Freitag, 30. Dezember 2011
"So ein Arsch ey!"
Sie.
Sie ist so impulsiv-emotional, die Nachbarin. Sitzt da so sektbetrunken vor ihrem PC, an den sie vor einer halben Stunde spontan gestürmt ist, als ich ihr erzählt habe, dass das Problem vielleicht eine Freundin hat, hat ein Unterhaltungsfenster mit ihm offen und könnte fast explodieren, weil er ihr keine klare Antwort gibt.
Abiball.
Ja, geht er wohl hin.
-Mit wem?
Wisse er nicht so genau, mache er sich auch keinen Stress.
-Ja, wieso er nicht einfach seine Freundin mitnehme?
Wer sagt ihr denn, dass er eine hat?
-Also hat er keine?
Warum sie das wissen will.
- Weil sie halt neugierig ist. (Das stimmt sogar.)
Zu diesem Zeitpunkt kaute sie schon sehr aggressiv auf einer Strähne ihrer neuen Extensions herum und krallte die Hände regelrecht in den Tisch. Ich lag auf ihrem Bett, neben dem PC, Beine angewinkelt, Blick zur Decke, und war irgendwie jenseits von Gut und Böse.
Kurze Pause am anderen Ende der Internetleitung.
Ich sage, guck, jetzt hast du ihn verunsichert.
Sie, Boah, das ist so ein Idiot, dem ists scheißegal ob er da Abiball hat, wahrscheinlich würd der in Jogginghose und T-Shirt da hinschlappen! Und ich meine schulterzuckend, wäre ja mal was anderes. Ich seh das ja alles bisschen lockerer.
Sie sagt, ich bin genauso dumm wie er.
Ich sage, vielleicht hat er deswegen mein Herz.
Sie zuckt die Schultern. "Son Idiot. Aber guck mal, er schreibt gerade".
Als er dann fertig geschrieben hat, steht da "Das geht dich ehrlich gesagt nix an, ich kenn dich nicht mal richtig^^". Tja, für Freundesliste hats wohl gereicht. Das Phänomen der sozialen Netzwerke.
Die Nachbarin explodiert endgültig, haut den Laptop mit einem lauten "ARGH" zu und dreht ein paar Runden im Zimmer, bevor sie sich wieder hinsetzt, einen tiefen Schluck aus der Sektflasche nimmt und den Rechner wieder hochfährt. "Ich hab gerade eine halbe Stunde mit dem geredet, nur dewegen, ich weiß jetzt, dass sein Cousin im selben Kaff wohnt wie er und dass er findet, dass McDonalds einen Lieferservice braucht, aber ob er ne Freundin hat weiß ich immernoch nicht!"
-"Ja, ganz gut zusammengefasst." Meine Fresse, kann ich gelassen sein.
"Lass mal ziehen, ich brauch das jetzt". Die Nachbarin reißt mir die drittletzte Mentholzigarette, die sich noch in meinem Besitz befand und für deren Aufrauchung (wasn Wort) der heutige Tag ganz geeignet schien, aus der Hand und man kann regelrecht zusehen, wie der Glimmstengel mit einem Zug fast komplett.. verschwindet.
Naja, ich bin ja eigentlich sowieso Nichtraucher. Außer an Tagen mit Weltuntergangsstimmung.

Überhaupt, der ganze Abend heute...
Die Nachbarin, die ist so ein Sonderfall, in ihrer Gesellschaft ist alles irgendwie normal, so abgefuckt-normal, aber ohne Tiefgang, weil sie tiefergehendes nicht versteht. So "normale, mehr oder weniger erwachsene, auf dem Land festsitzende Jugendliche"-mäßig, nur mit der leichten Abänderung, dass wir beide ne ziemliche Meise haben, jede auf ihre Art, und mit dem Unterschied, dass ich wohl nicht mehr ganz als durchschnittlich durchgehe.
Und wir sitzen so rum auf ihrem Bett, sie mit Sekt- ich mit Wasserflasche und zusätzlich einem Aschenbecher, und sie sagt, eigentlich ist das Leben scheiße, und eigentlich will sie gar keine Friseurin sein, aber sie ists halt trotzdem. Einfach so.
Und ich frage, was sie lieber wäre, und sie sagt, an der Seite eines reichen Mannes.
Und dass das das Wichtigste sei, dass der Mann Geld hat, gut aussieht und die Restaurantrechnung bezahlt beim Date. Und die Tür aufhält und einem in den Mantel hilft.
Wie ich das denn sehen würde, will sie wissen.
Und ich erkläre, mir ist es egal, wieviel Geld er hat; und meinetwegen muss er nicht im Restaurant vor mir sitzen, sondern kann auch mit mir spazieren gehen, auf der Panzerstraße oder irgendwo, wo man eher spazieren geht, oder er kann mit mir in der Absteige vor der Bühne rumstehen, und er muss mir auch nichts bezahlen, auch, wenn ich das aus rein finanziellen Gründen natürlich ganz nett fände, und die Tür aufhalten sollte er mir vor allem, wenn ich gerade alle Hände voll Katze habe.
Auch, wenn Türaufhalten und die Mantelsache natürlich ganz nett sind.
Verständnislos guckt sie und fragt, was dann für mich "den Richtigen" ausmacht.
Das Gefühl, dass es richtig ist, sage ich und komme mir irgendwie dumm vor.
-Ob dann die alte Sache der Richtige für mich gewesen wäre. Oder das Problem.
Wenns nach meinem Gefühl geht schon, sage ich. Die fiese Wahrheit kommt einem in solchen Momenten irgendwie leichter über die Lippen.
-Restlos?
Will sofort mit Ja antworten, überlege dann aber.
Gefühl sagt ja, Verstand sagt Nein, Herz enthält sich.
Ich sage ihr das so, auf gut Glück, und sie ist verwirrt und wechselt das Thema.
Silvestergestaltung.
Ich erzähle von meinem vorrausichtlich ach-so-tollen Abend, den ich erleben werde; werde wohl sinnlos beim Working Class Hero rumsitzen, mit dem Studenten und der Schwester der alten Sache und anderen Leuten, und ich habe keine Lust und will nicht, weil dann wieder die gottverdammten Partyspiele ausgepackt werden. Mit denen ich mich unwohl fühle, massivst, die ich nicht mag, die ich so furchtbar hohl finde und die mich fast physisch leiden lassen. Alleine durch den Gedanken an sie. Ebenso Trinkspiele. Ein ganzer Abend damit, das halte ich nicht aus, glaube ich.
Hm, sie geht an Silvester auf ne Privatparty bei einem Freund, also, um genau zu sein, ihrem Freund. Der hat sogar nen Pool, deshalb wäre das ne ganz nette Sache. Ohne mich, undso, solche Bonzengeschichten wären ja eh nicht meins, ich sei ja mehr so antikapitalistisch. Sagt sie so, und als ich sie frage, ob sie weiß, was das Wort heißt, meint sie, nicht genau, aber sie fände, das würde so gut zu mir passen, mit dem "anti" vornedran.
Fährt fort und erklärt mir, ich wäre ja allgemein so anti.
Anti-Kapitalistisch,
Anti-Konsumgesellschaft,
Anti-Nach-dem-Äußeren-Gehen,
Anti-Vorurteile,
Anti-Luxus,
Anti-Atomkraft,
Anti-Style.
Sagt sie so und findets bei jedem "anti" ein bisschen lustiger, und ich höre irgendwo ab der Hälfte auf, mir Gedanken darüber zu machen, ob das eigentlich stimmt, was sie da so sagt.
Anti-Alkohol, zumindest meistens, macht sie weiter.
"Und", sie deutet auf den Aschenbecher, in den sich das erste Ascheflöckchen der nächsten Mentholkippe begeben hat, "Anti-Rauchen". Sagts und lacht. Ich dann auch ein bisschen. Sie noch mehr.
Überhaupt lacht sie so oft, und meistens sogar über das,was ich sage. Muss mich nichtmal anstrengen, sie braucht keine hochgeistigen Bemerkungen und Ironie versteht sie nicht. Leider auch oft nicht, wenn mir etwas ernst ist. Oder wehtut. Hm.
Sie wendet sich wieder dem PC zu, überlegt kurz, sieht sich dann die Freundesliste des Problems durch und fährt dabei eine Weile fort, mir verschiedene "antis" zuzuordnen, bis sie dann verstummt und sich ein, zwei Profile ansieht.
Anti-Kontrollverlust, füge ich geistig noch hinzu.
Anti-Lebenaufdiereihekriegen.
Anti-Disco.
Anti-Tierversuche.
Anti-Friseur.
Anti-Böseinhaltsstoffeinkosmetikaundlebensmitteln.
Anti-Herzverlieren. Zumindest theoretisch..
"Schau mal, der ist süß!"
Erhebe mich schwerfällig und rutsche in ihre Richtung, um vom Laptop aus von einem Profilbild angelächelt zu werden.
Auf dem Profilbild, da ist der Schlagzeuger aus der Luxusabsteige, und er lächelt so ehrlich, dass ich fast ein wenig zurücklächeln muss. Anscheinend wurde er da in der richtigen Absteige fotographiert, der Hintergrund spricht dafür.
"Wo hast du den denn gefunden, war der noch auf der Freundeliste?" Und wieso habe ich ein schlechtes Gefühl bei der Sache.
"Ja, ich glaub der war da noch dabei..." Die Nachbarin klickt zurück und wir sind wieder beim Profil des Problems, und beim Anblick seines Bildes im Vergleich mit dem des Schlagzeugers drängt sich mir ein Verdacht ins Hirn.
"Sag mal, weißt du, ob das Problem nen Bruder hat?"
"Nee, aber ich frag ihn mal". Noch bevor ich meinen Du-kannst-den-doch-jetzt-nicht-einfach-so-fragen-Reflex ausleben oder zumindest äußern konnte, hatte sich die Nachbarin wieder in die Unterhaltung eingeklinkt, und nach einem "Sorry ich war grad an der Tür und hab meine Pizza geholt. Welche Pizza isst du gerne?" ihrerseits hängt sie nahtlos ein "Hast du nen Bruder?" an.
Vermutlich ist das Problem von der allgemeinen Zusammenhanglosigkeit ihrer Fragen geringfügig verwirrt bis überfordert (Zwischendurch hatte sie sich bereits nach der Farbe seiner Socken, seinen Wochenendaktivitäten und seinem Lieblingessen in dieser Reihenfolge erkundigt), jedenfalls dauert die Antwort ein bisschen und meine Nervosität steigert sich, ein bisschen.
"Wieso"
Naja, wenigstens ein Fragezeichen hätte er ihr ja gönnen können. Aber die alte Sache antwortet auch vorzugsweise ohne Satzzeichen, dafür mit großer Verzögerung und gerne auch mal nur "^^". Wie ich das hasse.
-"Weil ich letztens wen gesehen hab, der dir voll ähnlich sieht und ich wissen will ob du noch mit wem verwandt bist"
Da, sie verwendet auch keine Satzzeichen.
Und eigentlich auch kein festes System in Sachen Rechtschreibung, aber ich sitze inzwischen neben ihr und gebe Vorschläge ab. Für Formulierungen eigentlich auch, aber das ignoriert sie gekonnt.
Wieder kurze Pause, dann:
"Ja ich hab noch Verwandte^^
Wenn das auf nem Konzert oder so war, wars wahrscheins mein Cousin, der steht ja voll auf sowas"

Sie schaut mich mit großen Augen an, ich schau sie mit großen Augen an.
"Alter."
"Alter". (Wenn sogar ich mich mal zu sowas hinreißen lasse...)

Vor meinem geistigen Auge wieder der Schlagzeuger, und es wird auf einmal klar. Hätte es gleich sehen müssen; mir denken können.
Das Grinsen. Von einem Ohr zum anderen, mit Zähnen. Und die Locken.
Die Art, wie er peinlich berührt nach unten geguckt hat, als seine Schlagzeugerfähigkeiten erwähnt wurden.
"Hm. Naja. " Sie geht wieder dazu über, sich ein bisschen darüber lustig zu machen, dass mein Silvester so furchtbar scheiße wird, weil ich nicht alleine daheim sein will, aber die einzige Alternative "sinnlose Party- und Trinkspiele und ein mich angeiernder Student beim Working Class Hero" heißt und die Person, die mich eingeladen hat, dummerweise nichtmal Veranstalter der Party ist. Aber der Zusatzschlafplatz, den finden wir auch noch. Und überhaupt, wird ja sooo lustig. Ich könnte kotzen, so lustig wird das. Oder in echter Depression versinken, wenn ich alleine bin.
Mich zu meinem verkindlichten, halb tauben und halb blinden Großvater zu setzen erscheint mir als eine fast schon angenehme Alternative, aber was haben wir zu reden?
Anschweigen, nur manchmal unterbrochen durch Sinnlosigkeiten seinerseits. Weiterschweigen.
Dann würden wir noch beide in unseren Depressionen versinken.

Also "Party". Beim Working Class Hero. How wonderful.
Mit den ganzen verfickten Partyspielen. Und einem Studenten, der meint, er hat ja auch keinen Bock auf die Spiele, wir könnten ja was anderes machen.
Worauf ich mir denke, SICHERLICH NICHT das was du denktst.
Und mich frage, wie ich den Abend überleben soll. Stundenlang hirnlose Partyspiele. Bis Null Uhr. Danach weiter. Einfach so. Weil ihnen danach ist. Weil es ihnen Spaß macht. Und ich in der Unterzahl bin.
Ach scheiße ist das doch.

Überhaupt hat sich der Ankotzfaktor des Lebens für mich aktuell vervielfacht.
Mein Vater verletzungsbedingt jetzt monatelang dauerzuhause; seine Freundin hat anscheinend vergessen, wo sie wohnt und hängt deshalb immer bei uns rum;
wieso kann das Problem keine eindeutige Ansage machen, ja er hat eine Freundin oder nein, er hat keine,
wieso kann ich mit der ganzen Sache nicht endlich mal abschließen,wieso muss ich mir die gottverdammten, hirnlosen, bekloppten, beschissenen Partyspiele antun,
und wieso zur Hölle muss der Schlagzeuger der Cousin des Problems sein?

Die Nachbarin ist ganz erschrocken, ich hab das nämlich laut gesagt. Und zwar crescendo bis zum emotionalen und (für meine Verhältnisse) lautstärketechnischen fortissimo. Dafür ganz ohne Neologismen bis zum Erbrechen.
Erschüttert sie aber nicht dauerhaft, sie dreht sich wieder zum Bildschirm, auf dem in einem anderen Fenster unser Film schon seit Stunden darauf wartet, gesehen zu werden, klickt ihn versehntlich weg und da ist somit nur noch der Schlagzeuger in Großaufnahme,und als die Nachbarin seine Bilder durchsieht, fällt mir wieder ein, warum er mir so bekannt vorkam (Klar, er ist ja auch der Cousin des Problems..).
Da, ein uraltes Klassenfoto, auf dem unser Schulstempel und auch er zu sehen sind, und ein Lehrer, der schon längst in Rente ist. Was macht das eigentlich im sozialen Netzwerk meines Misstrauens?
Sie klickt weiter. Er mit seinem Cousin, vor dem Einlass zu einem Dorffest, bei dem ich Sanitätsdienst hatte und den Kumpel, der bei ihnen steht, zusammenflicken durfte. Der mich damals tot- und wieder lebendig geredet hat.
Der Schlagzeuger in der Absteige, zwischendurch ein Bild von einer Generalprobe oder einem Konzert. Eher Probe.
Und da, der Fremde,ganz versunken in der Musik, mit geschlossenem Augen und dem Kontrast Gibson Les Paul vs. blau-weißes Streifenhemd und kurzer Kurzhaarschnitt, ein Sänger, der sich wohl gerade die Seele aus dem Leib schreit, und der Schlagzeuger in Action, bei vollem Körperseinsatz, mit fliegender Mähne und im Nirvanashirt (Pluspunkt!).
Ein Bild von der selben Probe(?), Pause. Ein relativ ernsthafter Fremder starrt in die Ferne. Ein Sänger, der sich nicht mehr die Seele aus dem Leib schreit, dafür aber eine Bierflasche ext, und der Schlagzeuger. Nicht mehr mit fliegender Mähne,mit Drumsticks in der einen Hand, um deren Gelenk sich diverse Festivalbändchen winden, dafür aber ohne Nirvanashirt. Das hält er in der anderen Hand.

Und ich denke mir so, verdammt, irgendwie hab ichs mit der Familie.