Thema: oh happy day.
09. Mai 12 | Autor: mayhem | 0 Kommentare | Kommentieren
"Wir fahren".
Wenig später, wir sind da, und Papa Mayhem kann sich nur unzureichend hinter Grimmigkeit und Perfektionismus verstecken, ich weiß, wie es in ihm aussieht.
Intensivstation.
Ein Mann hat bereits geklingelt, schön, wenn Sie das schon gemacht haben, müssen wir ja nicht, smalltalkt Papa Mayhem gezwungen locker, und ich möchte ihn in den Arm nehmen und sagen, die Welt kann manchmal furchtbar grausam sein.
Krankenhausflur.
Er grüßt Angestellte, Angestellte grüßen zurück, wir laufen vorbei an verkabelten Menschen, die schlafend oder im künstlichen Koma, vielleicht auch im richtigen, in ihrem Bett liegen und weißer als leichenblass sind, verkabelten Menschen, die fernsehen, verkabelten Menschen, die Schach spielen und unverkabelten Menschen, die ihre Infusion in einer dieser Metallhutständer für Infusionsbeutel mit sich spazieren führen.
Opa Mayhem führt nichts spazieren.
Eine bürostuhlähnliche Konstruktion mit Tischplatte und einem Gurt hält ihn im Sitzen fest, von ihm weg führen mehr Schläuche und Kabel als von den Schach- und den Spaziergehmenschen auf einmal, und das EKG zeigt Kurven, die nicht besonders erbaulich wirken.
"Vater, ich bin wieder da. Mayhem auch", begrüßt ihn Papa Mayhem.
"Hmjajaah.." Er sieht nicht auf, die ganzen drei Stunden wird er nur sehr selten aufsehen, meistens sind seine Augen fast geschlossen und er hängt mit dem Kopf fast auf der Tischplatte, die Arme verschränkt oder die Hände gefaltet.
"Haben sie dir schon etwas zu Essen gebracht?"
-"Hmjajaah...:"
"Weißt du, wo du deine Patientenverfügung hingetan hast? Die brauchen wir."
-"Hmjajaah..."
"Wohin?"
-"Hmjajaah...."
Er sieht beinahe tot aus.
Niemand hatte sich die Mühe gemacht, das, was sonst ordentlich drapiert über den kreisrunden Haarausfall gekämmt wurde, in Form zu bringen, irgendjemand hatte ihn in einen Jogginganzug gesteckt und kümmerte sich, der Schmutzwäsche im Schrank nach zu urteilen, darum, dass seine Kleidung regelmäßig gewechselt wurde.
"Wir haben dir frische Kleidung mitgebracht, Vater."
"Jaja,jaja..."
Sein Blick ist schlimmer. Das, was man nicht sofort sieht.
Hängt da in seinem Stuhl, starrt auf den Boden, atmet entweder schwer oder fast garnicht.
Will uns zwischendurch etwas sagen, vergisst aber bereits am Anfang, wie sein Satz enden soll.
Schafft es nicht, die Worte auszusprechen, und so kommt außer Bestätigungsworten oder einem unwilligen Knurren meistens nur Buchstabenbrei.
Wir bemühen uns trotzdem, ihn zu verstehen.
Zeit lassen solle er sich, sagt mein Vater und legt seinem Vater die Hand auf die Schulter, während dieser verzweifelt versucht, sich zu erinnern, was er hatte fragen wollen.
Wir erfahren es nicht mehr.
Zwischendurch versucht er, sich hochzudrücken aus seinem Stuhl. Aufstehen müsse er, aufstehen.
Vater, du musst nicht aufstehen.
Doch, zur Toilette.
Vater, du musst nicht aufstehen dafür, sie haben dir einen Beutel angeschlossen.
Er muss aufstehen.
Warum?
Zur Toilette.
Aber er muss doch nicht, es ist doch alles geregelt.
Lässt sich in seinen Stuhl zurückfallen und verschränkt die Hände.
Seine Augen öffnet er nur, wenn eine Krankenschwester hereinkommt, so auch, als sein Essen gebracht wird.
Ob er alleine essen kann, fragt mein Vater.
"Jaja..."
Als er, immernoch mit fast geschlossenen Augen, mit den Fingern auf seinen belegten Broten herumdrückt, schiebt mein Vater seine Hand vorsichtig weg und schneidet kleinere Stücke.
Erster Versuch. Vater, ich habe sie dir kleiner geschnitten, jetzt kannst du sie leichter essen.
Er zieht den Belag runter, versucht, ihn zu essen, nimmt das Brotstückchen und will es auch kauen.
Essenbrocken fallen auf den Latz, den ihm eine Schwester angelegt hat.
Warte Vater, ich mache das schon.
Die nächsten zwanzig Minuten verbringt Papa Mayhem mit Wurst- und Käsebrote kleinschneiden und Opa Mayhem füttern.
Vater, ich mache das schon.
Trotzdem führt er immer wieder seine leere Hand in Richtung Mund und versucht, daraus zu essen.
Immer wieder ein "Vater, da habe ich dein Essen. Ich mache das schon", immer wieder wandert seine leere Hand zum Mund, oder zumindest vage in die Richtung; manchmal berühren seine gespitzen Finger auch seine Nase oder seine Stirn.
Vater, trink auch mal zwischenrein, dann bekommst du das leichter runter.
Jaja..
Da sitzt Papa Mayhem und füttert seinen Vater, weist ihn immer wieder darauf hin, dass er kein Essen in der Hand hält, und anfangs sagt er ihm auch, er solle die Augen auflassen.
Seine Lider bleiben fast geschlossen und nach dem dritten Versuch gibt mein Vater auf.
Zwischendurch verdünne ich den Tee, löslichen Zuckerwassertee haben sie ihm zum Essen gebracht, urinfarben und viel zu heiß, ein Tropfen, der daneben geht, lässt selbst Papa Mayhems Hand zurückzucken.
Ich verdünne den Tee mit Wasser in einer Kinderplastiktasse, so eine mit einem Trinknoppen dran, die man zusammen mit dem Rest und einer Tablette gebracht hat.
Herzrhythmusstörungen.
Da sind noch die Herzrhythmusstörungen, Papa Mayhem, sich festhaltend an Normalität und Sachlichkeit, hatte vorhin seinen Zollstock, den er, weil wir sofort, als ich von der Schule und er von der Arbeit heimgekommen war, losgefahren sind, entfaltet und mit der Spitze auf die Kurve gedeutet, die das zeigt.
Ich weiß, welche Kurve das ist, Papa. Und dass das Herzrhythmusstörungen sind.
-Ichmussaufstehn...
Nein, Vater, du musst nicht aufstehen. Der Beutel ist da, du kannst einfach laufen lassen.
-Ichmussaufstehn!
Vater...
Papa Mayhem fährt sich mit der Hand übers Gesicht, in der Sekunde, in der er nicht wieder aufschaut, hätte ich ihm gerne eine Hand auf die Schulter gelegt. Irgendwas, um ihm zu sagen, dass ich weiß, dass Normalität, Sachlichkeit und Ordnung ihn nicht mehr halten, weil die Normalität nicht mehr da ist und man nicht sachlich bleiben kann, wenn die Rollen sich umgedreht haben und der, der früher für einen gesorgt hat, jetzt versorgt werden muss.
Eine Sekunde später hält er Opa Mayhem von einem weiteren Ausbruchsversuch ab.
Da schau, jetzt läuft die Brühe. Seine Stimme ist leise und seine Sprache undeutlich, aber mit Anstrengung kann man verstehen, was er sagt.
Vater, du hast den Beutel!
Ihr könnt alle abhauen, ihr wollt mir nicht helfen!
Sein Unwillen, seine Sturheit, sein Unverständnis.
Sein Unvermögen.
Ich fülle Wasser auf und bin da. Kann nicht mehr als da sein.
Da sein, es sehen und fassungslos verloren gehen.
Papa Mayhem versucht weiter, mit ihm zu reden, und ich gelegentlich auch; dann, wenn ich reden kann, oder wenn er versucht hat, mich etwas zu fragen.
Lass dir Zeit beim Nachdenken, Opa Mayhem.
Immer wieder, lass dir Zeit, wenn er vergessen hat, was er sagen wollte, oder wenn er so undeutlich gesprochen hat, dass wir es nicht verstanden haben.
Wortmatsch.
Seine Hand ist dunkelviolett-schwarz verfärbt, ich frage mich, was die Krankenschwester getan hat, als sie ihm Blut abgezapft hat.
Mein Vater fragt den Arzt, was sie in der Zeit seit seinem letzten Besuch getan haben.
"Gehen wir lieber raus", sagt der Arzt, und sie lassen mich mit Opa Mayhem und seinem Neue Post lesenden und Kreuworträtsel lösenden Zimmerkollegen alleine.
Ich..muss...aufstehen!
Nein,Opa Mayhem.. Lege meine Hand vorsichtig auf seine schwarzviolette. Jetzt im Moment brauchst du nicht aufstehen.
Versuche, ihm in die Augen zu sehen. Sie bleiben geschlossen.
Opa, es ist gerade wirklich nicht schön, aber du kannst jetzt auch nicht aufstehen.. schau, wenn du musst, dann ist der Beutel jetzt da, und wenn du noch was brauchst, dann sagst du es mir, ja?
Jaja...
Der Zimmernachbar schaut mich böse an, weil ich so laut rede.
Ich muss laut reden, du blödes Arschloch, weil mein Opa nicht nur verschlaganfallt, sondern auch schwerhörig ist, will ich rüberschreien,lasse es aber, denn wenn ich schreie, hört mich auch mein Großvater, und der fände es bestimmt nicht toll, das mitzubekommen.
Also ignoriere ich den Zimmernachbarn und versuche, Opa Mayhem von weiteren Ausbruchsversuchen abzuhalten.
Wir schweigen uns an, dann wieder ein kurzer Redeintervall, den wir aber bald aufgeben, weil es nichts zu bereden gibt.
Ich passe auch auf, dass die Haustür immer abgeschlossen ist, Opa. Und die Rolläden herunten, und das niemand was aus dem Garten klaut.
-Jaja.. So machsusrich... kriegst dann dein Geld.
Welches Geld,Opa?
Wieder Wortmatsch.
Opa, du brauchst mir kein Geld geben.
-Jaja,kriegst dann dein Geld..
Diesmal versucht er, den Gurt, der ihn an den Stuhl schnallt, zu lösen.
Ich tue so,als hätte ich nichts gemerkt, und frage ihn, was er da macht.
Schduhl....Schdulverstelln.
Da warten wir lieber, bis Papa wieder da ist, ok, Opa Mayhem?
-Jaja...
Eine Minute später wieder die Anordnung, ich solle die verschraubte Tischplatte wegmachen, damit er aufstehen könne.
Ach, Opa Mayhem...
Nach gefühlten Stunden kommt mein Vater wieder, im Schlepptau den Arzt.
Der hat ihm erzählt, dass er gleich selbst dableiben kann, sein anderer Arm, der, der noch nicht operiert wurde, sei mindestens genauso schlimm dran wie der bereits gerichtete es war.
Papa Mayhem erwähnt es in möglichst alltäglichem Tonfall.
Papa, da ist kein Alltag und keine Routine, an dem oder an der du dich festhalten kannst.
Die Routine endet hier.
Er hat das Medikament nicht vertragen, man hatte es allerdings nicht für nötig gehalten, ein Gegenmittel zu verabreichen.
So alt, wie der schon ist,lohnt sich das doch eh nicht mehr, argumentiert die junge Krankenschwester mit der Dickrandbrille.
Papa Mayhem schaut sie auf aufgerissenen Augen an und krallt sich mit den Händen in das Krankenbett, auf dem er neben Opa Mayhems Stuhl sitzt.
"Sie Unmensch."
Bin aufgestanden und habe es ihr ins Gesicht gesagt, mit zusammengekniffenen Augen, damit sie nicht sieht, dass ich fast am Heulen bin.
Eine gefühlte Ewigkeit starren wir uns an, Papa Mayhem starrt uns an und auch der Oberarzt scheint etwas verwirrt.
Opa Mayhem hält seine Augen weiter fast geschlossen, erst, als der Arzt mir einen "Setz dich hin, dummes Kind"-Blick angedeihen lässt und anschließend mit seiner Bestandsaufnahme fortfährt, sieht er kurz auf, zur Krankenschwester.
Die fuhrwerkt hinter ihm herum, während ich erneut versuche, ihn zu beruhigen.
Opa Mayhem,ich weiß,dass du aufstehen willst.. aber es geht jetzt nicht. Das ist ja nicht für immer, das ändert sich auch bald wieder, aber jetzt am Anfang muss es so sein, und solange hast du den Beutel, wenn du musst, und Essen wird hergebracht. Zeitungen hat mein Onkel dir auch mitgebracht, wenn du lesen möchtest, und wir kommen dich auf jeden Fall weiter besuchen.
Es tut weh.
-Ach, ihr sollt alle weg, ich will euch nicht sehen..
Schweigen.
Der Arzt füllt einen Zettel aus.
-Können wir jetzt gehen?
Vater, das lassen wir lieber, sagt Papa Mayhem und legt ihm wieder eine Hand auf die Schulter.
-Ich muss aufstehen!
Vater, nein!
Die Krankenschwester erbarmt sich.
"Herr Mayhem senior, wenn ihr Besuch weg ist, stehe ich mit Ihnen auf, in Ordnung?"
-Haut ab, haut alle ab!
Also Vater, wir gehen dann.. Papa Mayhem bleibt in seinem alltäglich-freundlich-neutralen Plauderton, hinter dem er sich verstecken kann. Als wäre es nicht sein Vater, der da sitzt mit seinem halbtauben Gehirn, seinem Herzrhythmus, der komische Sachen macht, dem Sprachzentrum, das mitten im Mai Winterschlaf hält und den schlimmsten, weil deutlichsten Anzeichen des äußerlichen und innerlichen Verfalls, die ich an ihm bis jetzt gesehen habe.
Wir gehen, Opa. Lege zum Abschied meine Hand auf seine schwarzviolette, lasse mich auf dem Weg nach draußen vom Arzt daran erinnern, dass wir die Patientenverfügung mitbringen sollen, damit Opa Mayhem ein anderes Medikament, das helfen soll, aber relativ neu ist, verabreicht werden kann, und erinnere meinen Vater daran, dass wir beim nächsten mal Socken mitbringen müssen.
Auf der Heimfahrt versucht er es erst wieder mit Flucht in Fakten, fragt mich nach meinem Eindruck, erklärt die Medikamentenunverträglichkeit, und dass er nicht viel Hoffnung hat, dass das andere, neue Medikament das alles reparieren kann, auch, wenn es das soll.
Er sagt, er weiß nicht, ob wir Opa Mayhem nochmal so daheim sehen. Dass es vom Medikament abhängt. Ob es wirkt, ob er es verträgt, ob die Nebenwirkungen seinem dezimierten Restwesen so schlimm zusetzen wie das meistverwendete und nicht vertragene Mittel.
Dass er nicht weiß, wie es dann weitergeht.
Da müssten dann die von der Klinik einen Vorschlag machen.
Achja, die Vatersfreundin sei demnächst auch dort, wie lange, das wisse er noch nicht; sie habe aber seit neuestem immer mal das Problem, dass ihr Arm kribbelt oder sie ihn garnicht mehr spürt und man würde das dort näher anschauen.
Ich habe ihm gesagt, dass ich da bin.
Dass ich weiß, dass er mit sowas anders umgeht als ich, aber er, wenn er es möchte und wenn es geht, mit mir reden kann.
Darüber, wie es ist, seinen Vater zu verlieren.
Wenig später, wir sind da, und Papa Mayhem kann sich nur unzureichend hinter Grimmigkeit und Perfektionismus verstecken, ich weiß, wie es in ihm aussieht.
Intensivstation.
Ein Mann hat bereits geklingelt, schön, wenn Sie das schon gemacht haben, müssen wir ja nicht, smalltalkt Papa Mayhem gezwungen locker, und ich möchte ihn in den Arm nehmen und sagen, die Welt kann manchmal furchtbar grausam sein.
Krankenhausflur.
Er grüßt Angestellte, Angestellte grüßen zurück, wir laufen vorbei an verkabelten Menschen, die schlafend oder im künstlichen Koma, vielleicht auch im richtigen, in ihrem Bett liegen und weißer als leichenblass sind, verkabelten Menschen, die fernsehen, verkabelten Menschen, die Schach spielen und unverkabelten Menschen, die ihre Infusion in einer dieser Metallhutständer für Infusionsbeutel mit sich spazieren führen.
Opa Mayhem führt nichts spazieren.
Eine bürostuhlähnliche Konstruktion mit Tischplatte und einem Gurt hält ihn im Sitzen fest, von ihm weg führen mehr Schläuche und Kabel als von den Schach- und den Spaziergehmenschen auf einmal, und das EKG zeigt Kurven, die nicht besonders erbaulich wirken.
"Vater, ich bin wieder da. Mayhem auch", begrüßt ihn Papa Mayhem.
"Hmjajaah.." Er sieht nicht auf, die ganzen drei Stunden wird er nur sehr selten aufsehen, meistens sind seine Augen fast geschlossen und er hängt mit dem Kopf fast auf der Tischplatte, die Arme verschränkt oder die Hände gefaltet.
"Haben sie dir schon etwas zu Essen gebracht?"
-"Hmjajaah...:"
"Weißt du, wo du deine Patientenverfügung hingetan hast? Die brauchen wir."
-"Hmjajaah..."
"Wohin?"
-"Hmjajaah...."
Er sieht beinahe tot aus.
Niemand hatte sich die Mühe gemacht, das, was sonst ordentlich drapiert über den kreisrunden Haarausfall gekämmt wurde, in Form zu bringen, irgendjemand hatte ihn in einen Jogginganzug gesteckt und kümmerte sich, der Schmutzwäsche im Schrank nach zu urteilen, darum, dass seine Kleidung regelmäßig gewechselt wurde.
"Wir haben dir frische Kleidung mitgebracht, Vater."
"Jaja,jaja..."
Sein Blick ist schlimmer. Das, was man nicht sofort sieht.
Hängt da in seinem Stuhl, starrt auf den Boden, atmet entweder schwer oder fast garnicht.
Will uns zwischendurch etwas sagen, vergisst aber bereits am Anfang, wie sein Satz enden soll.
Schafft es nicht, die Worte auszusprechen, und so kommt außer Bestätigungsworten oder einem unwilligen Knurren meistens nur Buchstabenbrei.
Wir bemühen uns trotzdem, ihn zu verstehen.
Zeit lassen solle er sich, sagt mein Vater und legt seinem Vater die Hand auf die Schulter, während dieser verzweifelt versucht, sich zu erinnern, was er hatte fragen wollen.
Wir erfahren es nicht mehr.
Zwischendurch versucht er, sich hochzudrücken aus seinem Stuhl. Aufstehen müsse er, aufstehen.
Vater, du musst nicht aufstehen.
Doch, zur Toilette.
Vater, du musst nicht aufstehen dafür, sie haben dir einen Beutel angeschlossen.
Er muss aufstehen.
Warum?
Zur Toilette.
Aber er muss doch nicht, es ist doch alles geregelt.
Lässt sich in seinen Stuhl zurückfallen und verschränkt die Hände.
Seine Augen öffnet er nur, wenn eine Krankenschwester hereinkommt, so auch, als sein Essen gebracht wird.
Ob er alleine essen kann, fragt mein Vater.
"Jaja..."
Als er, immernoch mit fast geschlossenen Augen, mit den Fingern auf seinen belegten Broten herumdrückt, schiebt mein Vater seine Hand vorsichtig weg und schneidet kleinere Stücke.
Erster Versuch. Vater, ich habe sie dir kleiner geschnitten, jetzt kannst du sie leichter essen.
Er zieht den Belag runter, versucht, ihn zu essen, nimmt das Brotstückchen und will es auch kauen.
Essenbrocken fallen auf den Latz, den ihm eine Schwester angelegt hat.
Warte Vater, ich mache das schon.
Die nächsten zwanzig Minuten verbringt Papa Mayhem mit Wurst- und Käsebrote kleinschneiden und Opa Mayhem füttern.
Vater, ich mache das schon.
Trotzdem führt er immer wieder seine leere Hand in Richtung Mund und versucht, daraus zu essen.
Immer wieder ein "Vater, da habe ich dein Essen. Ich mache das schon", immer wieder wandert seine leere Hand zum Mund, oder zumindest vage in die Richtung; manchmal berühren seine gespitzen Finger auch seine Nase oder seine Stirn.
Vater, trink auch mal zwischenrein, dann bekommst du das leichter runter.
Jaja..
Da sitzt Papa Mayhem und füttert seinen Vater, weist ihn immer wieder darauf hin, dass er kein Essen in der Hand hält, und anfangs sagt er ihm auch, er solle die Augen auflassen.
Seine Lider bleiben fast geschlossen und nach dem dritten Versuch gibt mein Vater auf.
Zwischendurch verdünne ich den Tee, löslichen Zuckerwassertee haben sie ihm zum Essen gebracht, urinfarben und viel zu heiß, ein Tropfen, der daneben geht, lässt selbst Papa Mayhems Hand zurückzucken.
Ich verdünne den Tee mit Wasser in einer Kinderplastiktasse, so eine mit einem Trinknoppen dran, die man zusammen mit dem Rest und einer Tablette gebracht hat.
Herzrhythmusstörungen.
Da sind noch die Herzrhythmusstörungen, Papa Mayhem, sich festhaltend an Normalität und Sachlichkeit, hatte vorhin seinen Zollstock, den er, weil wir sofort, als ich von der Schule und er von der Arbeit heimgekommen war, losgefahren sind, entfaltet und mit der Spitze auf die Kurve gedeutet, die das zeigt.
Ich weiß, welche Kurve das ist, Papa. Und dass das Herzrhythmusstörungen sind.
-Ichmussaufstehn...
Nein, Vater, du musst nicht aufstehen. Der Beutel ist da, du kannst einfach laufen lassen.
-Ichmussaufstehn!
Vater...
Papa Mayhem fährt sich mit der Hand übers Gesicht, in der Sekunde, in der er nicht wieder aufschaut, hätte ich ihm gerne eine Hand auf die Schulter gelegt. Irgendwas, um ihm zu sagen, dass ich weiß, dass Normalität, Sachlichkeit und Ordnung ihn nicht mehr halten, weil die Normalität nicht mehr da ist und man nicht sachlich bleiben kann, wenn die Rollen sich umgedreht haben und der, der früher für einen gesorgt hat, jetzt versorgt werden muss.
Eine Sekunde später hält er Opa Mayhem von einem weiteren Ausbruchsversuch ab.
Da schau, jetzt läuft die Brühe. Seine Stimme ist leise und seine Sprache undeutlich, aber mit Anstrengung kann man verstehen, was er sagt.
Vater, du hast den Beutel!
Ihr könnt alle abhauen, ihr wollt mir nicht helfen!
Sein Unwillen, seine Sturheit, sein Unverständnis.
Sein Unvermögen.
Ich fülle Wasser auf und bin da. Kann nicht mehr als da sein.
Da sein, es sehen und fassungslos verloren gehen.
Papa Mayhem versucht weiter, mit ihm zu reden, und ich gelegentlich auch; dann, wenn ich reden kann, oder wenn er versucht hat, mich etwas zu fragen.
Lass dir Zeit beim Nachdenken, Opa Mayhem.
Immer wieder, lass dir Zeit, wenn er vergessen hat, was er sagen wollte, oder wenn er so undeutlich gesprochen hat, dass wir es nicht verstanden haben.
Wortmatsch.
Seine Hand ist dunkelviolett-schwarz verfärbt, ich frage mich, was die Krankenschwester getan hat, als sie ihm Blut abgezapft hat.
Mein Vater fragt den Arzt, was sie in der Zeit seit seinem letzten Besuch getan haben.
"Gehen wir lieber raus", sagt der Arzt, und sie lassen mich mit Opa Mayhem und seinem Neue Post lesenden und Kreuworträtsel lösenden Zimmerkollegen alleine.
Ich..muss...aufstehen!
Nein,Opa Mayhem.. Lege meine Hand vorsichtig auf seine schwarzviolette. Jetzt im Moment brauchst du nicht aufstehen.
Versuche, ihm in die Augen zu sehen. Sie bleiben geschlossen.
Opa, es ist gerade wirklich nicht schön, aber du kannst jetzt auch nicht aufstehen.. schau, wenn du musst, dann ist der Beutel jetzt da, und wenn du noch was brauchst, dann sagst du es mir, ja?
Jaja...
Der Zimmernachbar schaut mich böse an, weil ich so laut rede.
Ich muss laut reden, du blödes Arschloch, weil mein Opa nicht nur verschlaganfallt, sondern auch schwerhörig ist, will ich rüberschreien,lasse es aber, denn wenn ich schreie, hört mich auch mein Großvater, und der fände es bestimmt nicht toll, das mitzubekommen.
Also ignoriere ich den Zimmernachbarn und versuche, Opa Mayhem von weiteren Ausbruchsversuchen abzuhalten.
Wir schweigen uns an, dann wieder ein kurzer Redeintervall, den wir aber bald aufgeben, weil es nichts zu bereden gibt.
Ich passe auch auf, dass die Haustür immer abgeschlossen ist, Opa. Und die Rolläden herunten, und das niemand was aus dem Garten klaut.
-Jaja.. So machsusrich... kriegst dann dein Geld.
Welches Geld,Opa?
Wieder Wortmatsch.
Opa, du brauchst mir kein Geld geben.
-Jaja,kriegst dann dein Geld..
Diesmal versucht er, den Gurt, der ihn an den Stuhl schnallt, zu lösen.
Ich tue so,als hätte ich nichts gemerkt, und frage ihn, was er da macht.
Schduhl....Schdulverstelln.
Da warten wir lieber, bis Papa wieder da ist, ok, Opa Mayhem?
-Jaja...
Eine Minute später wieder die Anordnung, ich solle die verschraubte Tischplatte wegmachen, damit er aufstehen könne.
Ach, Opa Mayhem...
Nach gefühlten Stunden kommt mein Vater wieder, im Schlepptau den Arzt.
Der hat ihm erzählt, dass er gleich selbst dableiben kann, sein anderer Arm, der, der noch nicht operiert wurde, sei mindestens genauso schlimm dran wie der bereits gerichtete es war.
Papa Mayhem erwähnt es in möglichst alltäglichem Tonfall.
Papa, da ist kein Alltag und keine Routine, an dem oder an der du dich festhalten kannst.
Die Routine endet hier.
Er hat das Medikament nicht vertragen, man hatte es allerdings nicht für nötig gehalten, ein Gegenmittel zu verabreichen.
So alt, wie der schon ist,lohnt sich das doch eh nicht mehr, argumentiert die junge Krankenschwester mit der Dickrandbrille.
Papa Mayhem schaut sie auf aufgerissenen Augen an und krallt sich mit den Händen in das Krankenbett, auf dem er neben Opa Mayhems Stuhl sitzt.
"Sie Unmensch."
Bin aufgestanden und habe es ihr ins Gesicht gesagt, mit zusammengekniffenen Augen, damit sie nicht sieht, dass ich fast am Heulen bin.
Eine gefühlte Ewigkeit starren wir uns an, Papa Mayhem starrt uns an und auch der Oberarzt scheint etwas verwirrt.
Opa Mayhem hält seine Augen weiter fast geschlossen, erst, als der Arzt mir einen "Setz dich hin, dummes Kind"-Blick angedeihen lässt und anschließend mit seiner Bestandsaufnahme fortfährt, sieht er kurz auf, zur Krankenschwester.
Die fuhrwerkt hinter ihm herum, während ich erneut versuche, ihn zu beruhigen.
Opa Mayhem,ich weiß,dass du aufstehen willst.. aber es geht jetzt nicht. Das ist ja nicht für immer, das ändert sich auch bald wieder, aber jetzt am Anfang muss es so sein, und solange hast du den Beutel, wenn du musst, und Essen wird hergebracht. Zeitungen hat mein Onkel dir auch mitgebracht, wenn du lesen möchtest, und wir kommen dich auf jeden Fall weiter besuchen.
Es tut weh.
-Ach, ihr sollt alle weg, ich will euch nicht sehen..
Schweigen.
Der Arzt füllt einen Zettel aus.
-Können wir jetzt gehen?
Vater, das lassen wir lieber, sagt Papa Mayhem und legt ihm wieder eine Hand auf die Schulter.
-Ich muss aufstehen!
Vater, nein!
Die Krankenschwester erbarmt sich.
"Herr Mayhem senior, wenn ihr Besuch weg ist, stehe ich mit Ihnen auf, in Ordnung?"
-Haut ab, haut alle ab!
Also Vater, wir gehen dann.. Papa Mayhem bleibt in seinem alltäglich-freundlich-neutralen Plauderton, hinter dem er sich verstecken kann. Als wäre es nicht sein Vater, der da sitzt mit seinem halbtauben Gehirn, seinem Herzrhythmus, der komische Sachen macht, dem Sprachzentrum, das mitten im Mai Winterschlaf hält und den schlimmsten, weil deutlichsten Anzeichen des äußerlichen und innerlichen Verfalls, die ich an ihm bis jetzt gesehen habe.
Wir gehen, Opa. Lege zum Abschied meine Hand auf seine schwarzviolette, lasse mich auf dem Weg nach draußen vom Arzt daran erinnern, dass wir die Patientenverfügung mitbringen sollen, damit Opa Mayhem ein anderes Medikament, das helfen soll, aber relativ neu ist, verabreicht werden kann, und erinnere meinen Vater daran, dass wir beim nächsten mal Socken mitbringen müssen.
Auf der Heimfahrt versucht er es erst wieder mit Flucht in Fakten, fragt mich nach meinem Eindruck, erklärt die Medikamentenunverträglichkeit, und dass er nicht viel Hoffnung hat, dass das andere, neue Medikament das alles reparieren kann, auch, wenn es das soll.
Er sagt, er weiß nicht, ob wir Opa Mayhem nochmal so daheim sehen. Dass es vom Medikament abhängt. Ob es wirkt, ob er es verträgt, ob die Nebenwirkungen seinem dezimierten Restwesen so schlimm zusetzen wie das meistverwendete und nicht vertragene Mittel.
Dass er nicht weiß, wie es dann weitergeht.
Da müssten dann die von der Klinik einen Vorschlag machen.
Achja, die Vatersfreundin sei demnächst auch dort, wie lange, das wisse er noch nicht; sie habe aber seit neuestem immer mal das Problem, dass ihr Arm kribbelt oder sie ihn garnicht mehr spürt und man würde das dort näher anschauen.
Ich habe ihm gesagt, dass ich da bin.
Dass ich weiß, dass er mit sowas anders umgeht als ich, aber er, wenn er es möchte und wenn es geht, mit mir reden kann.
Darüber, wie es ist, seinen Vater zu verlieren.