Donnerstag, 17. Mai 2012
Ich erkenn hier nichts wieder
Alles müde und alt
Und ich male uns beide
Als Umriss aus Kreide
Auf den Asphalt


Ich erkenn mich nicht wieder
Nur mein Herz das noch schlägt
Und ich hebe die Arme
Um zu sehn ob die warme
Nachtluft mich trägt



Er kommt nicht wieder heim.
Sagt Papa Mayhem über seine Brille hinweg, während er das Formular, das mir die Auszahlung meines Kindergelds trotz Volljährigkeit zusichert, unterschreibt.
Ist das schon sicher?
Ja.
Wie es ihm geht, frage ich.
Er sitzt im Rollstuhl, sagt Papa Mayhem. Er sitzt im Rollstuhl, und das mit seiner Sprache bleibt wohl erstmal so.
Wenn, dann müsste dreimal wer von der Caritas vorbeischauen und es würde trotzdem nicht klappen.
Duschen, einkaufen, kochen, Medikamente nehmen. Geht ja sonst nicht.
Und Großvater Mayhem im Rollstuhl, alleine den ganzen Tag, das geht am wenigsten. Das steht er nicht durch.
Und wie geht es dir damit?
Er schluckt. Und sagt nichts.
Dann, dass man es nicht ändern kann.
Und dass sein Bruder so gefühlskalt ist. Gefühlskalt und sich an Zahlen festhält, heute hat er vorgerechnet, dass in zwei Jahren Opa Mayhems Erspartes komplett für dessen Betreuung draufgegangen ist.
Papa Mayhem sagt, sein Vater ist doch kein Auto, dessen Kosten/Nutzenverhältnis man ausrechnet. Dass es immernoch sein Vater ist, und der des Onkels auch.
Dass der Onkel gesagt hat, was gemacht wird oder nicht, das sei ihm egal, er ist ja schließlich nicht der Bevollmächtigte. Sei doch egal, was gemacht wird, Opa Mayhems Erspartes würde ja so oder so dafür draufgehen und danach müsse man schauen, was man macht.
Der Onkel ist Beamter. Er verdient nicht zu gut, aber mehr als Papa Mayhem.
Vermutlich werden wir trotzdem den Großteil finanzieren müssen, oder, Papa?
Ja.
Du hältst dich fest an dem, was gemacht werden muss, er sich an Zahlen, Papa.
Vielleicht hast du Recht.

Er hat aufgegeben, Mayhem. Das hat er wortwörtlich so gesagt. Ich habe ihn heute gefragt, wieso er nicht fernsieht, oder ob ich ihm mal die neue Tageszeitung mitbringen soll. Er hat nur mit den Schultern gezuckt und gemeint, wofür denn, und dass er aufgegeben hat.
Papa, das Risiko ist, dass es im Heim noch schneller geht, weil er aufgibt.
Ich weiß.
Er setzt die Großvaterbrille ab und fährt sich über die Augen. Mein kaputtgearbeiteter, müder Vater mit seiner Brille, die ihn aussehen lässt wie einen der Großväter, die ihren Enkeln vorm Schlafengehen noch eine Geschichte vorlesen.
Fürs Schreikind würde er das wohl auch machen.
Wir reden über Heime. Für Opa Mayhem.

Vorher ging es noch um die Vatersfreundin, darum, dass ich es gut finde, so, wie es jetzt ist, mit selteneren Besuchen von ihr während der Zeiten, in denen ich da bin, und mit sichausdemweggehen. Dass ich das beibehalten möchte, nicht aus Boshaftigkeit, sondern weil es beide Seiten entspannt.
Wie ich das machen will, wenn sie mal hier wohnt, hat er gefragt.
Dann wohne ich nicht mehr hier.
Und wenn sie mit mir reden will, gut, wenn sie mir nur Vorwürfe macht, kann ich das Telefonat mit einem Klick beenden. Und eventuelle Wochenendbesuche wird man überstehnen. Entfernung entspannt.

Wir haben geredet, drei Stunden lang. Über die Vatersfreundin, und über Opa Mayhem.
Mein Vater hat nebenher ein Formular ausgefüllt, aber nur eine Seite, und zwischendurch, da hat er aufgesehen und überlegt, was er sagen soll.

Mein Vater kann Persönliches nicht gut in Worte fassen, und so hat es manchmal gedauert; stockte er mitten im Satz und überlegte, um dann nach einer halben Minute fortzufahren. Ich habe ihm die Zeit gegeben, und ich habe es geschafft, dass er redet.
Er hat von sich aus geredet. Als ich ihn nach seinem Besuch bei Opa Mayhem daran erinnert habe, dass er mit mir reden kann, wenn er möchte, hat er gesagt, kann man machen, und nachdem er die Post und sich eine Flasche Bier geholt hatte, haben wir uns an den Tisch gesetzt und er hat geredet.
Vielleicht hat es ihm geholfen.
Und auch, wenn es so ist, und der Zug, in dem ein familiäres Verhältnis sitzt, abgefahren ist und wir uns meilenweit auseinander gelebt haben, könnten wir vielleicht unseren Frieden mit "uns" schließen.

Vermutlich hätte alles ganz anders kommen sollen. In Idealvorstellungen bestimmt.
In der Idealvorstellung hat mein Großvater nie seine ihm so wichtige Selbstständigkeit verloren, muss nicht im Rollstuhl sitzen und kann noch reden.
In der Idealvorstellung begreift er den Unterschied zwischen "Nicht helfen wollen" und "nicht helfen können".
Auch mein Vater hätte gerne die Idealvorstellung, wenigstens ein bisschen.
In seiner Idealvorstellung ändere ich mich und komme mit der Vatersfreundin aus.
In ihrer funktioniere ich so, wie sie es für richtig hält, und überfüttere die Katze, während sie sie zusätzlich vollstopft.
In ihrer eigenen Idealvorstellung darf die Katze in der Arbeitstasche meines Vaters schlafen und uns das Essen von den Tellern klauen.
In meiner Idealvorstellung ist die Vatersfreundin ein weniger wütender Mensch, der mit sich reden lässt und die Welt allgemein ein besserer Ort.
In der der anderen wohl auch, lediglich die Definitionen von "ein besserer Ort" variieren.
Nur darüber, dass doch eigentlich alles ganz anders sein sollte, sind wir uns wohl einig.

Die Idealvorstellung aber zieht es vor, auf Abstand zu bleiben und uns höhnisch auszulachen.
Und da sitzen wir, entfremdet, und lassen uns auslachen und das Leben auf uns regnen.



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Zitat aus "Du erkennst mich nicht wieder" von Wir Sind Helden