Montag, 1. Juli 2013
"Was ist das jetzt eigentlich, was wir haben?"
-"Ich denk mal Kennenlernphase. Wir haben die halt ein bisschen...beschleunigt."
Mr.Gaunt und ich sitzen auf einer Bank auf dem Aussichtspunkt und beobachten vorbeiziehende Glühwürmchenherden, während eine einzelne Grille vor sich hin zirpt und dann und wann irgendwo ein Hund bellt.
"Und was wirds, oder was soll es werden?"
-"Naja, da gibts ja eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder du hast dann die Schnauze voll von mir und willst mich loswerden, oder nicht."
"Ich glaub nicht, dass ich dich loswerden will."
Ich bin nämlich sowas von verknallt in dich.


Es ist Samstagabend, kurz vor neun, als ich, zusammen mit Mr.Gaunt, Ms Golightly als Verstärkung und einer Schüssel selbstgebackener Kekse als Geburtstagsgeschenk die Band-WG betrete und am liebsten gleich wieder kehrtmachen würde.
Fünfzehn fremde Augenpaare auf Ms Golightly und mich gerichtet, die Freundin des Bankkaufmanns (alias Mr.Gaunts Bruder) fragt gut hörbar, wer "die beiden Tussis" eingeladen hat und ihr Lästerbruder, ob Ms Golightly überhaupt schon Alkohol trinken darf.
"Ich hab sie eingeladen, und die dürfen trinken, was sie wollen", stellt Mr.Gaunt klar und verschwindet fast sofort wieder, weil es an der Tür geklingelt hat.
So geht es dann auch die nächste Stunde, in der ich mich wahnsinnig deplatziert fühle, mich frage, was zur Hölle ich hier eigentlich mache, und wie ich das überstehen soll, wenn Ms Golightly eventuell doch noch von ihrem Freund abgeholt wird.
Denn Mr.Gaunt hat zwar angeboten, uns heim zu fahren, und wehrt auch tapfer einiges an Getränken ab, trotzdem komme ich mir egoistisch vor ohne Ende und nehme das Angebot, in der WG schlafen zu können, schließlich an, auch, wenn die restlichen 15 Leute das anscheinend ebenfalls vorhaben. Aber ist ja genug Platz.

Acht Stunden später sitze ich neben der Opernsängerin und Mr.Gaunt auf dem Balkon, rauche die trillionste gesponserte Zigarette und habe es irgendwie fertig gebracht, mich mit der Opernsängerin anzufreunden und nebenher zweieinhalb Männer von mir zu begeistern.
Das Wichtigste, der halbe, ist Mr.Gaunt.
Der wird zwar mit steigendem Alkoholpegel immer lockerer, sitzt aber trotzdem immer wieder bei mir und fragt, ob alles in Ordnung ist, ob ich mich wohl fühle, und so weiter.
Und er ist einer der ersten, die wirklich akzeptieren, dass ich die einzige Person heute Abend bin, die sich nicht vollaufen lassen wird.

Weitere zwei Stunden später sitze ich mit einem meiner anderen beiden Fans, der die ganze Zeit betrunkenen Schwachsinn erzählt und mich damit wahnsinnig anstrengt, und Mr.Gaunt alleine im Wohnzimmer der WG, höre Heretoir und bin emotional irgendwo im Bereich zwischen Weltschmerz und "Alles wird gut". Irgendwie auch beides gleichzeitig, so ein bisschen.
Ms Golightly und der Mützenträger, der vor ein paar Stunden dazugekommen war, alles in sich reingeschüttet hatte, was er kriegen konnte, und sich beim Dauerkiffer durchgeschnorrt hatte wie noch was, sind entgegen meiner Bitte, doch wenigstens zu warten, bis der Mützenträger ansatzweise ausgenüchtert ist, nach Hause gefahren, und ich bin geblieben.
Einerseits, weil ich nicht von Mr.Gaunt weg wollte, andererseits, weil ich nicht ins Auto eines völlig zugekifften Besoffenen steige, der noch 50km fahren will.
Also bleibe ich.
Mein Fan gibt die Standardsprüche irgendwann auf und wird persönlich, erzählt von ach-so-kaputten Familienstrukturen und auch, nachdem ich zehnmal gesagt habe, dass er mir nicht dauernd sagen braucht, wie sehr er doch ohne seine Mutter alias seine "einzige echte Bezugsperson" verloren wäre, weil mich das verdammt nochmal fertig macht, gibt er nicht auf.
Er würde mich ja verstehen, das sei ja alles so schlimm, und so weiter, endlose Mitgefühlsbekundungen reihen sich aneinander, bevor sie wieder von genau den Aussagen ersetzt werden, die das ganze Problem erst ausgelöst haben.
Also tue ich das, was ich in solchen Situationen früher oder später immer am Liebsten tun würde, aber mich nie traue: Ich fange an, zu weinen.
Nicht viel, schließlich sind das hier beinahe fremde Leute,aber genug, um dafür zu sorgen, dass ich mich richtig mies fühle und er endlich seine Klappe hält.
Eine Entschuldigung höre ich trotzdem nicht von ihm, und erst die Opernsängerin, die aufgestanden ist, um nach dem über-schwangeren Frettchen zu sehen, durchbricht unser Schweigen, als sie das Wohnzimmer betritt und feststellt, wir sähen aus "wie Zombies. Wie verdammt übermüdete, mindestens zweimal überfahrene Zombies".
"Is bei mir doch Dauerzustand", meint Mr.Gaunt achselzuckend, erhebt sich schwerfällig von dem Campingstuhl, in dem er die letzte Stunde gehangen hat, und schleppt sich aufs Sofa, auf dem sich bereits der Kiffer breitgemacht hat und schläft wie ein Baby.
Eine Weile bin ich mir unschlüssig, dann beschließe ich, mutig zu sein, bitte Mr.Gaunt, ein Stück zu rutschen, rolle mich in der frei gewordenen Ecke zusammen und lege nach kurzem Zögern meinen Kopf an seinem Arm ab. Als er meine Frage, ob das überhaupt ok für ihn ist, bejaht, beschließe ich, noch ein Stück ran zu rutschen, und werde daraufhin sehr vorsichtig in den Arm genommen.
Wahnsinnsmoment.
Meine Rückenschmerzen sind jenseits von Gut und Böse, meine Füße sind beide eingeschlafen, mir ist kalt, ich bin müde und mir ist schlecht, außerdem stinke ich wahrscheinlich genauso nach Rauch wie er, aber in mir ist gerade nichts als leises Positivgefühl.
Alles wird gut?
Nein. Alles ist gut.
Zumindest im Moment.
Nach und nach verabschieden sich Gäste, die bereits früher schlafen gegangen sind und einen längeren Heimweg haben, irgendwen bittet Mr.Gaunt, die Musik leiser und die Rollos runter zu machen, dann ist es wieder ruhig und dunkel und wir sind, abgesehen vom Kiffer, alleine.
Endlosminuten vergehen, in denen ich der glücklichste Mensch der Welt bin seinem Atmen und meinem Herzrasen zuhöre, bis die Rückenschmerzen zu extrem werden, um sie weiter zu ignorieren. Also versuche ich, meine Kauerposition zu ändern, was aufgrund des Platzmangels allerdings nahe an den Bereich des Unmöglichen grenzt, und erkläre auf Mr.Gaunts Nachfrage, dass meine Wirbelsäule ganz offiziell scheiße ist und ich, davon abgesehen, meine Füße schon länger nicht mehr spüre, aber das wird ja sowieso überbewertet.
Zehn Minuten später liege ich neben ihm in seinem Bett, aus dem er seinen Bruder, dessen Freundin, den Mann namens Eidechse und die anderen zwei Leute, die da geschlafen haben, vertrieben hat, habe endlich eine halbwegs bequeme Schlafposition und das, was bei anderen Leuten Schmetterlinge im Bauch sind, ist bei mir schon längst über Flugsaurier-Größe hinaus gewachsen.
Läuft ganz gut, eigentlich.
"Ist das ok, wenn ich nen Arm um dich lege?"
-"Klar, warum nicht?"
"Weil du glaub ich ein Mensch bist, der manchmal nicht so mit Nähe klar kommt."
-"Du darfst das."
Also zieht er mich ein Stück zu sich ran, sehr vorsichtig, und wir liegen so da und schauen uns an und ich glaube, mein Herz explodiert gleich, und dann beschließe ich, das einzig Vernünftige zu tun und ehrlich zu sein: "Ey, wenn ich nicht so schüchtern wäre, würd ich dich jetzt küssen".
Sage ich.
Und mein Herz bleibt kurz stehen.
"Toll, ich bin ja noch schüchterner."
Sagt er.
Und lächelt.


"Wir sind im Partner-Look unterwegs.Verstörend", stelle ich fest, als ich Mr.Gaunt und mich in der Spiegelung der Eingangstür des Restaurant zum Goldenen M sehe, beide mit Pennermütze, Lederjacke und ganz in schwarz.
-"Eher so die Schöne und das Biest-mäßig, deshalb gucken die auch so", meint Mr.Gaunt und zeigt in Richtung einer Gruppe Disco-Ghetto-Yolo-Proleten, die in der Nähe des Eingangs sitzt und vor lauter Anstarren ganz vergisst, das hastig in den Mund gestopfte Essen zu kauen.
Es ist Zweiundzwanziguhrirgendwas, vor einer halben Stunde haben wir uns dann doch mal aus dem Bett bewegt, schließlich wartet zuhause eine Katze auf mich. Und/oder vor Allem auf Futter.
"Ach, sei ruhig und hol dir dein Essen", grummle ich in möglichst originalgetreuer Nachahmung des genervt-bösen Tonfalls, in dem seine eine Mitbewohnerin ab vier Uhr morgens so ziemlich alle halbwegs netten Aspekte des Feiergeschehens weggefegt und eingestampft hatte.
-"Jawohl, Chefin".
An der Kasse folgt der obligatorische Smalltalk mit der Theo-Waigel-Gedächtnisaugenbraue alias dem Bassisten der Band der Egoschleuder, sodass die Pommes, die ich mir nach längerem Zögern geordert habe, schon halb kalt sind, als wir uns endlich hinsetzen können, natürlich demonstrativ neben die Prollgruppe, damit die auch mal was zum Gucken haben.
"Besser als Fernsehen", findet Mr.Gaunt und kommentiert dann und wann die angeregte Diskussion darüber, was mit "Mandy,der Bitch" gemacht werden müsse, nachdem sie den armen Justin aufgrund seiner gewalttätigen Ader verlassen hat, mit nicht ernst gemeinten, aber sehr kreativen Vorschlägen zur Herbeiführung ihres (oder Justins) spontanen Ablebens, bis wir fertig gegessen haben und ein Blick aufs Handy mir offenbart, dass a) so ziemlich mein kompletter Freundeskreis zwischenzeitlich versucht hat, mich zu erreichen und b) die Katze inzwischen vor lauter Hunger vermutlich meine Aloe aufgefressen hat.
"Willst du heim?"
-"Von "wollen" würd ich nicht direkt reden, aber langsam bin ich echt müde und mach mir Sorgen um die Katze."
"Joa, dann packen wirs mal".
Als wir gehen, sieht uns die Prollherde nach und beginnt beinahe synchron, auf uns zu schimpfen, sobald sie uns außer Hörweite wähnt, während Mr.Gaunt seine gefühlt dreißig Taschen (Ein Herz für Cargohosen) nach den Autoschlüsseln durchsucht.
Macht aber nichts, die sollen lästern, wie sie wollen, ich bin glücklich.
Trotz komischer Partygäste, keinem Schlaf seit zwei Tagen und der Tatsache, dass ich keine Ahnung habe, wie das jetzt eigentlich alles weitergeht, oder weitergehen soll.

Irgendwie bin ich glücklich, oder total emotionsgeflasht, und als wir dann auf dem Aussichtspunkt sitzen und vorbeifliegende Glühwürmchen beobachten, ist das immer noch da und geht auch nicht weg, als er mich dann heimfährt und sich verabschiedet, und spätestens jetzt, wo er angerufen und gefragt hat, ob er morgen vorbeikommen darf, ist es wieder in voller Wucht da.
Und ich habe nicht mal was dagegen.
Natürlich ist da Angst.
Dass es nichts wird, dass es was wird, dass ich ihn verletze, dass er mich verletzt, dass ich es über- oder unterschätze, oder dass ihm beim Anblick meiner mittelschwer verchaosten Wohnung (bis dahin zwar im Zustand "annehmbar", zumindest in Räumen, die er mutmaßlich betreten wird, aber trotzdem) einfällt, dass ich eigentlich doch total doof bin,
oder dass er mich aus irgendwelchen anderen Gründen nicht mehr mag,
oder es nie wirklich getan hat,
dass ich sonstwie Mist baue und es versaue,
und noch ein ganzer Haufen anderer Paranoia und Angstgedanken,

aber das ist es wert.
Beschließe ich hiermit offiziell und beende damit den Versuch, dieses ganze schlaflose, wirre und surreale Wochenende in einen Eintrag hinein zu kondensieren, obwohl ich gerade viel zu herzbekloppt bin, um irgendetwas sinnvolles zu formulieren.
Melde mich, wenn es neues an der Front gibt, und verabschiede mich hiermit, um noch ein bisschen mit der um die Uhrzeit immer hyperaktiven Katze zu spielen/mich von ihr verprügeln zu lassen und danach irgendwie zu versuchen, meinen Gedankenwirbel so weit zu beruhigen, dass ich schlafen kann.

Irgendwann wird alles gut.
Vielleicht ja früher, als man denkt.
Vielleicht hat das Leben aber auch einfach nur mal wieder Lust, mir so richtig auf die Fresse zu hauen.
Man wird sehen.