"Und dann bin ich auf der Wiese im Wasserschutzgebiet aufgewacht, nach zwei Stunden oder so!"
Was wie der Beginn einer weiteren hochdramatischen Erfindung eines schlecht bezahlten Autorenteams Offenbarung im qualitativ hochwertigen Nachmittagsfernsehen klang, beendete in Wahrheit den Bericht der Mitsanitäterin darüber, wie sie ihren Sonntagabend verbracht hatte.
Während Blondine Nr.3 und auch die Mitsanitäterin selbst darüber lachten, dass sie, nachdem ihr Freund um eine Beziehungsauszeit gebeten hatte, zwei Flaschen Billigbaileys geleert, sich danach noch auf ihr Fahrrad geschwungen, das Haus ihres Freundes aufgesucht und die ganze Nachbarschaft zusammengeschrien hatte, fand ich die ganze Sache mal wieder eher weniger lustig.
Als tendenziell bedenklich empfand ich dagegen den Fakt, dass die Mitsanitäterin, nachdem ihr Freund und seine Familie dann definitiv wach waren, anscheinend weggefahren war, einen totalen Filmriss hatte und 2h später, um fünf Uhr morgens, im Wasserschutzgebiet wieder aufgewacht war, weil ihr Freund sie dort gefunden hatte und im Begriff war, sie zu sich nach Hause zu tragen, damit sie in Sicherheit ihren vermutlich beträchtlichen Rausch ausschlafen konnte.
Der Rest der Welt verstand mal wieder nicht, wo mein Problem lag, es wäre ja schließlich nichts passiert.
Dass die Mitsanitäterin schön blöd sei, sich alleine daheim zwei Flaschen Billigbaileys reinzuziehen, schließlich sei Trinken ohne Gesellschaft irgendwie langweilig und sinnlos, fand man ; aber sonst..
Die Biokurskollegin ließ noch ein gespielt ernstes "Alkohol löst keine Probleme, mein Kind!" ab, und damit war die Sache dann auch vom Tisch.
In meinem Kopf machte ich einen weiteren Strich auf der Liste "Wochenenden, an denen die Mitsanitäterin mindestens so dicht wie der Fremde war" und legte vorsichtshalber schonmal ein weiteres Blatt bereit.

Die Mitsanitäterin ist eine sehr zwanghafte, verkrampfte Person.
Sie lernt nicht nur Hefteinträge, sondern ganze Schulbücher auswenig, putzt jedes Zimmer, das sie erreichen kann, bis auch die Möbel glänzen, setzt sich selbst massivst unter (schulischen) Leistungsdruck, im ständigen Wettkampf mit der, die letztes Jahr um 0,1 besser war, und hat auch keine Probleme damit, die Hefteinträge ihrer Mitschüler verschwinden zu lassen, wenn sie Konkurrenz wittert. Bei ihr muss alles perfekt sein, fest geplant, auswendiglernbar. Denkaufgaben lassen sie ebenso verzweifeln wie mich Vokabeltests.
Vielleicht sind wir deshalb in der siebten Klasse Freunde geworden.
Ich verkörperte die Gegenteilextreme zu ihren, und ich tue es auch heute noch.
Uns beiden ist eine gewisse innere Zerissenheit zu eigen, und eine gewisse Vorschädigung durch Eltern, die eigentlich keine Kinder hätten bekommen sollen.
Die Ausprägung der Probleme, und auch ihre Folgen, könnten allerdings nicht unterschiedlicher sein.
Da ist sie, seit einem Jahr Scheidungskind, mit dem Vater, der sich selbst gerne irgendwo zwischen Herrscher der Welt und cooler Teenie sehen würde, und sitzt alleine daheim und schüttet zwei Flaschen Likör in sich rein, weil sie Beziehungsprobleme hat, mit ihrem Freund, diesem endlos geduldigen Menschen, der versucht, sie zu stützen, aber vermutlich zu normal ist, um zu verstehen.
Und da bin ich, die Halbwaise, deren Mutter angefangen hat, zu trinken, als sie so alt war wie ich jetzt, und sich damit so kaputt gemacht hat, dass sie 2007 einfach gestorben ist.
Mit dem Vater, der, selbst traumatisiert von zu schlechten Eltern und deren zu falschen Vorstellungen, gefesselt von dem, was ihm beigebracht wurde und dem, was sich "so gehört", nie so richtig fähig war, eine funktionierende Familie hinzubekommen, und der sich vermutlich doch nur das gewünscht hat. Funktionierende Hausfrau, funktionierendes Kind, das eigentlich noch einen funktionierenden Bruder oder eine funktionierende Schwester hätte haben sollen. Funktionierende Familie. Funktionierendes Leben.
Der das nie bekommen hat.
Mit der Vatersfreundin, in der sich schon seit ihrer Kindheit Wut und Zorn und Frustration aufstauen, und die in mir die Person gefunden hat, an der sie all das willkürlich auslassen kann.

Da bin ich, sitze daheim und schreibe, fahre Bus und schreibe, gehe auf Konzerte und manchmal tanze ich, wenn auch sehr schlecht, verliebe mich und weine, verliere mich und suche, balanciere und falle, aber gehe irgendwie doch weiter.
Ich denke bis tief in die Nacht und bis zum nächsten Morgen, und wenn ich darüber schreiben kann, wird es besser, ansonsten nicht.
Ich ertränke es nicht. Auch, wenn es sich dann manchmal anfühlt, als würde es einen umbringen.
Oder einfach nur leer; dumpf und leer.
Ich weiß nicht, was schlimmer ist.

Die Mitsanitäterin erlaubt sich nicht, sowas zu fühlen,vielleicht hat sie auch Angst davor.
Ich habe genauso Angst davor, irgendwo in dieser Leere verloren zu gehen, aber wenn sie dann auftaucht, sehe ich trotzdem direkt in sie, und wenn es sein muss, springe ich auch rein.

Sie wird immer mehr zum Extremmensch. Auf der einen Seite der Leistungswahn, auf der anderen der totale Kontroll- und inzwischen schon Gedächtnisverlust an Feiern. Das, was sie früher so sehr abgelehnt hat.
Leute, die zuviel trinken.
Leute, die fremden Menschen aufs Shirt kotzen.
Die sich nachts um drei an den Schultern ihrer noch nüchternen Sanikollegin abstützen, wie gestört lachen und so sehr schwanken, dass man Angst haben muss, sie würden gleich in Ohnmacht fallen.
Die das Bewusstsein verlieren vor lauter Alkohol, und morgens um fünf auf einmal auf der Wiese neben dem Wasserschutzgebiet liegen.
Und am nächsten Tag übersät mit blauen Flecken und dem Kater des Jahrtausends aufwachen,weil sie besorgniserregend betrunken waren, als sie mit dem Fahrrad 10km gefahren und mehrmals runtergefallen sind.

Früher fand sie solche Menschen abstoßend, die so die Kontrolle über sich verlieren. Das Problem hatte zu der Zeit gerade angefangen, einer von den Coolen zu werden, und sie hätte am Liebsten gesehen, wie ich meine Gefühle für ihn im Wald vergrabe und dort lasse.
Überhaupt verstand sie das nicht so gut, den Gefühlskram, für sie war das immer etwas, was man sich aussuchen und nach Belieben ein- und ausschalten konnte.
Sie hat auch heute noch manchmal Probleme damit, Gefühle als einen Wert anzusehen, aber die Emotionen holen sie ein, all die, die sie sich jahrelang nicht zugestanden hat, die sie weggelernt, weggeputzt und weggewaschen hat.
Die gehen nicht einfach irgendwo zwischen Geschichtsvortrag schreiben, Frühuni und dem nächsten Absturz verloren, wie das mit einigen ihrer neuen Freundschaften passiert ist.


Meine Freundschaft zu ihr ist auch verloren gegangen, schon letztes Jahr.
Wir, beide Extremmenschen, entwickelten uns immer weiter, in Richtungen, mit denen die andere eigentlich nicht mehr klarkam oder klarkommen wollte, auch,wenn das bis heute keine von uns je geäußert hat.
Ich sage ihr immernoch, dass ich da bin für sie, und ich meine es auch so; manchmal,alle paar Monate oder am Ende längerer Ferien, meldet sie sich und wir versuchen, zu reden, aber es geht nicht.Nichtmal über die Schule können wir reden, und ich bin verunsichert, weil ich gleichzeitig befürchte, sie, inzwischen semicool bei den Normalen, könnte das, was ich unbeholfen versmalltalke, doof finden.
Manchmal ist sie noch die alte; wenn sie mich mitten im Satz unterbricht, mit Vorliebe dann,wenn es gerade wichtig gewesen wäre,um sich über die Notendurchschnittskonkurrenz aufzuregen; wenn sie in ihre kindischen Abspackphasen verfällt, die damals dafür gesorgt haben, dass keiner außer mir was mit ihr zu tun haben wollte, aber die mich, auch, wenn ich sie peinlich fand, nie davon abgehalten haben, mit der Mitsanitäterin in der Pausenhalle zu sitzen und ihr bei den Hausaufgaben zu helfen, wenn da eine Aufgabe war, bei der einem Auswendiggelerntes so garnicht weiterhelfen wollte.

Ich weiß nicht, ob ich die alte Mitsanitäterin zurückhaben möchte.
Aber ich möchte nicht, dass sie verloren geht.
Wir waren damals beste Freunde, aber nicht, weil da so eine Verbundenheit war,jedenfalls empfand ich keine,aber ich tue mir mit sowas manchmal allgemein schwer und damals war das noch viel schlimmer, sondern weil die anderen irgendwie alle gleich waren.
Und irgendwann hat die Hyperaktive die schwarz gekleidete,schwarzhaarige und schwarz geschminkte, Kafka lesende Mitsiebtklässlerin angesprochen und gefragt, warum sie eigentlich immer so düster rumläuft, das würden doch in unserer Gegend nur die machen, die um einen Verstorbenen trauern.
Und dann waren wir auf einmal Freunde; jedenfalls hat sie gesagt, dass das Freundschaft heißt; ich war mir da nicht sicher, die letzte richtige Freundschaft, die ich mitbekommen hatte, war zu einem griechischen Mädchen gewesen, das ich seltsamerweise verstanden hatte, obwohl es kein Wort Deutsch sprach, und das dann umgezogen war, und danach zeichneten sich Beziehungen zu meinen Mitkindern vor allem dadurch aus, dass diese ausgesprochen gemein sein konnten.
Aber die Mitsanitäterin nannte mich "beste Freundin", also war ich das eben, durch viele Haarfarbenwechsel meinerseits hindurch, egal, was passieren wollte und auch, wenn sie und ich weder auf eine Wellenlänge, noch irgendwie auf einer gemeinsamen Ebene waren.

Habe mich anschreien und halb totdiskutieren lassen, volllallen und anlachen, eventuell auch auslachen, ihr Ego gegen mein Ego, ein harter Kampf, war mit ihr auf Stammtischen und Beatabenden und einmal hat sie mich wegen dem Problem weinen sehen.
Ich war da,als ihre Eltern sich getrennt haben;als ihr Vater eine neue Freundin hatte; als Schluss war und er zu Kurzzeitfickbeziehungen übergegangen ist, weil man sich da emotional nicht so schrecklich nah sein muss. Nah sein bedeutet verletzlich sein.
Trotz allem da sein konnte sich unsere Freundschaft nicht halten, weil ich mich verändert habe. Und weil sie sich verändert hat.
Und aller Logik zu Trotz scheint es so,als würde sie,die organisierte, die geordnete; die, die einen Plan und immer den Überblick hat; als würde sie jetzt über genau diese Dinge stolpern, während ich anfange, das balancieren zu lernen.

Vielleicht sehen wir uns nach dem Studium wieder; ich bin mir sicher, dass sie dann eine erfolgreiche Medizinerin ist, Mediziner müssen Faktenwissen haben,sich an den Plan halten und logisch denken; das kann sie gut, die Misanitäterin, und ihr Notendurchschnitt spricht ihr das zu, was allgemein Intelligenz genannt wird, locker stipendiumstauglich.
Ich weiß nicht, was dann aus mir geworden ist.

Wenn es klappt, wenn ich dann wirklich Psychologin bin, und wenn ich dann wirklich in der Superklinik arbeite, sehe ich sie vielleicht.
Sie säße dann möglichst gerade auf einem Stuhl, permanent mit dem Fuß tippend oder den Fingern trommelnd, aber nicht zu einer Melodie, die in ihrem Kopf ist, sondern, weil sie es muss; und sie würde mich als erstes anraunzen, weil ich nur fünf und nicht zehn Minuten zu früh da sein würde.
Dann, bei der Gruppensitzung, würde sie mir erklären, dass ich unfähig und meine Methoden bescheuert seien, würde aus dem Raum stürmen und sich mindestens zwei Stunden lang aufregen, bis ich sie suchen, finden und dann versuchen würde,mit ihr zu reden, darüber, dass ihr manches vielleicht auf den ersten Blick ungewohnt vorkäme, das aber alles seinen Sinn habe. Sie würde schrill lachen, sagen, dass ich ein Rad ab habe, und den Rest des Abends auf ihrem Zimmer verbringen, während der Rest meiner burnout- und/oder suchtgeplagten Truppe im Billardraum die von oben verordneten Gemeinschaftszeiten abarbeitet.





ebee, Freitag, 4. Mai 2012, 01:06
Da bin ich, sitze daheim und schreibe, fahre Bus und schreibe, gehe auf Konzerte und manchmal tanze ich, wenn auch sehr schlecht, verliebe mich und weine, verliere mich und suche, balanciere und falle, aber gehe irgendwie doch weiter.

Ein wunderbarer Satz, so wahr, so schlicht. Ganz ganz groß.


mayhem, Freitag, 4. Mai 2012, 17:21
bei anderen finde ich oft, dass gerade die schlichten sätze oft eine größere kraft haben als die pompösen..

vielen dank.