Mittwoch, 14. Mai 2014
"Der Krähen Klage dringt nicht an mein Ohr,
ich riss es aus meinem klagend' Gewissen.
Ich mordete alle Schatten hinfort,
die einst mich in Abgründe rissen

Auch hab ich das blut-rost'ge Messer
wohl unterm Kirschenbaum vergraben
und habe den Dämon der Rache
in meinen Träumen erschlagen
"

Nach einem weiteren WG-Weltuntergang und der darauffolgenden Vorlesung finde ich mich auf einmal auf dem Weg ("Straße" kann man das ja nicht nennen) zum Postboten wieder, und nachdem ich das Mayhemmobil über diverse Berge (inklusive 90 Grad-Kurven und nur echt mit zweistelliger Steigung), die keine höhere Geschwindigkeit als 45 km/h zulassen, und Feldwege, auf denen es schon mir zu eng war und Traktorfahren wohl an olympischen Leistungssport grenzt, gequält habe, stehe ich dann irgendwann tatsächlich vor seiner Haustür.
Links Hühnerstall, rechts ultimativ flauschige Hasen, die grob geschätzt doppelt so groß sind wie Kater Mayhem, und vor mir ein circa achtjähriges Kind, das mich zunächst misstrauisch beäugt, um dann zu einer unter einer Strickjacke, einer geblümten Bluse, Gummistiefeln, einem schweren Rock, diversen Geschirrtüchern, einer Schürze und einem (absolut obligatorischen) Kopftuch begrabenen Frau zu flüchten, die aussieht, als ob sie mich gleich mit der Mistgabel, die sie in der rechten Hand hält, vom Hof jagen würde.
"Grüß Gott, ich wollt zum Postboten. Is der da?"
Die richtige Grußformel ist alles, das Gesicht der Frau hellt sich auf.
"Woarddemmoakuaz."
(Anmerk.d.Red. : Warte mal kurz/einen Moment bitte.)
Die Frau schubst das Kind samt Sportbeutel zur Hoftür raus. "Umochtbisdewiddadahemm!"
( Um acht Uhr erwarte ich dich wieder zu Hause.)
"Bostboooooooooooooooooot! Bewechdeinoarschher, d'hoasd B'such!"
(Postbote, komm doch bitte mal her, du hast Besuch.)
Nach diversen, kontinuierlich lauter werdenden und schließlich die ganze Nachbarschaft an die Fenster rufenden Versuchen ihrerseits, den Postboten (wo auch immer er gerade steckt) her zu bewegen, gibt die Kopftuchfrau auf, tritt einmal fest gegen eine Holztür und erklärt mir, einmal die Treppe hoch, dann links, dann die Balkontür eintreten, und im Flur dann die erste Tür rechts.

Die ich sowieso nicht hätte verfehlen können.
Zwei Chaossterne auf dem Türrahmen, ein Spongebobposter an der Tür, und dahinter unverständliches Geschrei auf voller Lautstärke, trotz dessen der Postbote mein Klopfen hört und mir öffnet, um mich anschließend so fest zu umarmen, dass mir kurz die Luft weg bleibt.
"Ach, schön, dass du her gefunden hast. Such dir irgendwo ne freie Ecke."
Zwischen unendlich vielen obskuren Elektrogeräten, die er wohl selbst gebaut hat, und noch mehr Pflanzen, die auf sämtlichen Fensterbänken, Regalen, und von Schränken herunter wuchern, finde ich einen Schaukelstuhl, neben dem sogar noch eine Ecke frei ist, in die ich meine Tasche stopfen kann.
"Erstmal Tee?"
-"Erstmal Tee."

"Weißt du, eigentlich ist das schon so eine Vorstufe oder Mutation von Verliebtsein. Wenn man vor jemandem sitzt, dem gerade die halbzerkauten Chips wieder aus dem Mundwinkel fallen, weil er so besoffen ist, und man ihn trotzdem noch ganz wunderbar findet, und das inzwischen so ziemlich jeden Abend.
Aber auf der anderen Seite ist es auch so, dass man jemandem, der einem was bedeutet, einen Platz in seinem Leben gibt.
Man sollte nicht auf verlorenem Posten darum kämpfen müssen, irgendwann doch zugelassen zu werden; darum, dass es eine zweite Chance gibt, und darum, dass "der Knastbruder mag Mayhem nicht" als das angesehen wird, was es ist, nämlich ein verdammt mieser Grund, dafür jemanden wegzuschubsen. Auszusetzen.
Mich wieder vom Boden aufzuheben und dann einfach wieder fallen zu lassen. "
Der Postbote und ich laufen querfeldein spazieren, an längst stillgelegten Bahngleisen vorbei, mitten ins Nirgendwo, und mit genug Abstand zum Dorf, den Menschen, der WG, und dem ganzen Rest, sodass ich reden kann.
-"Eigentlich hast du Recht. Ich weiß nicht, ich kann da nie so viel dazu sagen, wenn du was erzählst. Das ist immer alles so passend und endgültig, dass ich gar nicht weiß, was man noch hinzufügen könnte."
"Davon abgesehen, dass ich dich sowieso tot- und wieder lebendig rede und nicht zu Wort kommen lasse."
-"Ach, das passt schon so. Ist quasi wie Radio..."
"....zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus, ne?"
-"Endlich eine Frau, die mich versteht! Nee. Mehr so angenehme Hintergrundmusik. Du hast so ne eher dunkle, bisschen tiefere Stimme, und so einen angenehmen Sprechrhythmus, der erdet einen so schön."
"Bis jetzt bin ich dreimal innerhalb eines Monats gefragt worden, ob ich aus Thüringen komme, ich würde so klingen, und wurde mehrmals darauf hingewiesen, dass ich wahlweise viel zu leise, oder viel zu laut spreche, und zu undeutlich. "Angenehm" hat dazu noch keiner gesagt."
-"Siehste mal. Ich bin halt nicht so, wie die Meisten."


Der Postbote ist nicht wie die Meisten.
Unsere Unterhaltungen sind stockend und unsicher, weil selbst ich gegen ihn die Meisterin des Gesprächsflusses bin, und wenn, dann rede die meiste Zeit ich, nach dem Motto "einfach alles raushauen, irgendwann wird schon was sinnvolles dabei sein".
Irgendwie schaffe ich es trotzdem, das peinliche Schweigen nur als Hintergrundgefühl einer Semi-Unterhaltung existieren zu lassen, während wir weiter durch die Gegend, die als Vorlage fürs Auenland (nur mit fünf Trilliarden Bergen, die wahllos in die Gegend geschmissen und verdammt hoch gezogen wurden) gedient haben muss, und schließlich wieder zurück Richtung Dorf laufen. Irgendwann fange ich an, die leicht irritierten, aber überraschend neutral-freundlichen Einwohner zurück zu grüßen, und als wir nach drei Stunden wieder im Zimmer des Postboten sitzen, in dem sich die Beleuchtung auf Klatschsignal einschalten lässt, und uns Nichtlustig-Videos und den von mir bis zum Erbrechen weiterempfohlenen Frosch!Metalbrother! (Wirklich, da lernen Sie noch was fürs Leben) zum tausendsten Mal ansehen, tickt die Gedankenamokherzschmerzbombe in mir tatsächlich langsamer.
Irgendwann muss der Postbote schlafen gehen, und weil er findet, dass die WG mir nicht gut tut, und ich ihm da eigentlich zustimmen muss, bleibe ich bei ihm.

Und weil der Postbote nicht ist, wie die Meisten, liegen wir so da, in der unteren Hälfte eines Hochbetts, halb versteckt hinter den Pflanzen, die von der oberen runterwuchern, unter einer Decke und ich als der kleine Löffel, wie sich das gehört, und er startet nicht einen Annäherungsversuch der sexuellen Art. Liegt einfach so da, atmet ruhig und tief und friedlich, sein Kopf ganz vorsichtig an meiner Schulter angelehnt, nur wenige Millimeter. Sämtliche Hände, Arme, Beine, Füße und sonstige Extremitäten bei sich. Nur ein paar Haarsträhnen haben sich verirrt und auf mich gelegt, trotz mehr als Hosenbundlänge nur ganz leicht, nicht so medusamäßig, wie das meine machen würden, würde ich nachts nur einen Pferdeschwanz, oder sogar offene Haare tragen.
Und er schnarcht nicht mal, und als er um fünf aufstehen muss, schafft er das, ohne mich zu wecken, sodass ich mich ganz gemütlich gegen elf ins Bad und kurz darauf so unauffällig wie möglich aus dem Haus schleichen kann (Sie kennen mich. Fremde Menschen, und so), das Mayhemmobil sattele und wieder Richtung Kleinstadt starte.

Die Bombe ist immer noch in mir.
Sie wird explodieren und ich weiß nicht, was dann noch von mir übrig ist.
Aber sie tickt langsamer, für den Moment.

Und wenn er auch ein nervtötend optimistischer, teilweise nicht gerade feinfühliger, vieles nicht verstehender, so gar kein bisschen geschädigt-zerlegter, höchstens ein bisschen zerfledderter Mensch ist; er ist ein Mensch, ein lebendiger, der sich weder von Klischees, noch von irgendwelcher Scheiße hinter Masken oder auf den Boden drücken lässt, sondern mit beiden Füßen fest darauf steht.

Weiß nicht, ob mir das gut tun soll oder nicht.
Fest steht, ich bin verwirrt.
Und ich habe nicht das Bedürfnis, diesen Zustand so schnell aufzulösen.




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Zitat aus Frühling von Nargaroth. Aus dem Album Jahreszeiten, das sowieso sehr tolle Texte hat und musikalisch überraschend vielseitig ist, das Black Metal-Etikett sollte einen da nicht abschrecken.