Sonntag, 26. Januar 2020
Meine gelegentlichen Anfälle spontaner Genialität haben derart auf die Konstruktivitäts-Tube gedrückt, dass es einem anderen Menschen das Hirn und sie daraufhin ihr Leben umgekrempelt hat. So bin ich zu meiner Freundschaft(?) mit Dory gekommen, und Dory sagt, wir gehen feiern.

Weil sie ist, wie sie ist, sagt sie das nicht mit der Woche Vorlauf, die ich für Unternehmungen dieser Art und zur finanziellen Planung mindestens brauche, sondern eine halbe Stunde, bevor sie vor meiner Tür steht.
"Ich hasse es, wenn Leute unangemeldet aufkreuzen, du hast Glück, dass ich überhaupt an die Klingel bin. Was machst du überhaupt hier?"
- "Dich zwingen, aus deiner Höhle raus zu kommen, mit mir tanzen zu gehen und nen schönen Abend zu haben. Optimalerweise sammelst du dabei mindestens drei Nummern ein und machst mit mindestens zwei Personen rum, die doppelt so heiß wie dein Kaffee-Mann sind. Klingt doch nach nem super Plan!" So viel gute Laune, so viel Optimismus, so viel brutale Gnadenlosigkeit dabei.
"Ich hab meine Haare seit über einer Woche nicht mehr gewaschen, die einzige Hose, die mir passt, kann alleine zur Waschmaschine laufen, und wenn Romero vorbei käme, würde er mich als Extra für nen weiteren "Night of the Living Dead"-Teil casten - ohne, dass ich dafür in die Maske müsste."
- "Aaaach, du übertreibst. Jetzt lass mich schon raaa-heeeein, ich hab uns ein Weinchen mitgebracht!"

Eine Stunde später sitze auf meinem Bett, warte darauf, dass meine Haare trocknen und höre Dory zu, die von ihren Dating-App-Erfahrungen erzählt, während ich mich frage, wie ich es in der Zeit zwischen Mr.Gaunt und Ex-Mr.Mayhem fertig gebracht habe, mich bei psychisch ähnlich mieser Ausgangslage wie jetzt mindestens einmal die Woche bis sechs Uhr morgens kaputt zu feiern und mir genug Personen anzulachen, um ein wenig Abwechslung dabei zu haben, wer mir gerade Kummer verursacht, wem ich das Ego aufpolstere und wer sich um meines kümmert.
Als gute Wissenschaftlerin teste ich meine Thesen ("Das war, als ich noch jünger, unantastbar und gottgleich war, ohne es zu merken; inzwischen habe ich Erkenntnisse und ein paar Coping Skills, dafür aber auch Normalsterblichkeit gewonnen"), bevor ich sie zur Tatsache erkläre.
Und beschwöre auf dem Schrein des Mädelsabends unter Zuhilfenahme der heiligen Relikte Schlampenkleid, Ich-verwende-das-nur-zu-ganz-besonderen-Anlässen-weil-es-seit-Jahren-nicht-mehr-hergestellt-wird-Parfum und der "Als ich noch jung, schön und verzweifelt war"-Playlist meine brach liegenden Makeup-Skills ebenso wie mein 20jähriges Ich.
Wir geben uns die Hand und bringen uns auf den aktuellen Stand der Dinge, sie vertreibt den Schmerz um unwiderruflich verschenkte Chancen und Potenziale aus meinem Kopf und ich den ganzen Scheiß, den sie glaubt, aus ihrem.
Irgendwo dazwischen finde ich das, was ich bin, und entkomme meiner Mutter.

Im Gruftkeller kenne ich fast keine Besucher mehr, dafür aber die Thekenzwergin, trinke beinahe gratis, ohne mich zu betrinken, stelle fest, dass ich auf magische Weise auch meine Billardfähigkeiten reaktiviert habe und lerne zwischen den Spielen, der Tanzfläche und den Dampf-Pausen einen Wikinger kennen.
Er gibt mir ein paar Bier aus und wir spielen ein paar Runden Billard, meistens mit oder gegen unsere jeweiligen Begleitungen.
Er ist einen Kopf größer und etwa vier Farbstufen blonder als ich, hat einen einigermaßen gepflegten Bart auf Optimallänge und würde ich mit ihm schlafen, müsste ich weder Angst haben, ihm alle Knochen zu brechen, noch, dass sein Bauch ein eigenes Gravitationsfeld entwickelt und ich nen Drehwurm kriege.
Außerdem wechselt er hochfrequent zwischen Zuneigungsbekundungen und pöbelndem Machogehabe, und weil ich zwar mayhem 2.0 berufen habe, dank der durchgeführten Upgrades aber mindestens bei Version 2.7 bin, spiegle ich zwar und es entsteht diese seltsame Anziehungskraft, ich realisiere aber auch, dass psychische Verdrehtheit und die Fähigkeit zu Machtdynamik-Spielchen nicht zu den Gebieten gehört, auf denen Kompatibilität oder gleich sein (können) für eine Sache sprechen.
Mein zwanzigjähriges Ich überlässt mir, wenn auch murrend, das Ruder, ich bringe sie auf den aktuellen Stand der Dinge, wir vertreiben den Scheiß aus unserem Kopf und als der Billard-Wikinger auch nach einem Hinweis auf sein irritierendes Verhalten bleibt, wie er ist, schauen wir uns auf der mentalen Kommandobrücke kurz an, zucken mit den Schultern und beschließen, dass wir das weder vertiefen, noch in Verzweiflung abdriften werden, sondern es einfach in die "ok, dann ist das halt so" Kiste sortieren und unser Ding machen, wir sind hier schließlich zum feiern und nicht zum Generieren neuer Weltuntergänge.

Als Dory heim möchte, fragt der Billard-Wikinger, ob wir vorher tanzen gehen, fünfzehn Minuten sind schließlich noch bis Ladenschluss.
Mein zwanzigjähriges Ich, das es nebenbei erwähnt für eine gute Idee hielte, ihn mal nach seiner Handynummer zu fragen, will Ja sagen, aber weil ich nicht mehr zwanzig und addicted to bullshit bin, lehne ich beides ab.

Weil ich außerdem immer noch ich bin, jammere ich beim Heimlaufen darüber, dass ich mich schlecht fühle, weil ich ihn geabfuhrt habe, mir die Schuld an seinem wechselhaft-ruppigen Verhalten gebe, ich hätte ja schließlich auch etwas zugänglicher sein können und weniger Kaktus-im-Pinhead-Bodysuit und dann wäre der bestimmt auch ganz anders gewesen.
Dory klärt mich darüber auf, dass sie sich von ihm angegraben gefühlt und er ihr erzählt hat, dass die letzten drei Exfreundinnen ihn betrogen haben und er gerade mit Nummer vier zusammen ist - weil die gut aussieht. Und dass er mit Nummer drei ein Kind hat.
Mein zwanzigjähriges Ich sieht das Schema "Mann, der eine ganze Batterie an Warnzeichen ist" erfüllt, ist etwas enttäuscht, möchte aber betonen, so für den Fall, dass er demnächst mal weniger vergeben ist, wir haben schließlich Prinzipien, dass der ja gar nicht für was festes taugen muss, wenn er eh nur 'ne menschliche Heizdecke sein soll. Ich erlaube ihr und ihren Gefühlen, den Raum einzunehmen, den sie gerade brauchen und verspreche ihr, ihre These nicht auf dem Stapel derer, die auf Aktualität und Relevanz geprüft werden sollten, zu vergessen.

Dann verräume ich Dory auf meinem Sofa und bringe auf dem Schrein des Mädelsabends ein Dankbarkeitsopfer an die Götter des Erkenntnisgewinns, der Psychotherapie und der gelegentlichen Anfälle spontaner Genialität, die es mir ermöglicht haben, mich auch dann kritisch zu hinterfragen, wenn das Ergebnis hässlich sein könnte.
Ich ziehe mein 20jähriges Ich wieder aus, schminke sie mir runter, wir geben uns die Hand und danken uns für die Begegnung, bevor jeder wieder in seine Realitätsebene zurückkehrt.
Dazwischen finde ich Teile von dem, was ich sein kann, und entkomme meiner Mutter.
Gute Erfolgsquote für einen Abend.