Dienstag, 4. Februar 2020
In Sachen unübliche Lebensgeschichten bin ich ja quasi Fachfrau.
Da wäre meine, und was sie so mit mir anstellt, und da sind die all derer, denen ich unterwegs begegne und die ich entweder einsammle oder liegen lasse (Fortschritt!).
Die Kunst ist, sich weder von der augenscheinlichen Ungerechtigkeit auffressen zu lassen, noch, vor ihr zu resignieren.
Die treibende Schicksalskraft ist der Zufall, und dem ist per se erst mal alles egal. Der macht einfach sein Ding, und gut ist. Oder ungut - egal, juckt den Zufall nicht.
Desweiteren bin ich ziemlich wahrscheinlich nicht Jesus - ich bin nicht hier, um das Leid der Welt auf meinen Schultern zu tragen oder/und irgendwem dadurch Erlösung zu verschaffen. Erlöst euch doch selbst. Echt jetzt.

Die Kunst ist, die Selbstdefinition zu meistern, wenn man denn herausfinden will, wer oder was dieses ominöse "Selbst" sein soll.
Dazu gehört die von mir beständig gepredigte heilige Dreifaltigkeit: konstruktiv, differenziert, reflektiert. Im Hirn und außerhalb. Für das Ich und für das Andere und für alles, was daraus entsteht oder nicht-entsteht.

Die Kunst ist Mut.
Mut ist nicht: angstfrei sein. Angst ist evolutionär gesehen sinnig, Angst kann tolle Sachen, zum Beispiel unser Leben retten.
Mut ist das "Trotzdem". Ein Protokoll schreiben, zwanzig Minuten am Tag, bis es fertig ist, und es dann, zwei Stunden zu spät, abgeben. Sich dabei fast ein- und ganz und gar nicht darauf scheißen, dass das eine lächerlich einfache, übersichtliche Aufgabe ist, die man eigentlich mit links bewältigen könnte.
Vor Angst und Anspannung das Gefühl haben, gleichzeitig weinen, Sachen kaputt schlagen und kotzen zu müssen, weil das Scheißleben gerade mal wieder alles andere als einfach ist.
Sich einzugestehen, dass das Leben das nicht aus böser Absicht tut und "einfach" subjektive Definitionssache ist. "Einfach" im Vergleich zu was? Und warum der Vergleich?
Mut ist Ehrlichkeit.
Nicht verloren gehen in dem, was man gern wäre, was die anderen sein könnten, was die Schwarzmalerei sagt oder was die Hoffnung gerne hätte.
Realistisch bleiben, so richtig. Die Realität will dich weder verzaubern, noch will sie dir auf die Fresse hauen. Die Realität ist erst mal einfach da, macht eben ihr Ding, und gut ist. Oder ungut - juckt die Realität nicht.
Mut ist Menschlichkeit.
Der allgemeine kategorische Imperativ, "Sei kein verdammtes Arschloch". Gilt für das Selbst und das Andere.
Dem Scheißefinden einen Raum geben, und dann irgendwie den mentalen Backflip schaffen und verzeihen, dem Selbst und dem Anderen - wenn es angebracht ist.
Mut ist nämlich auch, Grenzen zu ziehen.
Aussortieren, Unverzeihliches als genau das benennen.
Überhaupt. Dingen einen Namen geben. Und erkennen, dass die manchmal auch nur Schall und Rauch sind.

Die Kunst ist konstruktive Akzeptanz.
Gegen Windmühlen ankämpfen lohnt sich nicht immer - die Scheißdinger einfach wegzusprengen manchmal schon. In die Luft jagen, mit dem Panzer drüber fahren, und weg mit dem Scheiß.
Manchmal vielleicht doch lieber stehen lassen und einfach woanders hin. Mit oder ohne Panzer.
Erkennen, dass auch Unaushaltbares nicht immer abhaut, egal, wie sehr man es sich wünscht. Und den Plan anpassen. Oder über Bord werfen und nen neuen machen. Oder auch nicht.
Festhalten, dass es manchmal Gründe gibt und manchmal nicht.
Unabhängig davon irgendwas draus machen. Aus der Situation, der Erkenntnis, dem Leben, dem Selbst oder dem Anderen.

Die Kunst ist, weiter zu machen - nicht mit jedem Bullshit, den man sich so zusammen gesponnen hat, sondern, ganz schlicht und ergreifend, mit dem Existieren.
Irgendwann wird schon wieder ein Leben draus.
Ob mit oder ohne Hoffnung, mit oder ohne Glauben an das Selbst, das Andere, Schicksal, Zufall, Universum, höhere Mächte, Gründe, Perspektiven.


Die Kunst ist Selbst-Transformation.
"Stabiles Mittelmaß ist mir nicht vergönnt" streichen und stattdessen damit arrangieren, dass alles permanent fragil, wacklig und im Wandel begriffen ist, wenn auch mit variierender Intensität. Davon verabschieden, dass man das gut oder schlecht finden muss.
Überlegen, ob da was dran ist am "sich selbst ein Zuhause sein", aber auch nicht verzweifeln, wenn sich herausstellt, dass das eine Illusion ist, solange man davon ausgeht, dass Selbst oder Zuhause oder überhaupt irgendwas statisch ist.
Den ganzen Kram nehmen: Trauma, Welt-, Herz-und Existenzschmerz, die Angst, dass Chancen und Potentiale für immer verloren und die besten Zeiten vorbei sind, spontane Momente der Genialität und des Insichselbstverlusts, Erkenntnisse und solche, die nur so getan haben, spontane Gloriositätsanfälle des Lebens, untergehende Welten und Universen, Galaxiesplitter und implodierte Sonnen, verlorene Menschen, Jobs, Chancen, Pläne,...
den ganzen Scheiß nehmen und in einen großen Topf werfen.
Zusehen, wie das brennt und speit und zwischt und schaudert.

Die Kunst ist, daraus was zu machen. Ein Nichts, ein Etwas, irgendwas dazwischen.
Dem Topf beim Überlaufen zusehen, nasse Füße bekommen, unter denen es den Boden wegätzt.
Hoffen, dass man diesmal eine Rettungsweste eingepackt hat, weil man immer noch Nichtschwimmer ist.
Feststellen, dass auch Nussschalen zum schwimmenden Panzer transformiert werden können.
Beschissenes Wetter aussitzen, besseres nicht erwarten, aber (sofern möglich: freudig) annehmen, ohne dabei die Regenjacke zu verkaufen.
Im Idealfall: noch ein, zwei weitere auf Vorrat haben.
Für richtig mieses Wetter oder andere Schiffbrüchige.
Und eine Machete, falls sie sich als Arschlöcher entpuppen, ich bin vielleicht mitfühlend, aber nicht vollkommen bescheuert.


Meine großen Kunststücke sind Resilienz, Aussitzen, Weiteratmen, Verzicht darauf, endgültig den Verstand zu verlieren, stattdessen Fokus auf das, was man mit dem Ding sonst noch so tolles anstellen kann.

Und es lohnt sich.
Jede Implosion, jede Unaushaltbarkeit, jedes Pulverisiertwerden und jedes Loch im Herz.
Nicht, weil man das zum Leben braucht.
Sondern weil ich was draus mache.