09. August 19 | Autor: mayhem | 0 Kommentare | Kommentieren
Gestern habe ich es geschafft, etwas für die Uni zu machen und heute, ein Gefühl distinktiv benennen zu können.
Ich war traurig.
Beim Scrollen das Profil der Frau gesehen, die wahrscheinlich meine Halbschwester ist.
Angeklickt.
Festgestellt, dass sie immer noch ein wenig aussieht wie eine Kreuzung aus Discopüppchen und Supermodel - wir kratzen beide an den 1,80m, haben lange Beine und eine harmonische Masseverteilung (mit dem Unterschied, dass ich nicht sportlich und daraus resultierend gefühlt doppelt so breit bin), große Augen, Schmollmund. Wenn ich sie sehe, erinnere ich mich daran, dass ich auch hübsch sein kann, und bin wieder motivierter, mich ein bisschen besser um mich und meinen Körper zu kümmern.
Sie hat aufgehört, zu färben; wir haben beinahe die gleiche Naturhaarfarbe, meine sieht, vermutlich durch die Weißen, nur etwas heller aus und wächst nicht auf okayer Basis raus, sondern im Kontrast zum Farbstrudel der Verdammnis. Und meine Haare sind doppelt so lang, ab Rückenmitte aber schätzungsweise nur noch ein Viertel so dicht.
Wir sind so gut wie gleich alt; dennoch braucht sie für den Abschied von Augenbrauenunfällen ein wenig länger. Aber ich fühle mit ihr; the struggle is real, und sie ist auf einem guten Weg.
Sie reist durch die Welt und hüpft dabei inzwischen nicht mehr durch Partymeilen, sondern klettert durch Gebirge;
ich sitze auf meinem riesigen Studienkredit und risikiere fortwährend das Erreichen meines lumpigen Bachelor-Abschlusses. Sie ist Krankenschwester.
Ich wusste nie, und wüsste es auch heute nicht, ob sie mich eigentlich ok findet. Wir haben zweieinhalb Universen und nicht ganz fünfhundert Meter auseinander gewohnt; den Berg rauf, und man war da. Jeder Waldspaziergang hat zwingend dort vorbei geführt, und es hat sich jedes Mal komisch angefühlt. Manchmal habe ich überlegt, zu klingeln, es aber doch gelassen. In dem einen, einzigen Telefonat zwischen ihrem Vater/meinem Erzeuger und mir meinte er schließlich, er wisse nicht, woher diese hochschädlichen Gerüchte kämen, und seine Ehe liefe gerade so gut.
Seine Ehe mit der Frau, deren geistige Einfachheit er immer wieder zur öffentlichen Lächerlichkeit macht; nicht nur, wenn er betrunken damit prahlt, dass er drei Kinder hat, und nicht präzisiert, ob da sein eigenes inkludiert ist - so oder so, offiziell hat er nur diese eine Tochter.
Da ist also nicht nur diese Frau, die hochwahrscheinlich meine Halbschwester ist.
Da ist mindestens ein, vielleicht sogar zwei weitere Kinder, jetzt eher Erwachsene, die hochwahrscheinlich ebenfalls meine, "unsere" Halbgeschwister sind.
Ich bin ein Einzelkind mit zwei oder drei Geschwistern, irgendwo da draußen.
Und ich wüsste so gerne, ob sie es wissen. Ob sie vielleicht auch bekloppt sind, oder ob der Haupt-Impact wirklich von meiner Mutter kam (wovon stark auszugehen ist). Unser hochwahrscheinlicher Erzeuger ist ein komplexbeladener Waschlappen, sobald man seine Egomanie und Arroganz aushebelt.
Aber er kann das gut; arrogant sein, selbstherrlich, sich für etwas besseres und den tollsten Typen der Welt halten. Obwohl er fett und haarig ist. Und es scheint bei ihm genauso gut zu funktionieren, wie es bei meiner Mutter funktioniert hat; die Illusion von Charisma, ein Herunterschrauben der Ansprüche, weil man Bestätigung braucht und das anscheinend auf diesem speziellen Weg, ist vermutlich das, was sie zueinander gebracht hat.
Ich habe damals nie verstanden, warum sie überhaupt mit ihm spricht, wenn er doch laut ihr (und da hatte sie Recht) ein arroganter, rechthaberischer Arsch war, und sie sich nur angebitcht und ständig diskutiert haben; dachte mir aber, sie kann ihm ja schlecht aus dem Weg gehen, sie spielen ja zusammen Theater. Und klar kommt er dann mal zum Textlernen vorbei; für viele funktioniert das besser, wenn man Szenen mit den Schauspielern durchgeht, mit denen man auch auf der Bühne steht.
Ich erinnere mich schwammig, meinem Großvater hat es sich ins Gedächtnis gebrannt, bis Schlaganfall 1 und 2 sein Hirn frittiert haben. Jetzt ist er tot, und falls es kein Jenseits gibt, kann man ihn auch nicht mehr fragen.
Ein ganzes Dorf redet, ein ganzes Dorf will ja alles gewusst und so viel Mitgefühl haben.
Ein ganzes Dorf hat nie etwas gesagt. Nicht zu meinem Erzeuger, nicht zu meiner Mutter, nicht zu meinem Vater. Dem hat seine Übrigens-mal-wieder-Freundin mitgeteilt, er sei kein richtiger Mann, wenn er sowas durchgehen lässt.
Ebenfalls schweigt sich ein ganzes Dorf darüber aus, dass Ehefrau A beim Feuerwerfest nicht mit Ehemann A, sondern Ehemann C auf dem Mattenwagen gefickt hat.
Dennoch besteht ein ganzes Dorf darauf, so besorgt um seine Kinder zu sein, vor Allem um die "Verlorenen".
Die "Verlorenen" sind der Aggressionsstörungsjunge von der Sonderschule, bei dem man sich anschickte, sich Sorgen zu machen, als er mit 20 Lungenkrebs bekommen hat und fast krepiert wäre. Vorher war das der Assi-Sohn von der Ossi-Tussi und dem alten Schmuddeltrucker.
Ich habe aus Mitleid mehrfach versucht, mich mit ihm anzufreunden; einfach, damit er nicht so alleine ist.
Er hat sein Heil im Metal gefunden und lebt ihn; leider als Regelsatz zur Persönlichkeitsgestaltung, weil seine so schwierig ist, nie einen Platz bekommen hat, an dem sie sitzen durfte, und dann irgendwo verloren gegangen ist.
Selbst ich habe zu viel Mitgefühl, um die Wände, in die er gequetscht ist, zu sprengen und zu schauen, wer er eigentlich ist.
Dann gibt es mich, den klassischen Fall von "wir haben es alle gewusst, wir haben alle versucht, zu helfen, welch ein Drama!". Habe mein Heil im Black Metal gefunden und zwischendurch immer mal ein Stück meiner Identität (aber genau so oft auch wieder abgeschuppt, was übrigens ziemlich weh tut). Wenn ich es zulasse, sehe ich wie die exakte genetische Kopie meiner Mutter und meines Erzeugers aus, und manchmal schaue ich in den Spiegel, auf Merkmalssuche, und weine ein bisschen.
Dann streiche ich über meine Tattoos, um mich zu vergewissern, dass sie noch da und echt sind, stecke einen Finger durch meine gedehnten Ohrlöcher, um mich ein bisschen anzugruseln, und stelle mir vor, was ich antworten würde, wenn mich jemand fragt, ob ich das mache, damit ich ihr nicht mehr so ähnlich sehe.
Kurz ist es ruhig; dann können mein Unterbewusstsein und ich den imaginären Fragesteller anlächeln. Ich bin mehr als ererbte Merkmale, auch wenn sie mir gerne mal die Kniescheiben zerschmettern wollen oder die Achillessehne durchschneiden.
Mit jedem Metallstück, das ich durch meine Haut gebohrt oder bohren lassen habe, jedem Millimeter mehr in den Tunneln und jedem Tintenfleck mehr unter der Haut mag ich mich pseudo-individualisiert haben; vor Allem habe ich mir aber bewiesen, dass die Entscheidungskraft über mich mir gehört. Dass mein Gehirn und mein Körper meins sind, ich da drin wohne und sonst niemand, und ich entscheide, wer was damit anstellt. Ich habe meine Haare nicht wachsen lassen, weil meine Mutter immer kurze hatte und ich mit ihrem Vornamen und dem Zusatz "die kleine" angesprochen wurde, solange es meine auch waren; ich habe sie wachsen lassen, weil ich das so lange nicht durfte und einfach Bock auf lange Haare hatte. Weil mir das gefällt, weil ich mich damit wohler fühle; weil ich sie, falls sie wieder dichter werden, als Schal benutzen kann, als Zensurbalken für Speckrollen, und weil ich damit krass cooles Zeug anstellen kann, zum Beispiel Suebenknoten (sieht an mir nicht cool aus) oder den Elling-Frau-Dutt oder anderen historischen Kram rekonstruieren.
Ich werde immer wieder ich; und das wirkt manchmal unmöglich und aussichtslos, aber manchmal, da finde ich doch ein Stück. Und eines davon sieht aus, als würde es deine Kinder fressen, und braucht mindestens 1,20m Haupthaar, um die Frisur einer Moorleiche nachzubasteln.
Der andere "Verlorene" ist der Albino-Junge mit dem Herzfehler; nachdem er sich zu Pubertätszeiten größte Mühe gab, ein guter Dorfjunge zu sein und zu entsprechender Beliebtheit gelangte, indem er mitgesoffen, mitgefeiert, und am Volkssport "Mayhem fertig machen" teilgenommen hat, habe ich ihn vor zwei Jahren auf einem Konzert getroffen.
Wir haben vor zehn oder mehr Jahren das letzte Mal miteinander geredet, und es war irgendwas unfreundliches. An dem Abend ist er zu mir gekommen, hat gefragt, ob ich Mayhem bin, und sich entschuldigt.
Er wisse, was er gesagt und gemacht habe. Er wisse, dass es keine Ausrede sei, es darauf abzuwälzen, dass er gerne wie die anderen gewesen wäre, und dass es ihm besser gegangen ist, wenn wir uns einfach alle auf mein Falsch-Sein konzentriert haben statt auf seins, das sonst unweigerlich Thema gewesen wäre oder war.
Ich habe ihm gesagt, dass ich es verstehe und das Gleiche getan hätte, hätte ich es über's Herz gebracht.
Er hat sich nochmal entschuldigt und gesagt, dass es mich auszeichnet, so ein Sensibelchen zu sein.
Nach langer Zeit im Krankenhaus habe er beschlossen, in den Schwarzwald zu ziehen, bis er genug Geld beisammen hat, um auszuwandern.
Ich habe seitdem nichts mehr von ihm gehört, aber sehe manchmal Fotos von ihm, wie er im selbstgestricken Norwegerpulli vor einer Holzhütte in Schweden, manchmal auch Finnland, sitzt, einen Tee schlürft und wie der zufriedenste Albino-Almöhi wirkt, der mir jemals begegnet ist.
Ich kenne allerdings nicht viele Almöhis.
Ich war traurig.
Beim Scrollen das Profil der Frau gesehen, die wahrscheinlich meine Halbschwester ist.
Angeklickt.
Festgestellt, dass sie immer noch ein wenig aussieht wie eine Kreuzung aus Discopüppchen und Supermodel - wir kratzen beide an den 1,80m, haben lange Beine und eine harmonische Masseverteilung (mit dem Unterschied, dass ich nicht sportlich und daraus resultierend gefühlt doppelt so breit bin), große Augen, Schmollmund. Wenn ich sie sehe, erinnere ich mich daran, dass ich auch hübsch sein kann, und bin wieder motivierter, mich ein bisschen besser um mich und meinen Körper zu kümmern.
Sie hat aufgehört, zu färben; wir haben beinahe die gleiche Naturhaarfarbe, meine sieht, vermutlich durch die Weißen, nur etwas heller aus und wächst nicht auf okayer Basis raus, sondern im Kontrast zum Farbstrudel der Verdammnis. Und meine Haare sind doppelt so lang, ab Rückenmitte aber schätzungsweise nur noch ein Viertel so dicht.
Wir sind so gut wie gleich alt; dennoch braucht sie für den Abschied von Augenbrauenunfällen ein wenig länger. Aber ich fühle mit ihr; the struggle is real, und sie ist auf einem guten Weg.
Sie reist durch die Welt und hüpft dabei inzwischen nicht mehr durch Partymeilen, sondern klettert durch Gebirge;
ich sitze auf meinem riesigen Studienkredit und risikiere fortwährend das Erreichen meines lumpigen Bachelor-Abschlusses. Sie ist Krankenschwester.
Ich wusste nie, und wüsste es auch heute nicht, ob sie mich eigentlich ok findet. Wir haben zweieinhalb Universen und nicht ganz fünfhundert Meter auseinander gewohnt; den Berg rauf, und man war da. Jeder Waldspaziergang hat zwingend dort vorbei geführt, und es hat sich jedes Mal komisch angefühlt. Manchmal habe ich überlegt, zu klingeln, es aber doch gelassen. In dem einen, einzigen Telefonat zwischen ihrem Vater/meinem Erzeuger und mir meinte er schließlich, er wisse nicht, woher diese hochschädlichen Gerüchte kämen, und seine Ehe liefe gerade so gut.
Seine Ehe mit der Frau, deren geistige Einfachheit er immer wieder zur öffentlichen Lächerlichkeit macht; nicht nur, wenn er betrunken damit prahlt, dass er drei Kinder hat, und nicht präzisiert, ob da sein eigenes inkludiert ist - so oder so, offiziell hat er nur diese eine Tochter.
Da ist also nicht nur diese Frau, die hochwahrscheinlich meine Halbschwester ist.
Da ist mindestens ein, vielleicht sogar zwei weitere Kinder, jetzt eher Erwachsene, die hochwahrscheinlich ebenfalls meine, "unsere" Halbgeschwister sind.
Ich bin ein Einzelkind mit zwei oder drei Geschwistern, irgendwo da draußen.
Und ich wüsste so gerne, ob sie es wissen. Ob sie vielleicht auch bekloppt sind, oder ob der Haupt-Impact wirklich von meiner Mutter kam (wovon stark auszugehen ist). Unser hochwahrscheinlicher Erzeuger ist ein komplexbeladener Waschlappen, sobald man seine Egomanie und Arroganz aushebelt.
Aber er kann das gut; arrogant sein, selbstherrlich, sich für etwas besseres und den tollsten Typen der Welt halten. Obwohl er fett und haarig ist. Und es scheint bei ihm genauso gut zu funktionieren, wie es bei meiner Mutter funktioniert hat; die Illusion von Charisma, ein Herunterschrauben der Ansprüche, weil man Bestätigung braucht und das anscheinend auf diesem speziellen Weg, ist vermutlich das, was sie zueinander gebracht hat.
Ich habe damals nie verstanden, warum sie überhaupt mit ihm spricht, wenn er doch laut ihr (und da hatte sie Recht) ein arroganter, rechthaberischer Arsch war, und sie sich nur angebitcht und ständig diskutiert haben; dachte mir aber, sie kann ihm ja schlecht aus dem Weg gehen, sie spielen ja zusammen Theater. Und klar kommt er dann mal zum Textlernen vorbei; für viele funktioniert das besser, wenn man Szenen mit den Schauspielern durchgeht, mit denen man auch auf der Bühne steht.
Ich erinnere mich schwammig, meinem Großvater hat es sich ins Gedächtnis gebrannt, bis Schlaganfall 1 und 2 sein Hirn frittiert haben. Jetzt ist er tot, und falls es kein Jenseits gibt, kann man ihn auch nicht mehr fragen.
Ein ganzes Dorf redet, ein ganzes Dorf will ja alles gewusst und so viel Mitgefühl haben.
Ein ganzes Dorf hat nie etwas gesagt. Nicht zu meinem Erzeuger, nicht zu meiner Mutter, nicht zu meinem Vater. Dem hat seine Übrigens-mal-wieder-Freundin mitgeteilt, er sei kein richtiger Mann, wenn er sowas durchgehen lässt.
Ebenfalls schweigt sich ein ganzes Dorf darüber aus, dass Ehefrau A beim Feuerwerfest nicht mit Ehemann A, sondern Ehemann C auf dem Mattenwagen gefickt hat.
Dennoch besteht ein ganzes Dorf darauf, so besorgt um seine Kinder zu sein, vor Allem um die "Verlorenen".
Die "Verlorenen" sind der Aggressionsstörungsjunge von der Sonderschule, bei dem man sich anschickte, sich Sorgen zu machen, als er mit 20 Lungenkrebs bekommen hat und fast krepiert wäre. Vorher war das der Assi-Sohn von der Ossi-Tussi und dem alten Schmuddeltrucker.
Ich habe aus Mitleid mehrfach versucht, mich mit ihm anzufreunden; einfach, damit er nicht so alleine ist.
Er hat sein Heil im Metal gefunden und lebt ihn; leider als Regelsatz zur Persönlichkeitsgestaltung, weil seine so schwierig ist, nie einen Platz bekommen hat, an dem sie sitzen durfte, und dann irgendwo verloren gegangen ist.
Selbst ich habe zu viel Mitgefühl, um die Wände, in die er gequetscht ist, zu sprengen und zu schauen, wer er eigentlich ist.
Dann gibt es mich, den klassischen Fall von "wir haben es alle gewusst, wir haben alle versucht, zu helfen, welch ein Drama!". Habe mein Heil im Black Metal gefunden und zwischendurch immer mal ein Stück meiner Identität (aber genau so oft auch wieder abgeschuppt, was übrigens ziemlich weh tut). Wenn ich es zulasse, sehe ich wie die exakte genetische Kopie meiner Mutter und meines Erzeugers aus, und manchmal schaue ich in den Spiegel, auf Merkmalssuche, und weine ein bisschen.
Dann streiche ich über meine Tattoos, um mich zu vergewissern, dass sie noch da und echt sind, stecke einen Finger durch meine gedehnten Ohrlöcher, um mich ein bisschen anzugruseln, und stelle mir vor, was ich antworten würde, wenn mich jemand fragt, ob ich das mache, damit ich ihr nicht mehr so ähnlich sehe.
Kurz ist es ruhig; dann können mein Unterbewusstsein und ich den imaginären Fragesteller anlächeln. Ich bin mehr als ererbte Merkmale, auch wenn sie mir gerne mal die Kniescheiben zerschmettern wollen oder die Achillessehne durchschneiden.
Mit jedem Metallstück, das ich durch meine Haut gebohrt oder bohren lassen habe, jedem Millimeter mehr in den Tunneln und jedem Tintenfleck mehr unter der Haut mag ich mich pseudo-individualisiert haben; vor Allem habe ich mir aber bewiesen, dass die Entscheidungskraft über mich mir gehört. Dass mein Gehirn und mein Körper meins sind, ich da drin wohne und sonst niemand, und ich entscheide, wer was damit anstellt. Ich habe meine Haare nicht wachsen lassen, weil meine Mutter immer kurze hatte und ich mit ihrem Vornamen und dem Zusatz "die kleine" angesprochen wurde, solange es meine auch waren; ich habe sie wachsen lassen, weil ich das so lange nicht durfte und einfach Bock auf lange Haare hatte. Weil mir das gefällt, weil ich mich damit wohler fühle; weil ich sie, falls sie wieder dichter werden, als Schal benutzen kann, als Zensurbalken für Speckrollen, und weil ich damit krass cooles Zeug anstellen kann, zum Beispiel Suebenknoten (sieht an mir nicht cool aus) oder den Elling-Frau-Dutt oder anderen historischen Kram rekonstruieren.
Ich werde immer wieder ich; und das wirkt manchmal unmöglich und aussichtslos, aber manchmal, da finde ich doch ein Stück. Und eines davon sieht aus, als würde es deine Kinder fressen, und braucht mindestens 1,20m Haupthaar, um die Frisur einer Moorleiche nachzubasteln.
Der andere "Verlorene" ist der Albino-Junge mit dem Herzfehler; nachdem er sich zu Pubertätszeiten größte Mühe gab, ein guter Dorfjunge zu sein und zu entsprechender Beliebtheit gelangte, indem er mitgesoffen, mitgefeiert, und am Volkssport "Mayhem fertig machen" teilgenommen hat, habe ich ihn vor zwei Jahren auf einem Konzert getroffen.
Wir haben vor zehn oder mehr Jahren das letzte Mal miteinander geredet, und es war irgendwas unfreundliches. An dem Abend ist er zu mir gekommen, hat gefragt, ob ich Mayhem bin, und sich entschuldigt.
Er wisse, was er gesagt und gemacht habe. Er wisse, dass es keine Ausrede sei, es darauf abzuwälzen, dass er gerne wie die anderen gewesen wäre, und dass es ihm besser gegangen ist, wenn wir uns einfach alle auf mein Falsch-Sein konzentriert haben statt auf seins, das sonst unweigerlich Thema gewesen wäre oder war.
Ich habe ihm gesagt, dass ich es verstehe und das Gleiche getan hätte, hätte ich es über's Herz gebracht.
Er hat sich nochmal entschuldigt und gesagt, dass es mich auszeichnet, so ein Sensibelchen zu sein.
Nach langer Zeit im Krankenhaus habe er beschlossen, in den Schwarzwald zu ziehen, bis er genug Geld beisammen hat, um auszuwandern.
Ich habe seitdem nichts mehr von ihm gehört, aber sehe manchmal Fotos von ihm, wie er im selbstgestricken Norwegerpulli vor einer Holzhütte in Schweden, manchmal auch Finnland, sitzt, einen Tee schlürft und wie der zufriedenste Albino-Almöhi wirkt, der mir jemals begegnet ist.
Ich kenne allerdings nicht viele Almöhis.