Meet you downstairs in the bar and hurt ...

Als wir die böse Kneipe betreten, ist es drei Uhr morgens, die sollten eigentlich schon geschlossen haben, und die einzige Person, die noch am Tresen sitzt und trinkt, ist Mr. Gaunt. Er sieht immer wieder auf sein Handy, während der Raucher und der Mischpultmann ihre Jacken aufhängen, und wirkt gar nicht mehr so utracool.
Vielleicht auch, weil außer dem Kneipenchef niemand mehr da ist. Ich beschließe, einen Unterhaltungsversuch zu starten, und nachdem Mr. Gaunt uns alle begrüßt und sich bedankt hat, dass wir vorbeigekommen sind und ihm keine runtergehauen haben, weil er so spät noch anruft, traue ich mich und frage, wer den Lebensbaum auf seinen Oberarm tätowiert hat, danach, welche Bedeutung er für ihn hat, und tatsächlich erringe ich im Kampf mayhem vs. Smalltalk einen Punkt, schaffe es, ein Gespräch zu starten und anscheinend ist es nichtmal unangenehm für ihn.
Und er wirkt fast herzlich, und wenn er lächelt, sieht das ein wenig aus, als hätte er Zahnschmerzen, aber ich mag sein Lächeln trotzdem, weil es sein ganzes Gesicht ausfüllt. Und wenn er lacht, zeigt er spitze Eckzähne und zurückgehendes Zahnfleisch dort, wo er Unterlippenpiercings hat; meinen Hinweis, Teflonstecker statt immer nur Metallringe würden dieses Problem ziemlich ausbremsen, wischt er weg wie ein Katzenhaar vom Oberteil und sagt, als alter Mann sei er sowieso noch hässlicher als jetzt und müsse Gebiss tragen, da käme es auf den Zentimeter Zahnfleisch auch nicht mehr an.
Eigentlich will ich mit ihm diskutieren und ihm erklären, dass er mehr wert ist, als er denkt, aber das wäre jetzt unangebracht, also lasse ich es und wir hören dem Mischpultmann zu, der gerade von damals erzählt, als er noch mit dem Fremden in einer Band gespielt hat.
Überhaupt, ich könnte diese Art von Diskussion mit Mr. Gaunt gar nicht führen. Selbstwertgefühl und solche Sachen.. tendenziell eher schwierig für mich.

Um vier wirft uns der Kneipenchef raus, also laufen wir noch ein bisschen durchs gelbliche Straßenlaternenlicht der Kleinstadt, über uns die Sterne und um uns Musik, weil Mr. Gaunt nicht nur Metal, sondern auch Frittenbude auf dem Handy hat, und es ist eigentlich furchtbar kalt, aber gerade macht mir das nichts, und Mr. Gaunt läuft neben mir, leicht schwankend, aber noch ansprechbar, im Mundwinkel eine Zigarette und in der Hand eine halb volle Flasche Ouzo, die er in einer Hecke vor der bösen Kneipe deponiert und beim Verlassen wieder mitgenommen hatte.
"Wegzehrung", erklärt er mir, bevor er die Flasche ansetzt und um ein gutes Stück leerer macht.
Diverse Alarmknöpfe in meinem Kopf fangen an, zu leuchten, allen voran der mit der Aufschrift "Nicht schon wieder so einer!", aber ich kann mich ganz gut beruhigen mit dem Hinweis, dass unklar ist, ob ich den Fremden überwunden habe, der Feststellung, dass mir Mr. Gaunt eigentlich zu kaputt ist und der Besinnung auf den Fakt, dass meine Intuition ihn als hochgradig lebensgeschädigt einstuft und das nicht gut für mich wäre.
"Auch nen Schluck?", fragt er in die Runde und sieht dabei mich an.
"Nee, bin doch Abstinenzler", lehnt der Mischpultmann ab.
"Danke, aber ich trink nix hartes mehr", erklärt der Raucher.
"Nein danke, da könnt ich auch gleich Desinfektionsmittel trinken. Schmeckt ähnlich scheiße", bringe ich die Realität mal wieder perfekt auf den Punkt.
"Eigentlich hast du Recht", lacht Mr. Gaunt und trinkt weiter.
-"Wieso kippst du dir das Zeug dann rein?"
"Günstig gekriegt und tut seinen Dienst."
Weiteratmen, ich bin nicht seine Mutter, und diskutieren bringt nichts. Nicht jetzt.
Nimm ihn hin, wie er ist, oder lass es sein. Ändern kannst dus nicht.
Kennt man doch schon. Und wieso eigentlich genau jetzt der Helferkomplex?

Nachdem wir den Mischpultmann heimgebracht und zwischendurch den Musiker an einer Straßenkreuzung, an der er anscheinend ausgesetzt wurde, eingesammelt haben, landen wir schließlich auf dem Spielplatz, und weil der Musiker darauf besteht, dass der Raucher mit ihm schaukeln geht und ihn anschubst, sitzen Mr. Gaunt und ich alleine auf den Fahrradständern und lauschen dem manischen Kichern des Musikers.
Die innere Bestandsaufnahme ergibt leicht beschleunigten Herzschlag und mehr Sympathie, als nach ein paar Stunden da sein sollte. Zerre mir wieder vor Augen, dass er kaputt ist und bleibt, egal, ob er auf einmal so ganz anders, viel weniger abweisend, und bei überraschend Vielem auf meiner Wellenlänge ist.
Denke mir trotzdem, dass es irgendwann, wenn ich herzmäßig wieder repariert bin, etwas werden könnte, als wir über Lieblingsautoren reden und er sich als kafkabegeistert und Bernemann nicht abgeneigt herausstellt.
Vor allem, weil mir selbst das zu dem Zeitpunkt eigentlich schon total egal ist und ich einfach unzurechnungsfähig-geflasht vor ihm sitze und ihn innerlich ein kleines bisschen anhimmle, soweit das eben im Moment emotional geht.
Freue mich trotzdem, als er nochmal mit zum Raucher geht, und erst recht, als er sich dort immer wieder neben mich setzt, eigentlich nur mit mir redet und schließlich, als mich der Musiker hochzieht und mit mir tanzen will, ebenfalls aufsteht, mich dessen Armen entreißt und selbst übernimmt. Mit Zahnschmerzlächeln.
Und er sagt, dass er mich besonders findet, begleitet vom obligatorischen "und das nicht nur, weil ich betrunken bin", das ich in letzter Zeit so oft hören musste, und wir tanzen völlig aus dem Takt, obwohl wir beide Musiker sind, aber in dem Moment ist das egal und schon ok so.
Dann sitzen wir wieder, er hat seinen Arm auf der Sofarücklehne über mir abgelegt und ich korrigiere: ich bin sowas von geflasht, und ich finde ihn so toll, wie das gerade nur irgendwie emotional geht.
Also eigentlich weit unter dem Normalwert.
Fühlt sich trotzdem unbeschreiblich an, wie auch die letzte Runde tanzen, langsamen Walzer auf Rammstein, dann muss er gehen, und bevor er unseren Tanz beendet und mich loslässt, drückt er mich nochmal ganz leicht und lächelt zum Abschied. Hach.

"Egal, wie cool du den Typen findest, das würde eh nie was werden, niemals nie!", zerschmettert der Musiker jedes harmlose Positivgefühl, das sich ansatzweise in mir aufgebaut hat.
-"Ich würde zur Zeit doch sowieso nichts auf die Reihe kriegen. Aber wieso sollte das nichts werden?"
"Weil der der Löwin nachtrauert, immer noch. Die waren zusammen, sie ist mehrmals fremd gegangen, er hat Schluss gemacht, bereuts noch heute, muss sie dauernd sehen, weils die beste Freundin seiner Bandkolleginnen is, und geht seitdem total kaputt deswegen. Der Kerl is schrottreif, nur wegen der Löwin.
Echt mal, nur wegen der. Weiber ey. Immer Weiber, die machen alles kaputt, also, nix gegen dich mayhem, du bist die Ausnahme, die absolute Ausnahme, hast unsern Raucher hier wieder aufgebaut und zum Nichtraucher gemacht, aber alles machen die kaputt, alles.
Mr. Gaunt ist schrottreif, den kannste gleich einsargen. Nur wegen sowas, nur wegen sowas.."
Er schüttelt energisch den Kopf.
Der Raucher deutet fragend in Richtung Terasse, Krisensitzung?
Ich winke ab.
"Nur wegen sowas, nur wegen der Löwin. Weil die fremdgegangen is, und jetzt isser allein und hätte so viele haben können, wenn er gewollt hätte, aber er wollte nicht und sagt, er will keine mehr, und säuft und raucht und kifft sich kaputt und nimmt wahrscheinlich noch sonstwas, weil er nicht auf die Olle klarkommt..."

Lasse den restlichen Abend Revue passieren, führe nochmal eine innere Bestandsaufnahme durch und mir anschließend die Worte des Musikers vor Augen und denke mir abschließend so, ach scheiße.





threebluesheeps, Montag, 8. Oktober 2012, 20:04
Ach Scheiße trifft es leider ganz gut

Und irgendwie will ich dir auch gerade nicht einen Rat geben - weil ich das sowieso nicht könnte mit meinem nicht vorhandenem Erfahrungssschatz....

aber pass auf dich auf....


mayhem, Montag, 8. Oktober 2012, 20:20
aber wieder mal so ein kaputter, den ich da aufgegabelt habe..

manchmal sind ratschläge, die nicht auf erfahrung, sondern auf intuition basieren, fast besser als die erfahrungs-rationalitätbasierten.

ich versuche es.


threebluesheeps, Montag, 8. Oktober 2012, 20:31
ja und kaputte können einen auch unglaublich kaputt machen. auch wenn es so schön mit ihnen ist.

meine intuition hat sich schon bei dem Fremden leicht verknotet.

Aber momentan schrillen da alle Alarmglocken bei mir....


mayhem, Donnerstag, 11. Oktober 2012, 21:15
manchmal hält man sich aber gerade deswegen fest, weil man ähnlich kaputt ist. verständnis und sowas habe ich bis jetzt selten gefunden, und wenn, dann bei leuten, die selbst mindestens angekratzt waren.

schön kann es auch mit ganz "normalen" menschen sein, wobei die einen mindestens genauso kaputt machen können, dadurch,dass sie so normal sind und so anders. oder man selbst so anders ist.

bei mir hat sich herausgestellt, dass das, was ich als paranoia abtun wollte, aufschreie der intuition waren. ich sollte lernen, auf sie zu hören, so unschön vieles, was sie sagt, auch sein mag.