Freitag, 25. Mai 2012
Das letzte Bild, das sich in mein Gehirn gräbt, als wir gehen, ist der zusammengesunkene Opa Mayhem, der in seinem Rollstuhl am Tisch sitzt und auf das ihm gebrachte und von ihm abgelehnte Abendessen starrt, dann schließen sich die Aufzugtüren, und Papa Mayhem und ich, wir stehen uns gegenüber, lehnen unsere Köpfe gegen die jeweiligen Aufzugwände hinter uns, schließen die Augen und würden am liebsten anfangen, zu weinen. Eigentlich sollte doch alles ganz anders sein...

Wir fahren fast sofort, nachdem ich von der Schule heimgekommen bin, los, denn wir haben die Aufgabe, meinem Großvater zu erklären,dass er bald entlassen wird, dann aber nicht nach Hause gehen darf, sondern in ein Pflegeheim muss, und an dem Aschenbecher, der auf meiner Fensterbank steht und aus dem noch etwas Rauch aufsteigt, erkenne ich,dass die Vatersfreundin zu Besuch ist.
Wenn sie mitgeht, bleibe ich daheim, will ich meinem Vater sagen, aber der scheint fest eingeplant zu haben,dass nur wir beide fahren.
Aber wir beide.
Mein Herz krampft sich zusammen beim Gedanken an das,was kommt, aber ich kann ihn nicht alleine lassen.
Nicht heute, nicht damit.
Also setze ich mich ins Auto und warte.
Eigentlich wollte er nur etwas holen, aber aus irgendeinem Grund fängt die Vatersfreundin an, ihn anzuschreien, ich höre ihre aufgebrachte, wütende Stimme, ihr Gezeter und seine Versuche, sie zu beruhigen.
Auf der Windschutzscheibe sieht man die Umrisse dessen, was aus Insekten wird, wenn sie auf der Autobahn dagegen klatschen.
Die Haustür knallt zu, Schlüssel klirren.
Die Vatersfreundin wühlt in ihrer Umhängetasche, fördert ihre Zigarettenschachtel zu Tage und zieht kurz darauf hektisch an einer weiteren Kippe, während sie Minispaten, Wasserflasche und Strickzeug einpackt.
Ich frage mich, ob sich mein Hautkrebsrisiko durch die Tatsache, dass selbst Kreidefelsen braun gegen mich wirken und sich das auch nach wochenlanger intensiver Sonnenbestrahlung nicht ändert, erhöht.
Die Vatersfreundin zündet sich die nächste Zigarette an.
Vielleicht ist ihr Krebsrisiko größer als meines.
Sehr große Veranlagung plus Kellerbräune vs. Kettenrauchen und Daueraggression.
Wenn wir jetzt sterben würden, würde sie unglücklicher als ich sterben, dabei geht es ihr doch eigentlich besser.

Sie haben ihn auf eine andere Station verlegt, wir müssen in den dritten Stock fahren, nicht mehr nur auf die Intensivstation gehen.
Im dritten Stock gibt es einen Sitzbereich, der den Patienten vorgaukeln soll, sie hätten die Freiheit, draußen zu sitzen; er ist mit Glas überdacht und mit Sonnenschirmen bestückt, und am Rand stehen in rotbraunem Kugelgranulat diese Pflanzen, von denen man nie weiß, ob sie künstlich sind oder echt.
Papa Mayhem und ich, wir sitzen an einem Tisch und warten.
Zwischendurch fahren Halbgeister in Rollstühlen und rollen Halbgeister an Rollatoren vorbei, manchmal zuckt selbst Papa Mayhem, der vom völlig entstellten Brandopfer bis zum Junkie, der nach einer Überdosis 2 Wochen in seiner Wohnung gelegen hatte, bereits alles esehen hat, zusammen.
Irgendwann wollen sie auch Opa Mayhem an uns vorbeischieben, aber wir winken, und nach einer halben Minute versteht er,dass wir es sind, die da sitzen. Die Krankenschwester schiebt ihn wieder an seinen Platz, wir stellen unsere Stühle dazu. Man begrüßt sich und schweigt.
Zwischendurch Gesprächsversuche, im Gegensatz zu den Krankenschwestern verstehe ich inzwischen beinahe komplett, was er sagt.
Und immer wieder sein Wunsch, aufstehen und rumlaufen zu können.
Geht nicht, so gern ich würde.. Wir können dich rumfahren, wenn du willst, sagt Papa Mayhem, die Antwort lautet Ja und so fahren wir Opa Mayhem ums Stockwerk, ins Erdgeschoss, am Ausgang vorbei.
Als uns die Sonne herzlos und grausam durch die Glastüre anstrahlt, seufzt Großvater Mayhem und sinkt noch tiefer in sich zusammen. Ob wir nicht mal raus könnten.
Nein, geht nicht, dein Piepser schlägt dann Alarm, Vater.
Na gut, na gut.. Fahr mich hoch, mir ist kalt.

Am Nebentisch sitzt die Frauenstation und vegetiert ebenfalls vor sich hin. Wir schweigen uns gerade in der sechsten Minute an, als eine von ihnen beginnt, russische Klagelieder zu singen.
Jedenfalls glaube ich,dass es Klagelieder sind, sie klingen jedenfalls sehr schön und sehr traurig, auch, wenn ich den Text nicht verstehe, weil mein russisch sehr schlecht und das Gesicht der singenden Frau halbseitig gelähmt ist. Sie sitzt auch im Rollstuhl, überhaupt sitzen auf dieser Station alle im Rollstuhl,manche dürfen nicht aufstehen und manche können nicht, aber mein Großvater ist der einzige, der von einem Bauchgurt an seinem Rollstuhl festgehalten wird. Sein Bett ist auch das Einzige, das eine Patientenfestschnürvorrichtung hat.
Na los, fahrt mich doch nochmal eine Runde...
Machen wir.
Wir drehen Runde um Runde ums Stockwerk, sehr langsam, vorbei an Schwestern, die entweder mitleidig oder krampfhaft fröhlich schauen, und einem Mann, dem ein Teil seines Schädels fehlt, als hätte man akkurat ein Viertel herausgeschnitten und dann sorgfältig die Kopfhaut wieder darüber drapiert; vorbei an der Frauenstation und der singenden Russin, denen, die nichtmal mehr alleine den Kopf bewegen können, und einem Mittdreißiger, der von seinen Eltern besucht wird und mit ihnen über seine Arbeit spricht. Als er zum ersten Mal hier war, hat Opa Mayhem uns im Eingangsbereich empfangen und davon erzählt, dass er in der Therapie Weidenkörbe flechten musste.
Bis zu seiner Entlassung immer Weidenkörbe flechten, das erste, was er getan hat, als er wieder zuhause war, war entflechten, zerlegen und sich darüber freuen, dass er für den Winter neues Brennmaterial hatte.

In den vier Stunden, die wir zu Besuch sind, drehen wir immer wieder unsere Runden, Angestellte, Pfleger, Schwestern und die Patienten, die noch was mitbekommen, sehen uns wahlweise irritiert oder missbilligend an/nach, aber als ich bei der dreizehnten Runde möglichst bösartig und ohne zu blinzeln meinen Blick ganz langsam an den am Rand Stehenden vorbeiwandern lasse, scheint auf einmal allen etwas furchtbar wichtiges, das noch unbedingt erledigt werden muss, einzufallen.

"Dann geh halt hin und frag sie, frag die Schwester!"
Egal, worum es ging, zwischenzeitlich gab er nur noch diesen Satz von sich. Egal, wie oft mein Vater versicherte, dass die Tabletten mit dem Abendessen kommen würden, so, wie immer; ob er versuchte, mit seinem Vater über das Pflegeheim zu reden, oder ob er ihn fragte, ob er gut schlafen könne hier in der Klinik.
Der Mann mit dem unvollständigen Schädel sitzt am selben Tisch wie wir, versucht, mir in den Ausschnitt zu starren und merkt schließlich an, Opa Mayhem wäre ja nur am rummäkeln und sich beschweren. Schlaflos wären hier doch alle, außer die, die ihre Schlaftabletten horten und dann mehrere auf einmal nehmen.
Das interessiert mich nicht, du Idiot, will ich schreien.
Mache ich aber nicht. Schweige weiter und beobachte meinen Großvater, der zwischendurch ein paar kraftlose und halbherzige Versuche unternimmt, seinem Rollstuhl zu entkommen, es aber nach einem "Vater, bitte..." von Papa Mayhem gleich wieder bleiben lässt.

Irgendwann bringen sie das Essen, und Großvater Mayhem ruft, er will nichts essen, garnichts will er, garnichts, alles sinnlos, alles ohne Sinn. Alles so traurig und so gemein und so ein Sauhaufen.
Vater, du musst was essen.
Nein!
Papa Mayhem schneidet Brotscheibenhälften, und dann Hälften von Hälften, jede Viertelscheibe bekommt ein Viertel Wurst, wird nochmal geteilt und Opa Mayhem hingeschoben. Der isst dann doch, jedem Bissen folgt ein "Ich will nichts, garnichts will ich..", aber er nimmt sich doch weiter Brotachtel , bis die halbe Scheibe gegessen ist. Dann weigert er sich endgültig und auch dann noch lautstark, als mein Vater eine weitere Wurtscheibe halbiert und selbst isst.
Wir müssen dann gehen, Vater.
Jaja, geht ruhig.
Nicht einmal den Blickt hebt er und sieht so verloren aus. Verloren und alt, steinalt, und der hoffnungsloseste Mensch, der mir bis dato begegnet ist.
Das alles sitzt da in dem Stuhl und starrt auf seinen Teller.
Mein Vater geht neben dem Rollstuhl in die Knie, legt seinen Kopf auf der Schulter seines Vaters ab und sagt ihm,dass er sich erinnern soll an früher, an das, was er immer zu Papa Mayhem und dessen Bruder gesagt hat. Wenn man es nicht ändern kann, dann muss man es akzeptieren, und dann aufstehen und dagegen ankämpfen. Erinner dich doch dran, Vater, erinner dich doch.. jetzt musst du das machen, früher hast du es immer uns gesagt, jetzt ist es andersrum.
Opa Mayhem starrt weiter mit nur halb offenen Augen auf seinen Teller. Ja, es tut weh. Wo kommt das auf einmal her..
Ich würde sie gerne umarmen, alle beide. Ihn, um ihm zu sagen, dass er sich nicht einfach so aufgeben soll, dass er das nicht machen soll und darf und kann.. dass er sich doch nicht einfach so auflösen kann.. und meinem Vater, um ihm zu sagen,dass er nicht alleine ist.
"Also Vater, wir gehen dann jetzt.." Er steht auf, legt ihm nochmal die Hand auf die Schulter, drückt sie vorsichtig und greift nach der Tüte mit Wäsche und der zweiten mit Gebäck, das jemand Opa Mayhem geschenkt hat, der es nicht essen will und dem wir versprechen mussten, es mitzunehmen.
"Tschüss Opa. Wir kommen auf jeden Fall am Sonntag wieder, ich auch."
"Ja, ja..."
Jeder weitere Schritt weg von meinem kleinen, zusammengesunkenen, unendlich alten und nur noch vor sich hin vegetierenden Großvater ein weiterer Nadelstich.
Die Nadeln werden viel zu schnell zu Küchenmessern.
Der letzte zum Hackbeil.
Dann stehe ich im Aufzug, Papa Mayhem gegenüber, drehe mich nochmal um und sehe meinen sich auflösenden Großvater nochmal, bevor die Türen sich schließen.