Sonntag, 23. Juni 2019
Habe eine Dozentin zutiefst "erschüttert" und "entsetzt" (Originalzitate), weil ich "gerade einmal eine Woche und einen Tag vor dem Referat" per Mail in Angesicht absolut beschissener Quellenlage (inklusive nirgends verfügbarem Hauptwerk) nach einem Recherchetipp gefragt habe.
Neben ihrem Entsetzen brachte sie den Hinweis, ich könne das ganz einfach im Buchhandel erwerben an und den, dass ich das Werk auch für maximal eine Stunde von ihr ausleihen könne, um es mir zu scannen, vorausgesetzt, sie habe Zeit.

Ich bin ein unsicherer Teenager im Körper einer Kreuzung aus Amazone, Walküre, Eisriese und Yeti, aber von jedem Scheiß lass ich mich auch nicht mehr fertig machen.
Manchmal habe ich wieder sowas wie einen Selbstwert und ich weiß, wo ich mit mir hin will.

Der Dozentin geantwortet, danke für die Mail, und sorry, dass ich den Kurs hängen lasse, aber dieses Referat wird nicht stattfinden.
Ich möchte ungern anhand der Zeit, die ich zur Vorbereitung benutzt habe, be-/verurteilt werden, hab vor Prüfungssituationen eh schon Angst und jetzt erst recht,dementsprechend sehe ich mich nicht im Stande, das zu machen.
Hinweis angebracht, dass chronische Erkrankungen keine Ausreden sind, aber es bei mir eben einfach nicht immer blütenrein nach Plan klappt und ein entsprechender Nachweis der Uni vorliegt.
Der Dozentin die Irritation gegönnt (das Wort "Entsetzen" habe ich bewusst nicht aufgegriffen) und dabei noch ein wenig Ehrlichkeit; einen Hinweis darauf, wie verletzend es sein kann, wenn aus dem Haufen derjenigen, die kurzfristig-Schreiber sind, genau die Person angegangen wird, die nur wenig dafür kann und die es, durch die Frage nach Unterstützung, zugegeben hat.

Dass ich, Hauptdiskutierende in fast jeder Seminarsitzung und dabei gelegentlich auch Menschen mit abgeschlossenem Masterstudium zerlegend, in keiner einzigen Sitzung das jeweils behandelte Werk auch nur ansatzweise gelesen, gegoogled oder überhaupt irgend etwas vorbereitet hatte, behalte ich für mich und nach ein wenig Weinen, Wimmern und Schreien schmunzle ich über den Humor des Zufalls, der mir diese Dozentin kombiniert mit einem Referat über satirische Blicke auf Akademiker und ihre "weltfremde Verkopfheit" zugewürfelt hat.
Dann beschließe ich, das Seminar zu schmeißen und den Termin lieber zur Aktenbewältigung (mit der Quarterlifecrisis kommt jede Menge Bürokram auf mich zu. Ich hasse und fürchte Bürokram wie sonst weniges) und, wenn ich es schaffe, die Angstblockade zu überwinden, Arbeit an den beiden noch aus dem letzten Semester stammenden Projekten zu nutzen.
Ohne schlechtes Gewissen und ohne mit einer Wimper zu zucken. Ich weiß, wer ich bin, ich weiß, was ich kann, wenn ich kann, und mein Potenzial und ich, wir paddeln schon so lange im Sumpf um unser Leben, mit Betonklötzen an den Füßen, den Armen und im Kopf, als verdammte Nichtschwimmerin, dass ich für manche Scheiße einfach zu alt bin.

Dann male ich mir ein Gesicht, krame ein Kleid, das die Balance zwischen "schicker Anlass" und "Schlampe" mit Bravour hält,aus dem Schrank, mache mich auf den Weg zu einer Benefizveranstaltung der Chöre und musischen Gruppen in der Stadt, kriege im Bus kurz Panik, weil mein Vater schon wieder zu seiner Jetzt-Wieder-Freundin zurück ist, der arme, verliebte Hund; ziehe den Lidstrich nach und lasse die Schauspielerin von der Leine.

Ein wenig Applaus später sitze ich an der Bar, lasse mir erzählen, wie toll unsere Truppe und wie schade die Tatsache ist, dass ich das bezahlte Angebot seinerzeit abgelehnt habe, um ihr treu zu bleiben;
noch ein wenig später sitze ich, zusammen mit der Chormutti, die mich unter ihre Fittiche genommen hat, denn hey, Bekloppte müssen zusammen halten, auf einem Sofa, das mehr kostet als meine gesamte Inneneinrichtung, bin froh über meine geistesgegenwärtige Entscheidung für Wodka als ein Getränk, das keine sichtbaren Flecken hinterlässt, und gebe ihr TIpps zur Verzögerung oralverkehrsbedingter Nacken- und Kieferschmerzen sowie zur Pflege tropischer Zimmerpflanzen.
Noch etwas später sitzt der Goldkettchenrusse bei uns und wir haben ausgemacht, demnächst mal zusammen feiern zu gehen, weil sein schwuler Kumpel und mein schwuler Kumpel sich süß finden, aber zu schüchtern sind, um den Scheiß selbst zu klären.
Dann reden wir über die Freuden von Pelmeni und Wodka als multifunktionales Reinigungsmittel im Haushalt (und lohnenswerten Zusatz zu Schnittblumenwasser), ich erfahre, in welcher Sportart sein Vater sowjetischer Meister war und dass Sohnemann als einziger männlicher Nachkomme der Familie eigentlich das gleiche hätte machen sollen, sich aber in der Pubertät doch lieber dafür entschieden hat, auch ein Leben neben dem Sport zu haben und jo, jetzt spielt er halt vier Instrumente und studiert.
Er zählt vergangene Meistertitel auf, während wir seine Tabakreste wegqualmen und uns meine Limo teilen, unterbrochen vom Januar-Liebeskummerauslöser, der versucht, mit mir zu reden, aber genau den oberflächlichen Smalltalk bekommt, den er beantragt hat mit seinem ständigen "Ich habe aber Angst, dass du mehr willst" und dem "wenn wir uns kennen lernen, dann will ich aber, dass das von mir aus geht" und besiegelt mit dem "mir wäre es am Liebsten, ich wäre dir egal". Er ist irritiert und verletzt und ich ein unsicherer Teenager im Körper eines Walkürenamazoneneisriesenyetis, aber ich weiß, wer ich bin, ich weiß, was ich kann, wenn ich kann, und mein Potenzial,mein Selbstwert und ich, wir fahren schon so lange Achterbahn, mit Höhen- und Platzangst, da muss ich nicht noch mehr Loopings mitnehmen, mir ist eh schon schlecht.

Ich erinnere mich an eine Mitpatientin aus der Tagesklinik, die von meinem "Charisma" sprach und an meine Mutter, die trotz Mopsigkeit, schlechter Zähne, mieser Haut, blondgesträhnter Kurzhaar-Dauerwelle und was-auch-immer-ihre-Psyche-so-anstellte-wenn-ihr-Hirn-gerade-Freigang-hatte bis zum mitteschweren Verfallslevel verheiratete und nicht verheiratete Männer so effizient abgeschleppt hat, dass die dachten, sie seien selbst auf diese Idee gekommen.
Dann danke ich ihr für die Vererbung ihrer herausragenden Manipulationsfähigkeiten, mir für einen erstaunlich zuverlässigen moralischen Kompass, meiner extremen Emotionalität dafür, dass ich niemanden verletzen will und davon abgesehen sowieso lieber ich selbst bin, und meiner Sexualität dafür, dass sie Mindestansprüche hat und wir lieber enthalsam bleiben, als Probleme auf andere abzuwälzen und Kompensationsficks zum Sport zu erklären.
Danach schimpfe ich ein wenig mit meiner Mutter und mir dafür, dass ich den Rest meines Lebens aufpassen muss, den Griff nicht zu sehr zu lockern, um nicht wie sie zu werden/enden, und denke mir so, der Goldkettchenrusse ist nicht der einzige, der Meistertitel im Boxen hat.

Abschließend bedanke ich mich bei meiner Geistesgegenwärtigkeit dafür, dass es zumindest aktuell noch nicht so ist, ich immer noch alle Zähne und außerdem wieder fast einen Meter Haupthaar habe, ziehe meinen Lippenstift nach, denn Mama hat gesagt, Lavey hat geschrieben roter Lippenstift ftw, und schleiche mich an gruseligen alten Männern, bei denen ich nicht weiß, ob sie aus unlauteren Motiven stieren und sabbern oder aus Senilität, vorbei; zurück zum auf einmal gar nicht mehr so fröhlich wirkenden Liebeskummerauslöser, den Frischfleisch witternden Hyänen des Frauenchors, die unseren Tisch belegt haben, und zum Goldkettchenrussen, der die betrunkene Elfe neben sich kurzerhand vom Stuhl hebt und auf dem Schoß seines Chorkumpels ablädt, als sie auf mein "Sorry, das ist mein Platz, würdest du bitte auf stehen? Entschuldigung? EY TINDERELLA, ICH REDE MIT DIR!" nicht reagiert. Ich gebe mir ein mentales High Five dafür, nicht einfach das Feld geräumt zu haben, er gibt mir eine Ghettofaust für "Tinderella" und die letzte Kippe, die er aus den Tabakresten noch rausgekriegt hat.
"Krieg ich nochmal Feuer, bitte?"
- "Ja klar, aber als nette Gegenleistung könntest du mich eigentlich auf deine Geburtstagsfeier einladen, die Chormutti meinte vorhin, du hast im Juli?" Stahblaue Augen, so ein Grinsen und die Fähigkeit,mich zu überrumpeln und aus dem Konzept zu bringen. Oh.
"Selbstverständlichst bist du als edler Zigarettenspender zu der Feier, die bis jetzt noch nicht existiert, eingeladen;Abfuckeskalation kann ich aber nicht bieten, mehr als gemütliches Rumsitzen, bisschen was trinken und chilliger Abend ist alleine schon vom Platz her nicht drin, und will ich den Katzen auch nicht zumuten." Und meinen Nerven.
- "Damit komm' ich zurecht."
"Das freut mich. "
-"Das heißt, ich bin eingeladen?"
"Wenn du 'nen Abend ohne absolute Eskalation überstehst und keine Katzenhaarallergie hast?" Wie zum Fick bekomme ich es eigentlich hin, immer noch souverän und selbstbewusst zu reden und dabei auch noch zu lächeln?
- "Ok, Getränke statt Geschenke? Und Pelmeni?"
"Aus Kostengründen keine schlechte Idee."


Manchmal werde ich zu meinem eigenen Vorbild und überrasche mich selbst.