Thema: oh happy day.
Heute.
Da wird Fortschritt sein, positiver Fortschritt, irgendwie.
Ab heute.
Ich glaube daran, als ich zum Bahnhof laufe, während ich mich dafür verfluche, keinen Hut mitgenommen zu haben,
Ich glaube daran, als der Fremde, der meinen Anruf nicht mitbekommen hat, 20 Minuten nach meiner Ankunft mit dem Musiker, mit dem er später noch für einen Auftritt Lieder von Coldplay probt, am Zielbahnhof auftaucht, um mich einzusammeln, und sich damit entschuldigt, das Handyklingeln nicht gehört zu haben, weil er mit der Ghettoschwester telefoniert habe.
Ich glaube daran, als ich erfahre, dass wir nach unserer Festivallagebesprechung mit der in Hamburg weilenden Ms Golightly zum Raucher gehen, und auch dann noch, als der am Telefon von "wir warten" spricht und nicht im Singular.
Fremde Menschen, zu viele Menschen vor allem...
Dranbleiben. Der Kumpel hat gesagt, ich soll dranbleiben, also bleibe ich dran, am Fremden, und sage meinen Ängsten, dass ich jetzt keine Zeit für sie habe, ganz einfach.
Beim Raucher diskutiere ich mit dem Klischeeblackmetaler über seine Ansichten, die einfach keine sind, und Anschauungen, für die er keine Argumente hat, denn entgegen dem "Ich merke zwar, dass der Kerl dich innerlich total aufregt, aber es bringt nichts, mit ihm zu diskutieren, ehrlich" des Fremden habe ich, nachdem mein Geduldsfaden nicht nur gerissen, sondern praktisch in die Luft gesprengt wurde, das Wort und nebenher die fünfte Bierdose des Fremden ergriffen und, angefeuert vom Raucher, gegendiskutiert.
Und der KBM erzählt da so, er würde ja Cannabis legalisieren und dafür Alkohol verbieten, der sei eh schädlicher, davon abgesehen gehörten Ausländer und Behinderte seiner Meinung nach sowieso um die Ecke gebracht oder zumindest abgeschoben und Christen sind doch eh alle scheiße. Aber nee, begründen könne er seinen Standpunkt jetzt nicht..
Der Raucher, der solche Situationen wohl schon zu Genüge kannte, lachte zusammen mit dem Bruder der Altesachefreundin über die Stammtischargumentation des KBMs, während der Musiker irgendwann aufstand, in den Garten flüchtete und dabei schrie "Zerstören! Ich muss etwas zerstören, sonst zerstört meine Wut mich!".
Der Fremde saß mir inzwischen gegenüber, weil ich mich nach einer Runde kollektivem Headbangen (einfach, weil es in dem Moment lustig war) vorm Gartenzaun der Nachbarn als eine der Ersten wieder hingesetzt hatte, worin der Raucher seine Chance gesehen und sich kurzentschlossen neben mich gepflanzt hatte, und verfolgte die Diskussion.
Dann Handyklingeln, diesmal keines der Groupies, sondern die Ghettoschwester.
Ohne den Blick von uns abzuwenden, geht er kurz ran, sie redet, er liefert Lagebericht.
Dann der Satz des Jahres: "Ruf später nochmal an, Ghettoschwester, ich finde das gerade echt interessant."
Breit grinsende Flugsaurierschmetterlinge in meinem Bauch.
Dranbleiben. Nobody said it was easy, aber ich schaffe das.
Und tatsächlich sagt er später, als wir um 4.50 einen Otto-Film schauen und ich wieder vergeblich versuche, eine bequeme Liegeposition auf dem Sofa zu finden, dass ich meinen Kopf auch an seiner Schulter ablegen kann.
Die Schmetterlinge im Bauch fallen in Ohnmacht und rein emotional bin ich am Hyperventilieren wie Groupies auf einem Tokio Hotel-Konzert, aber das Leben ist kein Boybandauftritt, deshalb spare ich mir das Hyperventilieren, rutsche ein Stück näher und nutze seine Schulter als gar nicht mal unbequeme Zusatzliege.
Effektiv sehe ich genauso schlecht wie vorher, aber ich bin in dem Moment vermutlich sowieso unzurechnungsfähig und mein Verstand hat sich aufgelöst in völlig durchgeknallt rumfliegende Flugsaurierschmetterlinge.
Sie beruhigen sich, als wir schlafen gehen, und liegen wieder friedlich und positivgefühlumgeben auf ihren Plätzen, als ich allen Mut, den ich nicht habe, zusammenkratze und meinen Kopf wieder auf der Schulter des diesmal nur halb von mir weggedrehten Fremden ablege. Die Unsicherheit bringt mich dazu, darauf hinzuweisen, dass ich mir auch eine andere Schlafposition suchen könne, aber er meint, das passt schon so, also bleibe ich so liegen, höre auf seinen Atem, der bald ruhiger wird, atme leichten Männerparfumduft und bin überwältigt vor lauter Positivgefühl.
Ich schlafe trotzdem nicht, einerseits, weil sein Rolladen immer noch kaputt ist und wir erst um 7 Uhr endgültig beschließen, einzuschlafen, andererseits, weil er immer wieder besorgniserregende Atempausen einlegt, um sich anschließend total zu verkrampfen, manchmal auch noch die Augen aufzureißen, sich dann anders hinzulegen und wieder ruhig weiter zu schlafen. Traue mich nicht, ihn zu wecken, weiß aber auch nicht, was ich sonst machen soll. Somit wieder eine Nacht,in der ich nicht schlafe..
Außerdem ist da noch die Tatsache, dass ich massivst geflasht bin, und in meinem Kopf läuft wieder Wings von Frittenbude.
Es läuft auch noch, als wir am nächsten Tag vom Raucher geweckt werden, der mit uns ins Restaurant zum goldenen M will, wo wir noch den Schlagzeuger treffen, und selbst, als wir zurückkommen und die Fremdenschwester völlig apathisch auf dem Sofa vorfinden, ist es noch ein wenig da, auch, wenn sie in den Vordergrund rückt.
"Was ist denn los?" Der Fremde steht etwas unbeholfen daneben und wirkt so, als fühle er sich von der Gesamtsituation berechtigteweise etwas überlastet.
-"Bin jetzt wieder Single. Nach 3 Jahren, einfach so."
Am Vorabend hatten sie und ich uns unterhalten, sie wollte Essen gehen mit ihrem Freund, eventuell würden sie auch noch beim Raucher vorbeikommen, meinte sie.
Vermutlich mindestens so unbeholfen wie der Fremde setze ich mich neben sie und lege meine Hand auf ihre.
Sie schaut mich an aus ihren großen Augen, und dann fängt sie an, zu weinen, einfach so, und kann gar nicht mehr aufhören, bis ihr Bruder mit drei Tafeln Schokolade, einem Nintendo 64 und einem Plüschaffen zurückommt, die Schokolade und die Konsole mit einem "Ich glaube, das brauchst du jetzt" auf den Sessel wirft und anschließend nahtlos und mit Stofftier zur Gruppenumarmung übergeht.
"Du bist so ein bekloppter Spinner!"
-"Aber du lachst wieder, also habe ich mein Ziel erreicht."
Er hängt ein pseudoböses Lachen an und motiviert sie anschließend, indem er den Affen spechen lässt, dazu, irgendwelche quietschebunten Videospiele mit uns durchzuspielen, wobei alleine die Tatsache, dass ich nur PC-Spiele und selbst davon nicht viele kenne, oft genug Anlass zur Schadenfreude gibt.
Was natürlich alles von mir geplant ist und nicht etwa an meinem Unwissen oder meiner Talentfreiheit liegt...
Irgendwann folgt ein Kartenspiel, und noch eines, dann weint sie sich wieder ein bisschen aus und wir hören Soap&Skin, bis ich beschließe, dass jetzt genug geweint wurde und zu Crucified Barbara übergehe.
Dann verkündet der Fremde, dass er noch auf einer Geburtstagsfeier eingeladen ist und beschließt, mich nicht zum Bahnhof, sondern heim zu fahren, sodass er die Ghettoschwester mit zu der Party nehmen kann.
Stelle fest, dass ihr Name für mich ein rotes Tuch ist und ermahne mich, ruhig zu bleiben; es gibt viel realere Feinde in Form der Groupiebande, die wohl auch auf der Geburtstagsfeier anwesend sein wird.
Und eigentlich kam ich mir aufdringlich vor, dass ich bei ihm übernachtet und mich ansatzweise angenähert habe, aber er hat gesagt, dass es ihn nicht stört, und es beim Filmgucken sogar vorgeschlagen, also passt das schon so.
Und egal, worüber sich die Vatersfreundin heute noch aufregt, ob Papa Mayhem mal wieder beweist, wie egal ich bin,
ob die Unsicherheit jetzt riesig groß ist, weil da ab heute morgen wieder mehr Distanz war, oder auch nicht,
Ich weigere mich jetzt, negativ zu denken, und freue mich. Kompromisslos, völlig bekloppt und an den Schmerzen meiner Verliebtheit fast zugrunde gehend halte ich mich fest an dem Gefühl, an der Schulter des Fremden zu liegen, und versuche, auch mein Unterbewusstsein davon zu überzeugen, das alles gut wird.
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Eintragstitel und entsprechendes Zitat aus The Scientist von Coldplay
arboretum,
Samstag, 11. August 2012, 23:46
Eigentlich passen der Klischeeblackmetalfan und die Ghettoschwester doch ganz gut zusammen.