Sonntag, 24. August 2014
Nach einem ziemlich biegerladenen Abend rolle ich mich Samstagmorgen aus dem Bett, male mir ein Gesicht und muss gleich weiter. Sommerfest in der Absteige, und es treten unter anderem der Fremde und Ms Golightly auf.
Unterwegs sammle ich Tante Emma ein, die doppelt so verkatert ist wie ich, wie immer, weil sie meine Ratschläge zum strategischen und eher gemäßigten Trinken nicht beherzigt hat, wie immer.
Zwei Stunden Zugfahrt, zwei Stunden warten, weil wir mit dem späteren zu spät angekommen wären, Kippe drehen, auf gehts.

Ms Golightly überrascht mich mit ihrem plötzlich aufgetauchten Gesangstalent und mein Verstand mit meiner Angstfreiheit.
Ein bisschen Stimmung machen für die anderen zwölf Zuschauer, ein paar blöde Kommentare, um Ms Golightly auf der Bühne die Nervosität zu nehmen, später Pendeln zwischen Bar und Raucherecke. Mir ist bewusst, von wem ich diese Strategie habe (mit dem Unterschied, dass ich außer einem Radler und zweimal Persico nur alkoholfreies trinke, der Abend hat ja noch nicht mal richtig angefangen), aber sie funktioniert.
Doof sein, zumindest so tun, als würde man sich selbst und alles andere feiern, und wenn die Nervosität und die Angst zu groß werden, Spontanflucht. Passt.
Ms Golightly überlebt ihren ersten "richtigen" Auftritt, der Fremde hat mit dem Start der Biervernichtungsmaßnahmen gewartet, bis die nächste Band auf der Bühne steht, irgendwie finden mich auf einmal richtig viele Menschen richtig sympathisch, und als der Rentiermann schreibt, dass in der Nähe der verhassten Kleinstadt ein Konzert ist, etwas später eine etwas irritierte sms der Fielmannfrau, deren Standardkonzertbegleitung ich bin, verkündet, der Exilsachse habe sie gefragt, ob sie da auch hingeht, und zeitgleich eine Nachricht des Rotkreuzmädchens das "du musst da hin, wir haben uns schon ewig nicht mehr gesehen und die haben sowas von geile vegane Steaks"-Argument ausspielt, habe ich innerhalb von zehn Minuten eine Hinfahrtgelegenheit für Tante Emma und mich organisiert, so toll finden mich alle.
Alles läuft so gut. Sitze unter meiner Glasglocke und bin verwirrt.

Neben dem Musikinferno tobt ein halber Höllensturm über dem Sportplatz, auf dem die Bands spielen, innerhalb von fünf Minuten bin ich komplett durchgeweicht und meine Haare sind so schwer, dass ich den Versuch, motiviertere Bewegungen als mitwippen auszuführen, schnell lasse, weil sich sonst gefühlt die Hälfte der Medusazotteln an allen Piercings, die sie zu fassen kriegen, festkrallt und sie mir rausreißen will.
Ich könnte mich nicht besser fühlen.
Viel Matsch, viel Geschrei, nebenher hat der Rentiermann einen Schlafplatz bei einem Kumpel für Tante Emma und mich organisiert.
Auf einmal steht der Exilsachse hinter mir und zupft an meinem Shirt. "Sach mal, du bist doch rohrvoll, oder?"
-"Nee, eigentlich nicht so. Warum?"
"Ach so. Dann lassen wir das lieber", winkt er grinsend ab, verschwindet wieder und die nächsten Stunden ignorieren wir uns möglichst auffällig und gucken gelegentlich, wenn der jeweils andere möglichst versunken in Unterhaltungen mit irgendwelchen anderen Menschen ist. Und das ist nicht mal unangenehm.
Alles läuft so ungewohnt gut. Meine Glasglocke hebt sich ein paar Zentimeter.

Um ein Uhr müssen wir gehen, weil Tante Emma sich, trotz meiner Versuche, sie davon abzuhalten, so zugesoffen hat, dass sie neben ihren üblichen Redeflashs, Aggressionszuständen und Sentimentalitätsanfällen zwei mal erste Anzeichen eines epileptischen Anfalls bekommen hat. Nachdem ich sie beim Rotkreuzmädchen zwischengeparkt habe, suche ich unsere Schlafgelegenheit, den Friseur, erkläre ihm im Eilverfahren die Lage, sammle mit ihm alle anderen Leute, die ebenfalls dazugehören, ein und sitze etwas später im Auto des Rentiermanns, auf der einen Seite Tante Emma, die gerade immerhin nur noch absolut betrunken wirkt, auf der anderen den Exilsachsen, vorne der Rentiermann und der Friseur, und im Kofferraum der Bruder des Friseurs, weil in so ein Auto eben auch nur begrenzt viele Menschen reinpassen.
"Und, musste nicht mehr in der Tankstelle am Ende des Universums arbeiten?", fragt der Exilsachse, während Tante Emma sich an meiner Schulter zusammenklappt.
-"Nee, haben mich einen Tag vorm Ende der Probezeit gefeuert. Dabei war ich da doch die Sympathischste!"
"Meinste?" Fragt er so. Und grinst. Dann ist auf einmal sein Arm an meiner äußeren Schulter und zieht schnell, aber überraschend behutsam meine Haare unter Tante Emma weg. "Die sabbert dich grad voll. Weiß nicht, ob du das so unbedingt in deinen Haaren haben wolltest."
Tante Emmas Hang zum Sabbern in solchen Situationen ist mir bekannt, trotzdem nerve ich sie so lange, bis sie mir, mehr oder weniger verständlich, versichert, nur müde und rotzevoll zu sein. Verschieben lässt sie sich trotzdem nicht, auch nicht, als der Exilsachse wieder näher kommt und mir helfen will.
"Joa, Anschnallen is so halt auch nicht", stelle ich fest. "Wenn ich durch die Scheibe fliege: Ihr dürft mich auslachen, aber danach helft mir bitte."
-"Das geht doch so nicht." Schneller, als ich meinem Hirn befehlen kann, von leichtem Positivgefühl auf "Ih, Nähe!" umzuschalten, hat der Exilsachse über mich gegriffen, den Gurt ziemlich unsanft unter Tante Emma rausgezerrt, die ihn dafür als "Schwanzwichser" beschimpft, über mich gezogen und mich angeschnallt.
Fünf Minuten Schweigen, in denen wir uns möglichst auffällig nicht anschauen.
"Junge Dame, du weißt aber schon, wie du mich einkategorisieren musst?" Wieder so ein undeutbarer Unterton in der Stimme.
-"Ach, ich kategorisiere eigentlich niemanden irgendwie ein."
"Wir haben uns auch schon ein paar Mal in der Tanke gesehen."
-"Ich weiß." Und habe danach immer für ein paar Minuten grenzdebil gegrinst.
"Und auf dem einen Festival."
-"Ich weiß." Da habe ich versucht, dich anzusprechen, und du hast es ignoriert.
"Und du hast mich angeschrieben. Wart mal, wo war das ?"
-"Im seriösesten Onlineportal der Welt, wenn es darum geht, pseudo-alternative Vierzigjährige zu finden, die einen anschreiben, weil sie einem seit drei Wochen aufs Profilbild wichsen."
"Aaaah, stimmt, ja. Deshalb hab ich dir da auch nicht geantwortet. "
Ahja, ok.
Es folgen ein paar Standardfragen, wann ich in die Unistadt gezogen bin und warum, und wieder Schweigen.
Weil ich fälschlicherweise denke, dass er ebenfalls beim Friseur schläft, verabschiede ich mich nicht und verbringe die restliche Nacht damit, auf Tante Emma aufzupassen und mich nebenbei zu fragen, ob ich zu distanziert und das Nicht-Verabschieden sehr schlimm war, und ob ich insgesamt zu unterkühlt/arrogant/desinteressiert gewirkt und mich damit ins Aus geschossen habe.
Dann sage ich mir, lass dich nicht verunsichern, alles wird gut. Und freu dich nicht immer so, wenn dich doch mal jemand nett finden könnte. "Könnte" heißt nämlich gar nichts. Es bedeutet genauso wenig wie "ich habe noch nie jemandem so vertraut wie dir", und "du bist alles, was ich gesucht habe". Das habe ich gelernt.
Meine Glasglocke senkt sich wieder.
Ich beschließe, das Ganze als Spiel zu sehen, und erstaunlicherweise klappt es bis jetzt.
Vielleicht ist dieses Isolationsgefühl, die dicke Glaswand zwischen einem selbst und dem Rest der Welt, ja wirklich das, was "stabil sein" bedeutet.
Ich weiß nicht, ob sich das gut anfühlen sollte.