Thema: monolog
..und dann finde ich mich in der Einlassreihe vor einer bis ins letzte Eck mit Bierzeltgarnituren vollgestopfen Sporthalle wieder.
Neben mir Kriemhild und Kriemhildfreund im Hawaiioutfit, in meinem Hirn noch Opa Mayhem in drei Wolldecken gewickel, noch gestorbener aussehend als beim letzten Mal und sich auch so verhaltend.
Menschlicher Verfall ist so ein blödes Arschloch.

Ich bin eher spontanverkleidet, rotes Pünktchenkleid, überdimensionierte schwarze Stoffschleife um die Taille und ein paar mit Kajal aufgemalte Schnurrhaare plus geschwärzte Nasenspitze ergeben in Kombination mit kleinem Absatz, schwarzer Strumpfhose und mir zu zotteligem Zopf (mit Schleife!) irgendwas niedlich-retro-minniemausartiges, das ausreicht, um a) vergünstigten Eintritt und b) im Vergleich zu sonst überdurchschnittliche Beachtung vom eigenen (verdammt, wieso muss das Rotkreuzmädchen immer vergeben und in monogamen Beziehungen sein?) sowie dem anderen Geschlecht auszulösen.
Letzteres wird durch das Auftauchen des Rauchers (immer noch als böser Biker unterwegs, entweder gut gelaunt oder immer noch mit Restalkohol) irgendwann zwischen DJ-Partykracher-Einlage und Männerbalett Nr. 3 etwas gedämpft, besonders, als er dazu übergeht, sich nicht von meiner Seite und seinen Arm nicht von meiner Hüfte weg zu bewegen; natürlich nicht ohne subtil zu jammern,weil seine Freunde zwecks Vorglühen noch draußen stehen.
"Find ich jetzt weniger dramatisch", schulterzucke ich ihn eiskalt an, ohne meinen Blick von der Bühne zu lösen, "Davon abgesehen hab ich schon oft genug gesagt, dass ich dich nicht von deinen Freunden fernhalten will". Besoffen bist du genauso scheiße wie die. Und nüchtern manchmal auch.
Und überhaupt ist mir das alles gerade viel zu viel.
"Ich will aber jetzt bei dir sein", meint der Mann an meiner Seite und zieht mich zur Bekräftigung dieser Aussage noch ein Stück weiter zu sich.
-"Dann beschwer dich nicht, dass du nicht beim Pinguin und den anderen bist." Ich kann manchmal sowas von herzlos-realistisch sein.
"Ich beschwer mich ja gar nicht", mault er.
Man möchte weglaufen.

Nach Männerballett Nr.5 und erneuter akustischer Massenvergewaltigung der Besucher durch den DJ tauchen sie auf, die Raucherfreunde. Entscheide mich somit für Rückzug hinter die feindlichen Linien alias in eine Nebenhalle, die als Bar/Ausschankthekenkombination fungiert, genauso überfüllt ist wie der Rest des ganzen Horrorszenarios, aber mir wenigstens übergangsweise Anonymität und Untertauchmöglichkeiten bietet, weshalb ich beschließe, eine Ecke zu erobern, dort bis auf weiteres zu bleiben und sie mit meinem Leben zu verteidigen, zumindest solange, bis sich der Angstzustand meine leichte innere Unruhe wieder ein bisschen gelegt hat.
Will wegrennen, ganz weit weg.
Geht aber gerade nicht.
Also, einfach weiteratmen. Alles wird gut, irgendwann.
Augen zu. Einatmen. Ausatmen. Alles wird gut.
Augen wieder auf, der Zweimetermann mit der Afroperücke, der mich vorhin mit angetrunkenen Flachwitzen und harmloser Tappsigkeit unterhalten wollte, hat mir auf die Schulter getippt und fragt jetzt unsicher lächelnd , ob er mir was ausgeben dürfe.
"Jetzt nicht als Anmache, oder so... dein Freund schaut viel zu gefährlich aus, da trau ich mich das nich.. Aber du bist so besonders und ich find dich so toll." Sagt er und strahlt übers ganze Gesicht und meint das alles so, wie er es sagt.
"Wenn es ok ist, hätt ich gern ein Wasser. Oder ne Apfelschorle..."
-"Oh, du Arme, musst du fahren?"
"Nö, aber ich warte mit allem anderen aber lieber, bis ich nen Anlass habe".

Sekunden später taucht ein potentieller Anlass in Form des beinahe nüchternen Fremden auf, hängt seinen Arm um meine Schulter und ist mit einem Mal so nah, dass ich am Liebsten weinen würde.
Dann habe ich die Begrüßungsumarmung überstanden, aber seine Hand immer noch auf meinem Rücken und sein Blick reicht als Heizstrahler weit genug, um mich komplett aufzutauen,alles, was da an Hoffnung war, für kurze Zeit zu reanimieren und mir endgültig Wasser in die Augen zu jagen.
Dann tut der Afromensch das einzig Richtige, schubst den Fremden ein Stück von mir weg, platziert seinen eigenen Arm um meine Schultern und ein Colabier unbekannten Ursprungs in meiner Hand und weist den Fremden darauf hin, "Die Frau is vergeben, Alter. Leider nich an mich, aber als Ehrenmann"-er zupft sich die Perücke zurecht- "zolle ich ihrem Freund voll den Respekt und verteidige sie, wenn ers grad nicht macht".
Er nickt energisch.
"Dein Kumpel da ist aber schon ein bisschen verstrahlt, oder?" Der Fremde lacht unsicher und versucht wieder, seine Hand auf meinen Unterarm zu legen, aber diesmal gehe ich einen Schritt zurück.
Distanz schaffen.
Er ist verwirrt.
Distanz halten.
Er geht einen Schritt vor, ich einen zurück.
Er sieht verletzt aus.
Egal.Distanzieren und weiteratmen.
War auch schonmal leichter.

Als wir zum Bahnhof laufen, ist der Raucher nüchtern, dafür aber übelkeits- und schwindelgefühlsgeplagt, viel zu viel Alkohol plus jede Menge Kippen und keinerlei feste Nahrung sind tendenziell eben eher ungesund; trotzdem hat er darauf bestanden, mit uns zu Kriemhilds Auto zu laufen, statt an der Halle zu warten und sich von uns einsammeln zu lassen.
"Ich bleib jetzt bei dir!", erklärt er seinen Beschluss, während wir durch leergefegte Straßenzüge ans andere Ende der Stadt laufen, wie damals nach der Bitchparty; vorbei an der geschlossenen Billardkneipe, der alten Chemiefabrik, in deren oberen Fenstern nach der Explosion nur noch einzelne Glasscherben an den verbogenen Metallstreben hängen, und vorbei am Haus des Patenonkels.
Oben in seiner Wohnung brennt noch Licht; die, in der meine Großeltern gelebt haben, hat er wohl seitdem nicht mehr betreten.
Kriemhild verschwindet hinter einer Straßenbiegung, ich stehe immer noch vorm Gartentor. Das niedrige Holzgartentor, dessen Tür ich noch nie wieder zugekriegt habe.
Der komische Riesenkies auf dem Boden, über den man nicht barfuß laufen kann und der somit fehl am Platz ist, man sollte über alle Wege gefahrlos ohne Schuhe laufen können.
-Der Raucher legt seinen Kopf auf meiner Schulter ab und beschränkt sich darauf, mich festzuhalten.-
Sich endlos hinziehende Aufenhalte, die nur erträglich wurden, weil es manchmal Geld gab und Süßigkeiten, die ich immer heimlich gegessen habe, weil meine Mutter gesagt hat, wenn ich sie annehme, werde ich ein noch fetteres Schwein, als ich es sowieso schon bin.

Sie hat mich bis zuletzt nicht in Ruhe gelassen.
Bis zuletzt hat sie mich nicht in Ruhe gelassen, sage ich dem Raucher und verwirre ihn damit vermutlich, aber er ist zu müde und zu weit weg, um nachzufragen, und ich bin zu eigen und zu anders, um zu erklären, dabei ist da eigentlich so viel.
Aber keiner von uns sagt was, und Kriemhild hat sich inzwischen vermutlich schon längst verlaufen, während wir vor dem Haus mit dem Gartentor, das ich nie zukriege, stehen, ich verloren, der Raucher verpennt, und ich könnte sagen, immerhin haben wir noch uns, aber ich weiß nicht, ob das so ist und ob es so gut ist.
Zu vieles, was er nicht verstehen kann und nicht verstehen will, und wir steigern uns doch nur gegenseitig in unserem Wahnsinn, jeder für sich.


Im Haus des Patenonkels ist immer noch ein Lichtschimmer.
Ich habe seit einem Monat nicht auf seine Mail geantwortet. Weiß nicht, was ich machen soll.

Immer noch die selbe Hofeinfahrt und das selbe Haus, jetzt ohne Opa, ohne Oma und ohne Mutter, und der Briefkasten ist neu und sein Auto auch.

Der Raucher schiebt mich behutsam weiter, bestimmt wartet die Katze schon, meint er und hat schon bläuliche Fingerspitzen,weil es vermutlich kalt ist, besonders, wenn man wie wir keine richtigen Jacken dabei hat.
Ich merke nichts, er schon, also setzen wir uns in Bewegung und gehen da hin, wo ich Kriemhilds Auto vermute, damit wir endlich nach Hause kommen.

Als ich mich an der Straßenbiegung nochmal umdrehe, brennt im Dachfenster immer noch Licht.

Den Fremden habe ich in der Sporthalle zurückgelassen ohne mich zu verabschieden.