Samstag, 23. März 2013
Thema: monolog


*Die ersten Töne des Liedes werden gespielt*
Ein verwahrlostes Jugendzentrum in einer Kleinstadt, davor einige Autos.
*Das Schlagzeug setzt ein*
Der Fremde betritt die Bühne, ihm folgen diverse Ghettomädchen.
-Zeitsprung-
Man sieht den Innenraum des Jugendzentrums, darin abgeranzte Sessel, in denen bekiffte oder betrunkene Ghettomädchen und Gangsterboys sitzen, während ein Computer vermutlich schlechte Diskomusik spielt.

Und dann betritt Frau Mayhem die Bühne.
*Einsatz Gitarre*
An ihrer Seite befindet sich der Raucher, in ihrer Tasche befinden sich drei Flaschen Wein fürs Geburtstagskind, eine Pulle Billigbaileys für sich selbst und eine Schachtel Kippen.
Mögen die Spiele beginnen.


Und ich stiefle da so rein, ganz locker, ganz cool, ganz selbstbewusst, meinen angetrunkten-angenervten Freund an meiner Seite und mit der festen Überzeugung, dass die Welt untergeht.
Aber was macht das schon? We carry on, ich gebe die Weinflaschen beim Geburtstagskind alias dem Fremden ab, lasse mich umarmen, mir einen Wangenkuss aufdrücken, rede mit ihm, mit dem Dumb-(B)ass(isten), mit der Egoschleuder, mit dem Grinch, Ghettomädchen und überhaupt allen, und dabei hinterlasse ich sogar einen guten Eindruck.
Eigentlich fühle ich mich ganz furchtbar verloren unter den ganzen Leuten und allein gelassen mit der Situation, aber mein Herz ist auf Krawall gebürstet, deshalb stiefle ich da durch, klicke auf andere Musik, als mir die Technokotze endgültig zu viel wird, lasse die Ghettoslamsalven, die daraufhin erbarmungslos auf mich niederprasseln, an mir abprallen und tue das, was der Raucher auch macht, wenn ihn wieder mal alles nervt: Eine rauchen.

Wenn ich vom Rauchen wiederkomme, habe ich jedes Mal mindestens eine neue Bekanntschaft geschlossen, und während diverser Aktiv- und Passivrauchpausen freunde ich mich so gut mit der Egoschleuder und dem Dumb(b)ass(isten) an, dass ersterer mich fragt, ob ich in seiner Band das Keyboard übernehmen will und letzterer anbietet, mir seinen Bass auszuleihen, weil ich ihm erzählt habe, dass ich eigentlich immer nur Schlagzeug und Bass spielen lernen wollte (irgendwie wurde dann doch Keyboard draus. Vor 12 Jahren. Und Gitarre. Vor 4 Jahren).

Ich schaffe es sogar, ein bisschen mehr zu trinken ohne dass die "Suchtverhalten!!"-Alarmleuchte in meinem Kopf anspringt, schimpfe mich ein bisschen fürs Rauchen und den Mann an meiner Seite fürs Saufen, aber als er dann bei vier Litern Bier angekommen ist, sage ich mir so, Scheiß drauf, folge der Aufforderung des Fremden, mit ihm und dem Musiker ein paar Lieder zu covern, zittere vor lauter Nervosität so sehr, dass ich die falschen Töne anschlage, bis mir auffällt, dass uns sowieso fast niemand zuhört, und ziehe nur abschätzig die Augenbraue hoch, als das Fangirlie zur Quietschekreischmeckerarie übergeht, weil _ihr_ Fremder doch versprochen hatte, dass sie Lied Nr. 3 mit ihm singt.
*Intro wird ab Einsatz d. Gitarre wiederholt*
Frau Mayhem drückt dem Fangirlie das Mikrophon mit dem miesesten Grinsen seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte in die Hand.
Fangirlie krallt es sich so brutal und schlägt es nochmal gegen die Nagelkante Frau Mayhems, dass dabei, rein zufällig natürlich, einer der liebevoll aufgeklebten und eigentlich bombenfest sitzenden Kunstnägel von deren Krallenhand abgeklappt/-gerupft wird.

Fangirlie mit einem süffisanten Grinsen : Oh, hab ich dir den Nagel umgeknickt, das tut mir aber Leid! Dauert bestimmt ewig, bis der nachwächst.

Frau Mayhem an Schmerzen gewöhnt: Ach, ist gar nicht so viel passiert, ich...

Fangirlie unterbricht sie: Doch doch, da ist ja ein richtig großes Stück abgebrochen, das tut mir jetzt ja echt ultra Leid. Lächelt spitzmündig.

Frau Mayhem: Passt schon, sind eh Kunstnägel. Schnippst den am Mikro hängenden Kunstnagel gegen den Hals des Fangirlies, von wo aus er unbeabsichtigt in dessen metertiefen Ausschnitt rutscht.
Oh, das tut mir jetzt aber Leid.
*Frau Mayhem ab.*


*Es erklingen abermals die ersten Töne des Liedes.*
Wohnzimmer des Rauchers.

Auf dem Sofa liegt Frau Mayhem, allgemeinen Weltschmerz veratmend, während der Raucher gerade versucht, mit seinem Fön den Holzofen anzuzünden.


Auf großartige Leistungen folgt meistens großer Absturz, und irgendwo auf dem Weg vom Jugendzentrum zurück zum Raucher schlägt alles über mir zusammen, was ich so vor mich hin verdrängt habe, und ich könnte wahlweise heulen oder mich vor ein fahrendes Auto schmeißen, mit hundertprozentiger Garantie aber eine Umarmung gebrauchen.
Rafft der Mann an meine Seite natürlich nicht, der jammert nur, dass besoffen bergauf laufen richtig scheiße ist, und dann zuhause, dass es so kalt ist und sein Feuerzeug leer.
Mein Angebot, ihm Streichhölzer zu geben, ignoriert er ebenso wie die Anmerkung, dass man sich sowieso demnächst zu Bette begeben und die Kombination Heizung+zwei Decken+zwei Menschen generell schon ganz gut für Wärme sorgen würde, und fünf Minuten später ist das ganze Wohnzimmer mit einer feinen, weißlichen Ascheschicht bedeckt.
"Ich hab das früher schon oft so gemacht!", versucht er, sich zu rechtfertigen.
-"Passt schon."
Denke an meine Mutter. Damals.
"Echt jetzt, das hat immer geklappt!"
An meinen Vater, der vielleicht nicht mein Vater ist.
"Ohne Mist, jetzt glaub mir halt!"
An mein Auto, dessen Fehlerspeicher totgelegt wurde.
Und das ich eventuell bald verkaufen müsste/sollte, weil das so keinen Sinn mehr hat, dauernd ruckelt und zuckelt, ich damit nächstes Jahr bis nach Hamburg auf Seminare fahren muss und ich für das Geld plus vor allem einen von Papa Mayhem versprochenen Zuschuss ein anderes ohne Verlustgeschäft kaufen könnte. Einen Polo. Den Polo. Frohmbwahsrot, wie meine Mutter immer gesagt hat.
Einen Frohmbwahsroten Polo, gefunden von der Vatersfreundin. Sofort mich angerufen, sofort fotographiert. Zwanzigfach.
"Ey Schatz, jetzt hör mir doch mal zu, ich hab echt..."
Sollte es mich unruhig stimmen, wenn meine emotionale Bindung an mein Auto stärker ist als die an diverse Menschen, sodass mich nichtmal die Aussicht auf einen frohmbwahsroten Polo wieder aufbauen kann?
"..den Ofen früher immer..."
Ich denke an Abitur, Weltuntergang.
"...so angemacht, das klappt super!"
An meinen angedachten FSJplatz, die Arbeitsstelle dort.
Weltuntergang.
"Ach ich leg mich jetzt ins Bett...wir ham schließlich zwei Decken."
An meinen langsam, aber sicher das Licht der Welt erblickenden Weisheitszahn, an Mathe, an den Vaterschaftstest, an mein Auto, an fünf Seminarwochen nächstes Jahr, ans Abitur, an Mr.Gaunt, an die furchtbare Arbeitsstelle, wieder an Mr. Gaunt, daran, dass ich es erst noch schaffen muss, den Fremden auf 0% runter zu schrauben, dass ich seine Geburtstagsfeier aber echt gut überstanden habe, wieder an Mr.Gaunt, dass Rauchen scheiße ist und wie krass es ist, dass ich dadurch so viele Leute kennengelernt und ein bisschen Selbstsicherheit gewonnen habe, wieder an mein Auto, Mr.Gaunt und zurück zum Anfang.

Irgendwann schlurft der Raucher mit Schmollgesicht ins Wohnzimmer, hebt mich entschlossen hoch, trägt mich ins Bett, wickelt mich in eine Decke, legt seinen Kopf auf meiner Schulter und seinem Arm um mich rum ab, schnaubt zufrieden und schläft beinahe auf der Stelle ein, um anschließend die Wände und mein Trommelfell durch ohrenbetäubendes Schnarchen zu erschüttern.

Irgendwann wird alles gut.
Bis dahin, einfach weiteratmen.
We carry on...