halbverschlossenen Aluminiumitalienerlieferdienstnudelschachtel ab, die auf dem Tisch in der anderen Hälfte des Raumes steht und von der ich jede Sekunde erwarte, dass sie in Richtung Fenster losrennt und sich mit einem piepsigen "Freiheeeeit!" rausstürzt.
Draußen Schneemassen, unendlich viele; mein Zug wird, wieder mal, Verspätung haben und ich, wieder mal, in tiefster Dunkelheit nach Hause stapfen und später die Einfahrt freiräumen müssen. Letzteres zumindest,wenn ich nett bin, mein Vater ist aktuell armverletzt und mein Großvater ist.. mein Großvater.
Beim Lesen musste ich ein bisschen an ihn denken, und ich habe mich gefragt, wieso mache ich so einem Aufstand wegen ihm, als ich gelesen habe, was mein potentieller Lieblingsautor neben Kafka da so schreibt, was sein Protagonist da erzählt übers Vergessen und seltsam werden, nur mit dem Unterschied, dass es da die Mutter ist und auf einem viel dramatischeren Niveau.
Als ich es gelesen habe, musste ich genauso schlucken wie der Protagonist. Ich kannte das ja stellenweise, die Verwirrung, das emotionale, die eingeschissenen Jogginghosen, aber das Nichterkennen, soweit waren wir nie. Soweit kam es nicht, weil sie vorher gestorben ist, und weil es bei ihr keine Geisteskrankheit war , die ihr das Gehirn aufgelöst hat, sondern der Alkohol, und da nichtmal der krasse Mist.
Sicher, es ging schon lange so, meine Mutter hat meinen Vater kennengelernt, da war sie so alt wie ich jetzt, und sogar damals gab es das Problem schon..
Aber die letzten 13 Jahre, als ich dann da war, man muss sich das mal vorstellen, diese Jahre, in denen sie sich endgültig ruiniert hat, da hat sie nur Bier getrunken. Zwischendurch Sekt, mehr nicht.
Dass bald was passiert, habe ich daran erkannt, dass sie zu Wein umgeschwenkt hat.
Sonst nix. Bier und Sekt und zwischendurch Tabletten für eine gesunde Leber, diese verschreibungsfreien, die man kaufen kann so wie Algenkapseln.
Ihre waren mit Mariendistel, die hat sie sich ab einer bestimmten Zeit immer gekauft und die genommen, hat nichts gebracht, ihre Leber war trotzdem doppelt so groß wie eine normale.
Von Bier und ein bisschen Sekt.
Eine dieser gescheiterten Existenzen, was ich so lange nicht wahrgenommen habe..
Sie hat doch immer gesagt, dass das normal ist.
Dass er nicht recht hat, wenn er sagt, sie trinkt, dass das einfach nicht stimmt, fertig.
Und ich dachte dann auch, er hat nicht recht, wenn er sagt, sie trinkt, das stimmt einfach nicht, fertig.
Sie war ja diejenige, die da war, nicht er; und sie fuhr Auto und manchmal holte sie mich ab, und auf seltsame Art und Weise war sie da, für mich.
Gegen Ende immer weniger.
Da war sie da, aber nur physisch und nichtmal das immer, und für mich erst recht nicht.
Und als das Problem mit dem ehemaligen Problem zum ersten Mal extrem wurde, da lag sie schon nur noch im Bett und bewegte sich nur raus, wenn es dringend nötig war und nichtmal dann immer, und meine Arme waren zu der Zeit aufgekratzt und meine Haare schwarz und ich hatte schon aufgehört, mich für sie zu schämen, ich war nur noch am Ende.
Da gibt es kein anderes Gefühl, an das ich mich erinnere, nur dieses Endzeitstimmungsschmerzleerenichtgefühl, und das, was das ehemalige Problem auslöste.
Ich hatte schon längst aufgehört, mich für sie zu schämen, sie ging ja auch nicht mehr unter Leute. Vorher, da hab ich mich geschämt, für ihre "Strähnchen", die sie sich verpasst hatte und die im Endeffekt einen großen, blondierten Fleck auf ihrem Oberkopf darstellten; dafür, dass sie irgendwann in der immergleichen Jogginghose-Sweatshirtkombi unterwegs war, in der sie dann auch gestorben ist; für ihr Verhalten, für all das. Den Eindruck, den sie hinterließ. Dauerhaft war er auf jeden Fall.
Dafür, dass sie mir frühs erzählte, als sie aufs Klo musste, da hat sie die Schlafzimmertüre nicht rechtzeitig gefunden, und unverständig schnaubte, sie wisse garnicht, wo genau mein Vater da jetzt ein Problem sehe, dafür habe ich mich dann nicht mehr geschämt.
Das war der Punkt, an dem ich sogar ein bisschen Angst hatte.
Das, und dass sie nicht mehr gegessen hat, und ich dachte mir, vielleicht ist sie hungeraufgebläht wie die Kinder in Afrika, weil sie trotz rigorosem Fasten nicht dünner wurde, im Gegensatz zu mir hatte sie das nämlich drauf, das Nichtessen, während ich immer wieder in halben Fressattacken endete und das auch heute noch oft genug passiert, auch an und nach Tagen mit wirklich ausgewogener und genug Nahrungsaufnahme.
Dachte, sie sei einfach hungeraufgebläht, das mit der Riesenleber, das konnte ich ja nicht wissen.
Weiß noch, wie seltsam sich das anfühlte, als ich es das erste Mal ausgesprochen habe, dass es der Alkohol war.
"Meine Mutter war Alkoholikerin"; dieser seltsame Satz.
Fühlt sich jetzt noch komisch an, sie sagte doch immer, sie ist keine..
Es hat sich so komisch angehört, als mein Vater es ihrem Bruder gesagt hat, der Alkohol wars.
Und er guckte so geschockt-wissend, der Bruder, weil es ja schon so lange so war. Drei Jahre später habe ich es erfahren,dass es schon länger so war, dass sie auch Fall "schwieriges Elternhaus" ist, wusste ich vorher, auch wenn ihres anders-schwierig war, mit sehr autoritärer Mutter, die ich später zunächst als dicke, konservative, manchmal sturköpfige Frau kannte, die ich nicht mehr ganz so positiv sah, als meine Gefühlsregungen nicht mehr ausschließlich durch gezielte Gabe von Süßigkeiten gesteuert werden konnten, dann nur noch in einem Krankenhausbett liegend und krebskrank, so wie die andere Oma auch, nur lag die ganz spontan in einem Raum mit vielen Schläuchen und war dann so einfach tot.
Und als ich das mit den vielen Schläuchen sah, da musste ich weinen, so richtig filmreif, dieses kurze Schockweinen mit Hand vor den Mund, 12 war ich da und meine Mama noch da, und in einer ruhigen Minute kam sie raus zu mir (der Krankenpflegemensch hatte mir auf einen Stuhl vor der Tür verpflanzt) und sagte, ich solle nicht so ein Theater machen, ich würde die Frau doch genauso wenig mögen wie sie das tue.
Als ihre Mutter das zweite Mal Krebs hatte, war sie schon tot, und ich weiß noch, als mein Vater und ich die Oma besuchen fuhren, sie hatten sie zum Sterben in eine kleine Klinik geschafft, noch kleiner als unsere Schule, und das Gebäude sollte ein paar Monate später abgerissen werden, war genauso dem Tod geweiht wie seine Bewohner. Man geht dort nicht hin, um behandelt zu werden, sondern zum sterben.
Mein Vater stellte es mir frei, mitzugehen, und eigentlich wollte ich, durch unzählige Krankenhausbesuche bei ihr gebeutelt, nicht mit, aber war dann doch da,wir standen um sie herum und sie sah so tot aus und ganz platt, ich weiß noch,dass mir das damals auffiel, wie ein überfahrener Kugelfisch. Wir standen so um sie herum und wussten nicht,was wir sagen sollten; eine seltsame Gesellschaft, sie, ihr sie abgöttisch liebender Sohn mein Pate, mein Vater, den sie immer abgelehnt und für schlecht befunden hatte (wie übrigens die komplette mütterlicherseits-Fraktion meiner Verwandschaft) und ich, die Brut, das,was rauskam, weil meine Mutter es sich herausgenommen hatte, meinen Vater, der doch nichtmal große Liebe war, trotzdem zu heiraten und dann auch noch ein Kind zu bekommen, das sie nicht so wirklich haben wollte, weil Kind zwar einerseits ganz nett ist, aber Karriere ja eigentlich auch, und weil ich dann auch noch die Frechheit besaß, zu früh in diese Chaoswelt zu wollen, musste sie auch noch auf ihre Verbeamtung verzichten.
Als wir meine krebskranke Kugelfischoma wieder verließen, meinte mein Vater, dass es vielleicht das letzte Mal gewesen war,dass ich sie gesehen hatte, damals kam mir das pathetisch vor, aber er hatte recht;
Für meinen Paten war das schlimm, innerhalb eines halben Jahres Schwester weg und Mutter weg, eigene Familie hat er ja nicht, und dann fing ich auch noch an, mich abzukapseln.
ich kapsle mich bis heute ab und weiß nicht wieso; meinem Vater macht das nichts, der mag die andere Verwandschaft da genauso gerne wie sie ihn, aber das schlechte Gewissen belauert mich manchmal, besonders, wenn zum Geburtstag immer irgendwas kommt oder zu anderen Festen,können ja mal Eisessen gehen,wenn du magst. Und ich könnte heulen manchmal, weil ich weiß,dass er traurig ist deswegen, aber melden kann ich mich trotzdem nicht.
Habe schon so lange vor, einen Brief zu schreiben, scheinbar ist schreiben für mich ja die einzige mir noch halbwegs mögliche Kommunikationsform, aber was sollte ich schreiben? Eine rationale Entschuldigung gibt es nicht, und alles andere versteht er nicht.
Verwandschaftsruinen.
Ich fühle mich abgekapselt von sämtlichen Familienbanden, was ist denn übrig? Verlaufen haben sich die spärlichen Reste einer sowieso nie sehr großen Verwandschaft, so viele an Krebs gestorben, die anderen auch, und die Reste melden sich nicht mehr oder ich habe mich weggekapselt, einzig mein Großvater ist noch da, der immer mehr zum Kind wird, seit mein Vater eine Freundin hat, der immer paranoider wird, der vereinsamt, aber meine Nerven so furchtbar strapaziert, dass ich inzwischen schon einen Wegschubsreflex habe, sobald ich ihn bloß sehe, und ich weiß nicht, wohin mit den Aggressionen und ich weiß nicht, ob er merkt, dass man mir anhört, wenn/dass er stört.
Wenn er es merkt, habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn er es nicht merkt.... ich weiß doch auch nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll, er vereinsamt und verkindlicht so vor sich hin obwohl wir da sind, "wir", das sind effektiv mein Vater, seine Freundin und ich, sein anderer Sohn, der kommt nur zwischendurch vorbei, schüttelt ein wenig den Kopf, schubst ihn ein wenig rum und Ende, und wir können ihm nicht wirklich helfen.
Und inzwischen erzählt er schon dem fremden Postboten die Wettervorhersage, seinen Essensplan und wann er was machen möchte.
Und will eigentlich keine Antwort, redet über mich hinweg und mich in Grund und Boden, auch,wenn gerade ich es bin, die mit meinem Vater redet, und nicht er; und erwartet doch,dass man ihm bedingungslose ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt.
Ich hätte nie gedacht, dass es so kommt.
Dass das alles so passiert..
Dass sie stirbt, die Hauptperson meines Lebens im Guten und im Schlechten, dass so viele so einfach sterben, dass die andere Frau da anrückt und keine Anstalten macht, wieder abzuhauen, dass ich so einfach ganz normal mit der Zweckgemeinschaft durch die Stadt laufen und junge Frau darstellen kann, während mein Herz gerade mal wieder von Stacheldraht zerquetscht wird,
Und dass ich mir über das alles nach der Lektüre von ein paar Seiten Vogelstimmen Gedanken machen kann, während mein Fotographielehrer mir sagt, ich solle doch mal in eine Spiegelreflexkamera investieren, falls ich das mit der Fotographie auch außerhalb des Unterrichts mache, weil die Ausstattung aus einem Bild, aus meinen "grundsätzlich nicht schlechten, künstlerischen Fotographien" nochmal extra was rausholen kann, und ich mich antworten höre, "nee, da besteht kein Interesse, das ist mir zu viel Rumgefummel an Einstellungen und es lohnt sich wohl nicht,ich mach auch nicht so viele Bilder", und mich später schlecht fühle wegen dieser Aussage.
Was hätte ich denn sagen sollen, "Ich habe kein Geld dafür und niemanden, der sich mit mir auf die Suche nach einer guten Kamera begibt, weil die einzige Person in meiner Familie, die auch gerne Fotos gemacht hat, die damals, als wir noch in den Urlaub gefahren sind, das letzte mal vor zehn Jahren, immer einen Fotoapparat dabei hatte und geknipst hat, weil diese eine Person seit 2007 weg ist und nicht wiederkommt, mich einfach so alleingelassen hat mit ihm, der nicht verstehen kann und das, was er verstehen könnte, nicht verstehen will, die mich einfach allein gelassen hat, erst alleine mit sich, jetzt alleine mit mir selbst, und ich muss verdammt noch mal alleine klarkommen, weil da einfach niemand mehr ist und oft genug nichtmal meine Katze für mich da ist"?
Habs nicht gesagt,logischerweise.
Ist wohl für alle Beteiligten einfacher, wenn ich eben nur seltsam bin, mehr nicht.
Mutterlos, zwar mit Zu Hause, aber nicht mit "daheim", ohne Spiegelreflexkamera.
Mit Trümmerverwandschaft.
Und vielleicht mit ein paar Seelennarben.
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Zitat aus Vogelstimmen von Dirk Bernemann.
So sitze ich hier, auf dem Veteranensofa, das ich so nenne, weil es das älteste im Oberstufenzimmer ist und zudem aussieht, als hätte es mindestens zwei Weltkriege und drei Revolutionen mitgemacht, wobei, eigentlich sitze ich nicht wirklich, sondern kauere, halb zusammengeklappt, weil das Sofa so eines aus mehreren Kissenteilen ist, die aber nicht mehr miteinander verbunden sind und weil ihm der Unterbau fehlt, weshalb es quasi den Anschein hat, als würde das Sitzmöbel mich auffressen wollen.
Ich sitze nicht alleine hier, da sind auch noch die in den Wänden überwinternden Spinnen, und außerdem habe ich meine aktuelle Lektüre bei mir, natürlich nicht die Schullektüre, wieso sollte ich die auch lesen, sondern eine andere, schönere, und weil sie so schön ist, sitze ich halbaufgefressen zusammengekauert im Sofa und streiche mit meinem winzigkleingewordenen Ikeableistift Textstellen an.
Ich mache das manchmal, Textstellen anstreichen; nicht, wenn ich eigentlich sollte, aber wenn ich freiwillig etwas lese,dann schon. In meinem Faust habe ich auch angestrichen, aber auch hier eher bei schönen als bei wichtigen Textpassagen. So eine Drameninterpretation kann man auch ohne Notizen hinrotzen, wird mit nicht besser, also gehts auch ohne.
Außer den Spinnen, dem Bleistift, dem Buch und mir ist keine weitere Lebensform im Raum, sieht man von der halbverschlossenen Aluminiumitalienerlieferdienstnudelschachtel ab, die auf dem Tisch in der anderen Hälfte des Raumes steht und von der ich jede Sekunde erwarte, dass sie in Richtung Fenster losrennt und sich mit einem piepsigen "Freiheeeeit!" rausstürzt.
Draußen Schneemassen, unendlich viele; mein Zug wird, wieder mal, Verspätung haben und ich, wieder mal, in tiefster Dunkelheit nach Hause stapfen und später die Einfahrt freiräumen müssen. Letzteres zumindest,wenn ich nett bin, mein Vater ist aktuell armverletzt und mein Großvater ist.. mein Großvater.
Beim Lesen musste ich ein bisschen an ihn denken, und ich habe mich gefragt, wieso mache ich so einem Aufstand wegen ihm, als ich gelesen habe, was mein potentieller Lieblingsautor neben Kafka da so schreibt, was sein Protagonist da erzählt übers Vergessen und seltsam werden, nur mit dem Unterschied, dass es da die Mutter ist und auf einem viel dramatischeren Niveau.
Als ich es gelesen habe, musste ich genauso schlucken wie der Protagonist. Ich kannte das ja stellenweise, die Verwirrung, das emotionale, die eingeschissenen Jogginghosen, aber das Nichterkennen, soweit waren wir nie. Soweit kam es nicht, weil sie vorher gestorben ist, und weil es bei ihr keine Geisteskrankheit war , die ihr das Gehirn aufgelöst hat, sondern der Alkohol, und da nichtmal der krasse Mist.
Sicher, es ging schon lange so, meine Mutter hat meinen Vater kennengelernt, da war sie so alt wie ich jetzt, und sogar damals gab es das Problem schon..
Aber die letzten 13 Jahre, als ich dann da war, man muss sich das mal vorstellen, diese Jahre, in denen sie sich endgültig ruiniert hat, da hat sie nur Bier getrunken. Zwischendurch Sekt, mehr nicht.
Dass bald was passiert, habe ich daran erkannt, dass sie zu Wein umgeschwenkt hat.
Sonst nix. Bier und Sekt und zwischendurch Tabletten für eine gesunde Leber, diese verschreibungsfreien, die man kaufen kann so wie Algenkapseln.
Ihre waren mit Mariendistel, die hat sie sich ab einer bestimmten Zeit immer gekauft und die genommen, hat nichts gebracht, ihre Leber war trotzdem doppelt so groß wie eine normale.
Von Bier und ein bisschen Sekt.
Eine dieser gescheiterten Existenzen, was ich so lange nicht wahrgenommen habe..
Sie hat doch immer gesagt, dass das normal ist.
Dass er nicht recht hat, wenn er sagt, sie trinkt, dass das einfach nicht stimmt, fertig.
Und ich dachte dann auch, er hat nicht recht, wenn er sagt, sie trinkt, das stimmt einfach nicht, fertig.
Sie war ja diejenige, die da war, nicht er; und sie fuhr Auto und manchmal holte sie mich ab, und auf seltsame Art und Weise war sie da, für mich.
Gegen Ende immer weniger.
Da war sie da, aber nur physisch und nichtmal das immer, und für mich erst recht nicht.
Und als das Problem mit dem ehemaligen Problem zum ersten Mal extrem wurde, da lag sie schon nur noch im Bett und bewegte sich nur raus, wenn es dringend nötig war und nichtmal dann immer, und meine Arme waren zu der Zeit aufgekratzt und meine Haare schwarz und ich hatte schon aufgehört, mich für sie zu schämen, ich war nur noch am Ende.
Da gibt es kein anderes Gefühl, an das ich mich erinnere, nur dieses Endzeitstimmungsschmerzleerenichtgefühl, und das, was das ehemalige Problem auslöste.
Ich hatte schon längst aufgehört, mich für sie zu schämen, sie ging ja auch nicht mehr unter Leute. Vorher, da hab ich mich geschämt, für ihre "Strähnchen", die sie sich verpasst hatte und die im Endeffekt einen großen, blondierten Fleck auf ihrem Oberkopf darstellten; dafür, dass sie irgendwann in der immergleichen Jogginghose-Sweatshirtkombi unterwegs war, in der sie dann auch gestorben ist; für ihr Verhalten, für all das. Den Eindruck, den sie hinterließ. Dauerhaft war er auf jeden Fall.
Dafür, dass sie mir frühs erzählte, als sie aufs Klo musste, da hat sie die Schlafzimmertüre nicht rechtzeitig gefunden, und unverständig schnaubte, sie wisse garnicht, wo genau mein Vater da jetzt ein Problem sehe, dafür habe ich mich dann nicht mehr geschämt.
Das war der Punkt, an dem ich sogar ein bisschen Angst hatte.
Das, und dass sie nicht mehr gegessen hat, und ich dachte mir, vielleicht ist sie hungeraufgebläht wie die Kinder in Afrika, weil sie trotz rigorosem Fasten nicht dünner wurde, im Gegensatz zu mir hatte sie das nämlich drauf, das Nichtessen, während ich immer wieder in halben Fressattacken endete und das auch heute noch oft genug passiert, auch an und nach Tagen mit wirklich ausgewogener und genug Nahrungsaufnahme.
Dachte, sie sei einfach hungeraufgebläht, das mit der Riesenleber, das konnte ich ja nicht wissen.
Weiß noch, wie seltsam sich das anfühlte, als ich es das erste Mal ausgesprochen habe, dass es der Alkohol war.
"Meine Mutter war Alkoholikerin"; dieser seltsame Satz.
Fühlt sich jetzt noch komisch an, sie sagte doch immer, sie ist keine..
Es hat sich so komisch angehört, als mein Vater es ihrem Bruder gesagt hat, der Alkohol wars.
Und er guckte so geschockt-wissend, der Bruder, weil es ja schon so lange so war. Drei Jahre später habe ich es erfahren,dass es schon länger so war, dass sie auch Fall "schwieriges Elternhaus" ist, wusste ich vorher, auch wenn ihres anders-schwierig war, mit sehr autoritärer Mutter, die ich später zunächst als dicke, konservative, manchmal sturköpfige Frau kannte, die ich nicht mehr ganz so positiv sah, als meine Gefühlsregungen nicht mehr ausschließlich durch gezielte Gabe von Süßigkeiten gesteuert werden konnten, dann nur noch in einem Krankenhausbett liegend und krebskrank, so wie die andere Oma auch, nur lag die ganz spontan in einem Raum mit vielen Schläuchen und war dann so einfach tot.
Und als ich das mit den vielen Schläuchen sah, da musste ich weinen, so richtig filmreif, dieses kurze Schockweinen mit Hand vor den Mund, 12 war ich da und meine Mama noch da, und in einer ruhigen Minute kam sie raus zu mir (der Krankenpflegemensch hatte mir auf einen Stuhl vor der Tür verpflanzt) und sagte, ich solle nicht so ein Theater machen, ich würde die Frau doch genauso wenig mögen wie sie das tue.
Als ihre Mutter das zweite Mal Krebs hatte, war sie schon tot, und ich weiß noch, als mein Vater und ich die Oma besuchen fuhren, sie hatten sie zum Sterben in eine kleine Klinik geschafft, noch kleiner als unsere Schule, und das Gebäude sollte ein paar Monate später abgerissen werden, war genauso dem Tod geweiht wie seine Bewohner. Man geht dort nicht hin, um behandelt zu werden, sondern zum sterben.
Mein Vater stellte es mir frei, mitzugehen, und eigentlich wollte ich, durch unzählige Krankenhausbesuche bei ihr gebeutelt, nicht mit, aber war dann doch da,wir standen um sie herum und sie sah so tot aus und ganz platt, ich weiß noch,dass mir das damals auffiel, wie ein überfahrener Kugelfisch. Wir standen so um sie herum und wussten nicht,was wir sagen sollten; eine seltsame Gesellschaft, sie, ihr sie abgöttisch liebender Sohn mein Pate, mein Vater, den sie immer abgelehnt und für schlecht befunden hatte (wie übrigens die komplette mütterlicherseits-Fraktion meiner Verwandschaft) und ich, die Brut, das,was rauskam, weil meine Mutter es sich herausgenommen hatte, meinen Vater, der doch nichtmal große Liebe war, trotzdem zu heiraten und dann auch noch ein Kind zu bekommen, das sie nicht so wirklich haben wollte, weil Kind zwar einerseits ganz nett ist, aber Karriere ja eigentlich auch, und weil ich dann auch noch die Frechheit besaß, zu früh in diese Chaoswelt zu wollen, musste sie auch noch auf ihre Verbeamtung verzichten.
Als wir meine krebskranke Kugelfischoma wieder verließen, meinte mein Vater, dass es vielleicht das letzte Mal gewesen war,dass ich sie gesehen hatte, damals kam mir das pathetisch vor, aber er hatte recht;
Für meinen Paten war das schlimm, innerhalb eines halben Jahres Schwester weg und Mutter weg, eigene Familie hat er ja nicht, und dann fing ich auch noch an, mich abzukapseln.
ich kapsle mich bis heute ab und weiß nicht wieso; meinem Vater macht das nichts, der mag die andere Verwandschaft da genauso gerne wie sie ihn, aber das schlechte Gewissen belauert mich manchmal, besonders, wenn zum Geburtstag immer irgendwas kommt oder zu anderen Festen,können ja mal Eisessen gehen,wenn du magst. Und ich könnte heulen manchmal, weil ich weiß,dass er traurig ist deswegen, aber melden kann ich mich trotzdem nicht.
Habe schon so lange vor, einen Brief zu schreiben, scheinbar ist schreiben für mich ja die einzige mir noch halbwegs mögliche Kommunikationsform, aber was sollte ich schreiben? Eine rationale Entschuldigung gibt es nicht, und alles andere versteht er nicht.
Verwandschaftsruinen.
Ich fühle mich abgekapselt von sämtlichen Familienbanden, was ist denn übrig? Verlaufen haben sich die spärlichen Reste einer sowieso nie sehr großen Verwandschaft, so viele an Krebs gestorben, die anderen auch, und die Reste melden sich nicht mehr oder ich habe mich weggekapselt, einzig mein Großvater ist noch da, der immer mehr zum Kind wird, seit mein Vater eine Freundin hat, der immer paranoider wird, der vereinsamt, aber meine Nerven so furchtbar strapaziert, dass ich inzwischen schon einen Wegschubsreflex habe, sobald ich ihn bloß sehe, und ich weiß nicht, wohin mit den Aggressionen und ich weiß nicht, ob er merkt, dass man mir anhört, wenn/dass er stört.
Wenn er es merkt, habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn er es nicht merkt.... ich weiß doch auch nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll, er vereinsamt und verkindlicht so vor sich hin obwohl wir da sind, "wir", das sind effektiv mein Vater, seine Freundin und ich, sein anderer Sohn, der kommt nur zwischendurch vorbei, schüttelt ein wenig den Kopf, schubst ihn ein wenig rum und Ende, und wir können ihm nicht wirklich helfen.
Und inzwischen erzählt er schon dem fremden Postboten die Wettervorhersage, seinen Essensplan und wann er was machen möchte.
Und will eigentlich keine Antwort, redet über mich hinweg und mich in Grund und Boden, auch,wenn gerade ich es bin, die mit meinem Vater redet, und nicht er; und erwartet doch,dass man ihm bedingungslose ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt.
Ich hätte nie gedacht, dass es so kommt.
Dass das alles so passiert..
Dass sie stirbt, die Hauptperson meines Lebens im Guten und im Schlechten, dass so viele so einfach sterben, dass die andere Frau da anrückt und keine Anstalten macht, wieder abzuhauen, dass ich so einfach ganz normal mit der Zweckgemeinschaft durch die Stadt laufen und junge Frau darstellen kann, während mein Herz gerade mal wieder von Stacheldraht zerquetscht wird,
Und dass ich mir über das alles nach der Lektüre von ein paar Seiten Vogelstimmen Gedanken machen kann, während mein Fotographielehrer mir sagt, ich solle doch mal in eine Spiegelreflexkamera investieren, falls ich das mit der Fotographie auch außerhalb des Unterrichts mache, weil die Ausstattung aus einem Bild, aus meinen "grundsätzlich nicht schlechten, künstlerischen Fotographien" nochmal extra was rausholen kann, und ich mich antworten höre, "nee, da besteht kein Interesse, das ist mir zu viel Rumgefummel an Einstellungen und es lohnt sich wohl nicht,ich mach auch nicht so viele Bilder", und mich später schlecht fühle wegen dieser Aussage.
Was hätte ich denn sagen sollen, "Ich habe kein Geld dafür und niemanden, der sich mit mir auf die Suche nach einer guten Kamera begibt, weil die einzige Person in meiner Familie, die auch gerne Fotos gemacht hat, die damals, als wir noch in den Urlaub gefahren sind, das letzte mal vor zehn Jahren, immer einen Fotoapparat dabei hatte und geknipst hat, weil diese eine Person seit 2007 weg ist und nicht wiederkommt, mich einfach so alleingelassen hat mit ihm, der nicht verstehen kann und das, was er verstehen könnte, nicht verstehen will, die mich einfach allein gelassen hat, erst alleine mit sich, jetzt alleine mit mir selbst, und ich muss verdammt noch mal alleine klarkommen, weil da einfach niemand mehr ist und oft genug nichtmal meine Katze für mich da ist"?
Habs nicht gesagt,logischerweise.
Ist wohl für alle Beteiligten einfacher, wenn ich eben nur seltsam bin, mehr nicht.
Mutterlos, zwar mit Zu Hause, aber nicht mit "daheim", ohne Spiegelreflexkamera.
Mit Trümmerverwandschaft.
Und vielleicht mit ein paar Seelennarben.
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Zitat aus Vogelstimmen von Dirk Bernemann.
huehnerschreck,
Donnerstag, 22. Dezember 2011, 13:13
"ich kapsle mich bis heute ab und weiß nicht wieso "
also ich finde ja, dass die vorherigen absätze eine hervorragende erklärung abgeben ... und wenn du das den leuten in (nachbarstadt) erzählst, dann sollte die aber sows von in blitzesschnelle sehen, was los ist, und was tun ... sag bescheid, wenn ich dir helfen kann.
dass du diese krasse nummer überhaupt so lange durchgestanden hast und nicht zusammengeklappt bist - ein wunder. das zeugt meiner meinung nach von einer immensen stärke. echtjetz.
ich drück dich.
also ich finde ja, dass die vorherigen absätze eine hervorragende erklärung abgeben ... und wenn du das den leuten in (nachbarstadt) erzählst, dann sollte die aber sows von in blitzesschnelle sehen, was los ist, und was tun ... sag bescheid, wenn ich dir helfen kann.
dass du diese krasse nummer überhaupt so lange durchgestanden hast und nicht zusammengeklappt bist - ein wunder. das zeugt meiner meinung nach von einer immensen stärke. echtjetz.
ich drück dich.