Donnerstag, 17. Mai 2012
Ich erkenn hier nichts wieder
Alles müde und alt
Und ich male uns beide
Als Umriss aus Kreide
Auf den Asphalt


Ich erkenn mich nicht wieder
Nur mein Herz das noch schlägt
Und ich hebe die Arme
Um zu sehn ob die warme
Nachtluft mich trägt



Er kommt nicht wieder heim.
Sagt Papa Mayhem über seine Brille hinweg, während er das Formular, das mir die Auszahlung meines Kindergelds trotz Volljährigkeit zusichert, unterschreibt.
Ist das schon sicher?
Ja.
Wie es ihm geht, frage ich.
Er sitzt im Rollstuhl, sagt Papa Mayhem. Er sitzt im Rollstuhl, und das mit seiner Sprache bleibt wohl erstmal so.
Wenn, dann müsste dreimal wer von der Caritas vorbeischauen und es würde trotzdem nicht klappen.
Duschen, einkaufen, kochen, Medikamente nehmen. Geht ja sonst nicht.
Und Großvater Mayhem im Rollstuhl, alleine den ganzen Tag, das geht am wenigsten. Das steht er nicht durch.
Und wie geht es dir damit?
Er schluckt. Und sagt nichts.
Dann, dass man es nicht ändern kann.
Und dass sein Bruder so gefühlskalt ist. Gefühlskalt und sich an Zahlen festhält, heute hat er vorgerechnet, dass in zwei Jahren Opa Mayhems Erspartes komplett für dessen Betreuung draufgegangen ist.
Papa Mayhem sagt, sein Vater ist doch kein Auto, dessen Kosten/Nutzenverhältnis man ausrechnet. Dass es immernoch sein Vater ist, und der des Onkels auch.
Dass der Onkel gesagt hat, was gemacht wird oder nicht, das sei ihm egal, er ist ja schließlich nicht der Bevollmächtigte. Sei doch egal, was gemacht wird, Opa Mayhems Erspartes würde ja so oder so dafür draufgehen und danach müsse man schauen, was man macht.
Der Onkel ist Beamter. Er verdient nicht zu gut, aber mehr als Papa Mayhem.
Vermutlich werden wir trotzdem den Großteil finanzieren müssen, oder, Papa?
Ja.
Du hältst dich fest an dem, was gemacht werden muss, er sich an Zahlen, Papa.
Vielleicht hast du Recht.

Er hat aufgegeben, Mayhem. Das hat er wortwörtlich so gesagt. Ich habe ihn heute gefragt, wieso er nicht fernsieht, oder ob ich ihm mal die neue Tageszeitung mitbringen soll. Er hat nur mit den Schultern gezuckt und gemeint, wofür denn, und dass er aufgegeben hat.
Papa, das Risiko ist, dass es im Heim noch schneller geht, weil er aufgibt.
Ich weiß.
Er setzt die Großvaterbrille ab und fährt sich über die Augen. Mein kaputtgearbeiteter, müder Vater mit seiner Brille, die ihn aussehen lässt wie einen der Großväter, die ihren Enkeln vorm Schlafengehen noch eine Geschichte vorlesen.
Fürs Schreikind würde er das wohl auch machen.
Wir reden über Heime. Für Opa Mayhem.

Vorher ging es noch um die Vatersfreundin, darum, dass ich es gut finde, so, wie es jetzt ist, mit selteneren Besuchen von ihr während der Zeiten, in denen ich da bin, und mit sichausdemweggehen. Dass ich das beibehalten möchte, nicht aus Boshaftigkeit, sondern weil es beide Seiten entspannt.
Wie ich das machen will, wenn sie mal hier wohnt, hat er gefragt.
Dann wohne ich nicht mehr hier.
Und wenn sie mit mir reden will, gut, wenn sie mir nur Vorwürfe macht, kann ich das Telefonat mit einem Klick beenden. Und eventuelle Wochenendbesuche wird man überstehnen. Entfernung entspannt.

Wir haben geredet, drei Stunden lang. Über die Vatersfreundin, und über Opa Mayhem.
Mein Vater hat nebenher ein Formular ausgefüllt, aber nur eine Seite, und zwischendurch, da hat er aufgesehen und überlegt, was er sagen soll.

Mein Vater kann Persönliches nicht gut in Worte fassen, und so hat es manchmal gedauert; stockte er mitten im Satz und überlegte, um dann nach einer halben Minute fortzufahren. Ich habe ihm die Zeit gegeben, und ich habe es geschafft, dass er redet.
Er hat von sich aus geredet. Als ich ihn nach seinem Besuch bei Opa Mayhem daran erinnert habe, dass er mit mir reden kann, wenn er möchte, hat er gesagt, kann man machen, und nachdem er die Post und sich eine Flasche Bier geholt hatte, haben wir uns an den Tisch gesetzt und er hat geredet.
Vielleicht hat es ihm geholfen.
Und auch, wenn es so ist, und der Zug, in dem ein familiäres Verhältnis sitzt, abgefahren ist und wir uns meilenweit auseinander gelebt haben, könnten wir vielleicht unseren Frieden mit "uns" schließen.

Vermutlich hätte alles ganz anders kommen sollen. In Idealvorstellungen bestimmt.
In der Idealvorstellung hat mein Großvater nie seine ihm so wichtige Selbstständigkeit verloren, muss nicht im Rollstuhl sitzen und kann noch reden.
In der Idealvorstellung begreift er den Unterschied zwischen "Nicht helfen wollen" und "nicht helfen können".
Auch mein Vater hätte gerne die Idealvorstellung, wenigstens ein bisschen.
In seiner Idealvorstellung ändere ich mich und komme mit der Vatersfreundin aus.
In ihrer funktioniere ich so, wie sie es für richtig hält, und überfüttere die Katze, während sie sie zusätzlich vollstopft.
In ihrer eigenen Idealvorstellung darf die Katze in der Arbeitstasche meines Vaters schlafen und uns das Essen von den Tellern klauen.
In meiner Idealvorstellung ist die Vatersfreundin ein weniger wütender Mensch, der mit sich reden lässt und die Welt allgemein ein besserer Ort.
In der der anderen wohl auch, lediglich die Definitionen von "ein besserer Ort" variieren.
Nur darüber, dass doch eigentlich alles ganz anders sein sollte, sind wir uns wohl einig.

Die Idealvorstellung aber zieht es vor, auf Abstand zu bleiben und uns höhnisch auszulachen.
Und da sitzen wir, entfremdet, und lassen uns auslachen und das Leben auf uns regnen.



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Zitat aus "Du erkennst mich nicht wieder" von Wir Sind Helden




Mittwoch, 16. Mai 2012
"(...)
Es war einmal ein arm Kind und hat kein Vater und keine Mutter, war alles tot und war niemand mehr auf der Welt.
Alles tot, und es ist hingegangen und hat gesucht Tag und Nacht.
Und weil auf der Erde niemand mehr war, wollt's in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an;
und wie es endlich zum Mond kam, war's ein Stück faul Holz.
Und da ist es zur Sonn gangen, und wie es zur Sonn kam, war's ein verwelkt Sonneblum.
Und wie's zu den Sternen kam, waren's kleine goldne Mücken, die waren angesteckt, wie der Neuntöter sie auf die Schlehen steckt.
Und wie's wieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürzter Haufen.
Und es war ganz allein, und da hat sich's hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und is ganz allein.

(Die Großmutter in Georg Büchners Woyzeck)

Das Balancieren wird zur Routine für mich und ich falle seltener runter.
Mein Vater muss sich noch daran gewöhnen.
Ich weiß nicht, wie oft er fällt, aber ich weiß, dass er es tut.
Dass er schwankt, wenn der eine Mann da vorbeikommt.
Der, der mit ihr geschlafen hat.
Der jetzt mit meinem Vater im Gemeinderat sitzt.
Es setzt ihm noch heute zu, weil das damals wohl Liebe für ihn war, die auch durch die ganze Sache mit meiner Mutter nicht totzukriegen war.
Dieses Herz, das sich geweigert hat, zu kollabieren, und auf der anderen Seite ihres, überbelastet.
Auf beiden Seiten Eltern, die nicht unbedingt gute waren; die einen unfähig, die anderen mit früher ungesundem Trinkverhalten und anschließender Mäßigung, aber leider immernoch keiner Erleuchtung in Sachen Erziehung.
Verpasste Chancen, verfahrene Ansichten und weggeprügelte Emotionalität vs. Haltlosigkeit. Leben als Drahtseilakt, irgendwo zwischen Perspektivenlosigkeit, Resignation und dem Auflehnen dagegen. Immer mit Bier- oder Sektflasche in der Hand.
Irgendwann hat es ihr den Boden unter den Füßen weggezogen.
Vielleicht damals, als er bei einem Motorradunfall gestorben ist. Ihre alte Sache. Sechs Jahre lang in Gedanken ihre alte Sache, sein scherzhafter Satz, Großmutter Mayhem, ich werd mal dein Schwiegersohn.
Zwei Wochen später seine Todesanzeige, ausgeschnitten in ihrem Tagebuch. Darunter, die Familie trauert. Mit Kuli ergänzt "und Ich", in ihrer Schrift.
Sie hat sein Sterbebild bis zuletzt aufgehoben und mir auch 20 Jahre später noch davon erzählt.
Von ihm, und dem Unfall, und wie sein brennender Leichnam im Gebüsch gefunden wurde.
Dass ihr Herz auf der Beerdigung fast auseinandergefallen wäre.
Dass sie immer wegen ihm die Fußballspiele angeschaut haben, sie und ihre Mutter, jahrelang, vorbei an diversen kleineren Schwärmereien. Immer sonntags die Fußballspiele.
Vielleicht war es das.
Vielleicht war es das, was ihr Herz so kaputt gemacht hat, dass es einfach nicht mehr richtig zurücklieben konnte. Nicht so, wie ein Herz das normalerweise macht.

Das Herz meines Vaters liebt auch nicht so, wie ein Herz das normalerweise macht.
Es tut das eher versteckt und manchmal auf eigene Art und Weise, weil es so zurechtgequetscht und ihm eingebläut wurde, dass es die Sache mit dem Gernhaben doch bitte möglichst bleiben lassen sollte.
Das zurücklieben, das wurde nur an dafür vorgesehenen Tagen deutlich sichtbar; Hochzeitstag, Kennenlerntag, Geburtstag. Da muss man schließlich schenken, dachte sich wohl Papa Mayhems Herz, und schenkte. Schmuck, oder Blumen, oder beides.
Es tut das manchmal heute noch, wenn es der Vatersfreundin Gefühle zeigen will. Blumen schenken, oder eine Tafel Schokolade, oder einen Schokoladenosterhasen, wenn gerade Ostern ist.
Für ihn ist das keine belanglose Nebensächlichkeit, und keine absichtliche Reduktion auf greifbares, sondern eine notwendige; greifbare Gefühle sind so viel einfacher und verlangen einem oft so viel weniger ab.


Manche Gefühle kann man nicht auf greifbares reduzieren.
Sie hat es gewusst und versucht, sie wegzukriegen, er will es bis heute nicht wahrhaben.
Ich lasse ihre Übermacht über mich hinwegrollen und warte, bis die Flut sich wieder zurückzieht und irgenwann ein Verarbeitungsprozess einsetzt.
Manchmal tut er das nicht; stattdessen kommt die Flut wieder oder wird zum Malstrom, und für mich als Nichtschwimmer sollte es eigentlich unmöglich sein, in solchen tosenden Massen nicht zu verschwinden, aber irgendwie scheint es zu funktionieren, jedes Mal aufs Neue.
Vielleicht ist die Kunst nicht, unkaputtbar zu sein, sondern die eigene Verletzlichkeit zu akzeptieren und es einfach passieren zu lassen.
Sich treiben lassen,
ohne dauerhaft unterzugehen. Auch, wenn man manchmal mit dem Kopf unter Wasser ist.
Vielleicht ist es ja wirklich so.

Mein Vater kann das nicht, sich treiben lassen.
Er muss sich festhalten, an Realem, an Greifbaren, an Konventionen, Fakten, an irgendwas.
An dem, was "getan werden muss".
So, wie das aussortieren der Wohnung seines Vaters.
Ist ja im Krankenhaus, nicht sicher, wann und wie er zurückkommt, also. Längst fällig, das. Sagen sie.
Akten, die geschreddert werden, Kaufrechnungen von 1971, Wertbriefe von 1962.
Die Garantie für den Staubsauger ist ebenso abgelaufen wie die für den ehemals weißen Teppich, den ich nur in mittelgraubraun kenne.
Oder wie das Abmelden des Autos.
Heute hat er die Nummernschilder abgeschraubt, sie liegen jetzt auf der Treppe.
Landkreis-Anfangsbuchstabe Opa Mayhem-Anfangsbuchstabe Papa Mayhem-65.
Was sie mit dem Auto vorhaben, frage ich.
"Verschrotten", antwortet mein Vater und meint das ernst.
Der eigentliche Plan hatte gelautet, das Schlachtschiff nicht durch den TÜV kommen zu lassen, war alles mit dem Prüfer abgesprochen, und dann weiter zu sehen.
Jetzt ist Opa Mayhem definitiv nicht mehr fahrtüchtig, also wird die Idee der Vatersfreundin umgesetzt.
Wir verschrotten einen 30 Jahre alten Mercedes. Damals neu gekauft worden, als der epische weiße Käfer an Papa Mayhem übergegangen war, der ihn damals genauso toll gefunden hatte wie ich, als ich ihn Jahrzehnte später auf Fotos wiederfand und fortan in der Reihe der Autos, die später im Idealfall für mich in Frage kommen würden, auch den Käfer listete.
Der epische weiße Käfer ist irgendwann gegangen, und bald geht das Schlachtschiff.
30 Jahre alt, nur äußerlich etwas angerostet und bis auf das beschränkte Kofferraumvolumen (Opa Mayhem hatte versucht, in einer gefühlt vier Quadratmeter großen Hofeinfahrt zu wenden) noch völlig in Ordnung.
Und bald verschrottet.
Er hat immer gesagt, irgendwann fahre ich auch mal damit.
Die Vatersfreundin hat immer die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen. Ich in der vierrädrigen Titanic. Könne ja garnicht gut gehen.
Mein Vater hat sich enthalten, wie so oft.

Vielleicht muss es für ihn so sein. Vielleicht kann er das Auto nicht verkauft sehen, sondern muss es verschrottet wissen, findet sonst keine Ruhe und sich damit konfrontiert, dass Opa Mayhem abbaut.
Die Verarbeitungsmechanismen meines Vaters sind insofern etwas eigen, als er keine hat.
Vielleicht ist das einer der grundlegenden Unterschiede zwischen uns beiden.
Ich kann biszumgehtnichtmehr und noch weiter an einer Sache kaputt gehen, aber ich verarbeite.
Wenn auch manchmal langsam, fast unbemerkt und für mich schmerzhaft. Aber ich verarbeite, zumindest aktuell geht das noch,und irgendwann schließe ich mit der Sache ab.
Werde ich damit abschließen können.
Und wieder neu fallen.
Und immer so weiter.
Muss ja.


"Und allem Weh zu Trotze bleib ich
Verliebt in die verrückte Welt.

(hier komplett zu lesen)




Mittwoch, 9. Mai 2012
"Wir fahren".
Wenig später, wir sind da, und Papa Mayhem kann sich nur unzureichend hinter Grimmigkeit und Perfektionismus verstecken, ich weiß, wie es in ihm aussieht.
Intensivstation.
Ein Mann hat bereits geklingelt, schön, wenn Sie das schon gemacht haben, müssen wir ja nicht, smalltalkt Papa Mayhem gezwungen locker, und ich möchte ihn in den Arm nehmen und sagen, die Welt kann manchmal furchtbar grausam sein.
Krankenhausflur.
Er grüßt Angestellte, Angestellte grüßen zurück, wir laufen vorbei an verkabelten Menschen, die schlafend oder im künstlichen Koma, vielleicht auch im richtigen, in ihrem Bett liegen und weißer als leichenblass sind, verkabelten Menschen, die fernsehen, verkabelten Menschen, die Schach spielen und unverkabelten Menschen, die ihre Infusion in einer dieser Metallhutständer für Infusionsbeutel mit sich spazieren führen.

Opa Mayhem führt nichts spazieren.
Eine bürostuhlähnliche Konstruktion mit Tischplatte und einem Gurt hält ihn im Sitzen fest, von ihm weg führen mehr Schläuche und Kabel als von den Schach- und den Spaziergehmenschen auf einmal, und das EKG zeigt Kurven, die nicht besonders erbaulich wirken.
"Vater, ich bin wieder da. Mayhem auch", begrüßt ihn Papa Mayhem.
"Hmjajaah.." Er sieht nicht auf, die ganzen drei Stunden wird er nur sehr selten aufsehen, meistens sind seine Augen fast geschlossen und er hängt mit dem Kopf fast auf der Tischplatte, die Arme verschränkt oder die Hände gefaltet.
"Haben sie dir schon etwas zu Essen gebracht?"
-"Hmjajaah...:"
"Weißt du, wo du deine Patientenverfügung hingetan hast? Die brauchen wir."
-"Hmjajaah..."
"Wohin?"
-"Hmjajaah...."

Er sieht beinahe tot aus.
Niemand hatte sich die Mühe gemacht, das, was sonst ordentlich drapiert über den kreisrunden Haarausfall gekämmt wurde, in Form zu bringen, irgendjemand hatte ihn in einen Jogginganzug gesteckt und kümmerte sich, der Schmutzwäsche im Schrank nach zu urteilen, darum, dass seine Kleidung regelmäßig gewechselt wurde.
"Wir haben dir frische Kleidung mitgebracht, Vater."
"Jaja,jaja..."
Sein Blick ist schlimmer. Das, was man nicht sofort sieht.
Hängt da in seinem Stuhl, starrt auf den Boden, atmet entweder schwer oder fast garnicht.
Will uns zwischendurch etwas sagen, vergisst aber bereits am Anfang, wie sein Satz enden soll.
Schafft es nicht, die Worte auszusprechen, und so kommt außer Bestätigungsworten oder einem unwilligen Knurren meistens nur Buchstabenbrei.
Wir bemühen uns trotzdem, ihn zu verstehen.
Zeit lassen solle er sich, sagt mein Vater und legt seinem Vater die Hand auf die Schulter, während dieser verzweifelt versucht, sich zu erinnern, was er hatte fragen wollen.
Wir erfahren es nicht mehr.
Zwischendurch versucht er, sich hochzudrücken aus seinem Stuhl. Aufstehen müsse er, aufstehen.
Vater, du musst nicht aufstehen.
Doch, zur Toilette.
Vater, du musst nicht aufstehen dafür, sie haben dir einen Beutel angeschlossen.
Er muss aufstehen.
Warum?
Zur Toilette.
Aber er muss doch nicht, es ist doch alles geregelt.
Lässt sich in seinen Stuhl zurückfallen und verschränkt die Hände.

Seine Augen öffnet er nur, wenn eine Krankenschwester hereinkommt, so auch, als sein Essen gebracht wird.
Ob er alleine essen kann, fragt mein Vater.
"Jaja..."
Als er, immernoch mit fast geschlossenen Augen, mit den Fingern auf seinen belegten Broten herumdrückt, schiebt mein Vater seine Hand vorsichtig weg und schneidet kleinere Stücke.
Erster Versuch. Vater, ich habe sie dir kleiner geschnitten, jetzt kannst du sie leichter essen.
Er zieht den Belag runter, versucht, ihn zu essen, nimmt das Brotstückchen und will es auch kauen.
Essenbrocken fallen auf den Latz, den ihm eine Schwester angelegt hat.
Warte Vater, ich mache das schon.
Die nächsten zwanzig Minuten verbringt Papa Mayhem mit Wurst- und Käsebrote kleinschneiden und Opa Mayhem füttern.
Vater, ich mache das schon.
Trotzdem führt er immer wieder seine leere Hand in Richtung Mund und versucht, daraus zu essen.
Immer wieder ein "Vater, da habe ich dein Essen. Ich mache das schon", immer wieder wandert seine leere Hand zum Mund, oder zumindest vage in die Richtung; manchmal berühren seine gespitzen Finger auch seine Nase oder seine Stirn.
Vater, trink auch mal zwischenrein, dann bekommst du das leichter runter.
Jaja..
Da sitzt Papa Mayhem und füttert seinen Vater, weist ihn immer wieder darauf hin, dass er kein Essen in der Hand hält, und anfangs sagt er ihm auch, er solle die Augen auflassen.
Seine Lider bleiben fast geschlossen und nach dem dritten Versuch gibt mein Vater auf.
Zwischendurch verdünne ich den Tee, löslichen Zuckerwassertee haben sie ihm zum Essen gebracht, urinfarben und viel zu heiß, ein Tropfen, der daneben geht, lässt selbst Papa Mayhems Hand zurückzucken.
Ich verdünne den Tee mit Wasser in einer Kinderplastiktasse, so eine mit einem Trinknoppen dran, die man zusammen mit dem Rest und einer Tablette gebracht hat.
Herzrhythmusstörungen.
Da sind noch die Herzrhythmusstörungen, Papa Mayhem, sich festhaltend an Normalität und Sachlichkeit, hatte vorhin seinen Zollstock, den er, weil wir sofort, als ich von der Schule und er von der Arbeit heimgekommen war, losgefahren sind, entfaltet und mit der Spitze auf die Kurve gedeutet, die das zeigt.
Ich weiß, welche Kurve das ist, Papa. Und dass das Herzrhythmusstörungen sind.
-Ichmussaufstehn...
Nein, Vater, du musst nicht aufstehen. Der Beutel ist da, du kannst einfach laufen lassen.
-Ichmussaufstehn!
Vater...
Papa Mayhem fährt sich mit der Hand übers Gesicht, in der Sekunde, in der er nicht wieder aufschaut, hätte ich ihm gerne eine Hand auf die Schulter gelegt. Irgendwas, um ihm zu sagen, dass ich weiß, dass Normalität, Sachlichkeit und Ordnung ihn nicht mehr halten, weil die Normalität nicht mehr da ist und man nicht sachlich bleiben kann, wenn die Rollen sich umgedreht haben und der, der früher für einen gesorgt hat, jetzt versorgt werden muss.
Eine Sekunde später hält er Opa Mayhem von einem weiteren Ausbruchsversuch ab.
Da schau, jetzt läuft die Brühe. Seine Stimme ist leise und seine Sprache undeutlich, aber mit Anstrengung kann man verstehen, was er sagt.
Vater, du hast den Beutel!
Ihr könnt alle abhauen, ihr wollt mir nicht helfen!
Sein Unwillen, seine Sturheit, sein Unverständnis.
Sein Unvermögen.
Ich fülle Wasser auf und bin da. Kann nicht mehr als da sein.
Da sein, es sehen und fassungslos verloren gehen.

Papa Mayhem versucht weiter, mit ihm zu reden, und ich gelegentlich auch; dann, wenn ich reden kann, oder wenn er versucht hat, mich etwas zu fragen.
Lass dir Zeit beim Nachdenken, Opa Mayhem.
Immer wieder, lass dir Zeit, wenn er vergessen hat, was er sagen wollte, oder wenn er so undeutlich gesprochen hat, dass wir es nicht verstanden haben.
Wortmatsch.

Seine Hand ist dunkelviolett-schwarz verfärbt, ich frage mich, was die Krankenschwester getan hat, als sie ihm Blut abgezapft hat.
Mein Vater fragt den Arzt, was sie in der Zeit seit seinem letzten Besuch getan haben.
"Gehen wir lieber raus", sagt der Arzt, und sie lassen mich mit Opa Mayhem und seinem Neue Post lesenden und Kreuworträtsel lösenden Zimmerkollegen alleine.
Ich..muss...aufstehen!
Nein,Opa Mayhem.. Lege meine Hand vorsichtig auf seine schwarzviolette. Jetzt im Moment brauchst du nicht aufstehen.
Versuche, ihm in die Augen zu sehen. Sie bleiben geschlossen.
Opa, es ist gerade wirklich nicht schön, aber du kannst jetzt auch nicht aufstehen.. schau, wenn du musst, dann ist der Beutel jetzt da, und wenn du noch was brauchst, dann sagst du es mir, ja?
Jaja...
Der Zimmernachbar schaut mich böse an, weil ich so laut rede.
Ich muss laut reden, du blödes Arschloch, weil mein Opa nicht nur verschlaganfallt, sondern auch schwerhörig ist, will ich rüberschreien,lasse es aber, denn wenn ich schreie, hört mich auch mein Großvater, und der fände es bestimmt nicht toll, das mitzubekommen.
Also ignoriere ich den Zimmernachbarn und versuche, Opa Mayhem von weiteren Ausbruchsversuchen abzuhalten.
Wir schweigen uns an, dann wieder ein kurzer Redeintervall, den wir aber bald aufgeben, weil es nichts zu bereden gibt.
Ich passe auch auf, dass die Haustür immer abgeschlossen ist, Opa. Und die Rolläden herunten, und das niemand was aus dem Garten klaut.
-Jaja.. So machsusrich... kriegst dann dein Geld.
Welches Geld,Opa?
Wieder Wortmatsch.
Opa, du brauchst mir kein Geld geben.
-Jaja,kriegst dann dein Geld..
Diesmal versucht er, den Gurt, der ihn an den Stuhl schnallt, zu lösen.
Ich tue so,als hätte ich nichts gemerkt, und frage ihn, was er da macht.
Schduhl....Schdulverstelln.
Da warten wir lieber, bis Papa wieder da ist, ok, Opa Mayhem?
-Jaja...
Eine Minute später wieder die Anordnung, ich solle die verschraubte Tischplatte wegmachen, damit er aufstehen könne.
Ach, Opa Mayhem...

Nach gefühlten Stunden kommt mein Vater wieder, im Schlepptau den Arzt.
Der hat ihm erzählt, dass er gleich selbst dableiben kann, sein anderer Arm, der, der noch nicht operiert wurde, sei mindestens genauso schlimm dran wie der bereits gerichtete es war.
Papa Mayhem erwähnt es in möglichst alltäglichem Tonfall.
Papa, da ist kein Alltag und keine Routine, an dem oder an der du dich festhalten kannst.
Die Routine endet hier.

Er hat das Medikament nicht vertragen, man hatte es allerdings nicht für nötig gehalten, ein Gegenmittel zu verabreichen.
So alt, wie der schon ist,lohnt sich das doch eh nicht mehr, argumentiert die junge Krankenschwester mit der Dickrandbrille.
Papa Mayhem schaut sie auf aufgerissenen Augen an und krallt sich mit den Händen in das Krankenbett, auf dem er neben Opa Mayhems Stuhl sitzt.
"Sie Unmensch."
Bin aufgestanden und habe es ihr ins Gesicht gesagt, mit zusammengekniffenen Augen, damit sie nicht sieht, dass ich fast am Heulen bin.
Eine gefühlte Ewigkeit starren wir uns an, Papa Mayhem starrt uns an und auch der Oberarzt scheint etwas verwirrt.
Opa Mayhem hält seine Augen weiter fast geschlossen, erst, als der Arzt mir einen "Setz dich hin, dummes Kind"-Blick angedeihen lässt und anschließend mit seiner Bestandsaufnahme fortfährt, sieht er kurz auf, zur Krankenschwester.
Die fuhrwerkt hinter ihm herum, während ich erneut versuche, ihn zu beruhigen.
Opa Mayhem,ich weiß,dass du aufstehen willst.. aber es geht jetzt nicht. Das ist ja nicht für immer, das ändert sich auch bald wieder, aber jetzt am Anfang muss es so sein, und solange hast du den Beutel, wenn du musst, und Essen wird hergebracht. Zeitungen hat mein Onkel dir auch mitgebracht, wenn du lesen möchtest, und wir kommen dich auf jeden Fall weiter besuchen.
Es tut weh.
-Ach, ihr sollt alle weg, ich will euch nicht sehen..
Schweigen.
Der Arzt füllt einen Zettel aus.
-Können wir jetzt gehen?
Vater, das lassen wir lieber, sagt Papa Mayhem und legt ihm wieder eine Hand auf die Schulter.
-Ich muss aufstehen!
Vater, nein!
Die Krankenschwester erbarmt sich.
"Herr Mayhem senior, wenn ihr Besuch weg ist, stehe ich mit Ihnen auf, in Ordnung?"
-Haut ab, haut alle ab!
Also Vater, wir gehen dann.. Papa Mayhem bleibt in seinem alltäglich-freundlich-neutralen Plauderton, hinter dem er sich verstecken kann. Als wäre es nicht sein Vater, der da sitzt mit seinem halbtauben Gehirn, seinem Herzrhythmus, der komische Sachen macht, dem Sprachzentrum, das mitten im Mai Winterschlaf hält und den schlimmsten, weil deutlichsten Anzeichen des äußerlichen und innerlichen Verfalls, die ich an ihm bis jetzt gesehen habe.
Wir gehen, Opa. Lege zum Abschied meine Hand auf seine schwarzviolette, lasse mich auf dem Weg nach draußen vom Arzt daran erinnern, dass wir die Patientenverfügung mitbringen sollen, damit Opa Mayhem ein anderes Medikament, das helfen soll, aber relativ neu ist, verabreicht werden kann, und erinnere meinen Vater daran, dass wir beim nächsten mal Socken mitbringen müssen.

Auf der Heimfahrt versucht er es erst wieder mit Flucht in Fakten, fragt mich nach meinem Eindruck, erklärt die Medikamentenunverträglichkeit, und dass er nicht viel Hoffnung hat, dass das andere, neue Medikament das alles reparieren kann, auch, wenn es das soll.
Er sagt, er weiß nicht, ob wir Opa Mayhem nochmal so daheim sehen. Dass es vom Medikament abhängt. Ob es wirkt, ob er es verträgt, ob die Nebenwirkungen seinem dezimierten Restwesen so schlimm zusetzen wie das meistverwendete und nicht vertragene Mittel.
Dass er nicht weiß, wie es dann weitergeht.
Da müssten dann die von der Klinik einen Vorschlag machen.
Achja, die Vatersfreundin sei demnächst auch dort, wie lange, das wisse er noch nicht; sie habe aber seit neuestem immer mal das Problem, dass ihr Arm kribbelt oder sie ihn garnicht mehr spürt und man würde das dort näher anschauen.

Ich habe ihm gesagt, dass ich da bin.
Dass ich weiß, dass er mit sowas anders umgeht als ich, aber er, wenn er es möchte und wenn es geht, mit mir reden kann.
Darüber, wie es ist, seinen Vater zu verlieren.




Dienstag, 8. Mai 2012
Thema: monolog
So ein ausgeräumtes Zimmer birgt das Risiko, beim Einräumen Erinnerungen zu begegnen und von ihnen umgerempelt zu werden.
Da waren Bücher, schon lange nicht mehr gelesene Bücher, und mein Notizbuch, mittendrin abgebrochen und das einzige, in dem ich mehr Zahlen als Buchstaben festgehalten hatte.
Da war Kleidung, die zu weit geworden ist.
Die anderen haben aufgehört, direkt gemein zu sein und lästern nur noch im Hintergrund.
Da war auch Kleidung, die zu eng geworden ist.
Die Jeans, W27. Es wären nur noch ein paar Kilos gewesen.
Ich verfüge in dieser Hinsicht nicht über das Durchhaltevermögen meiner Mutter, und der Fakt, dass ich mich generell immer wieder aufzurappeln scheine, hat dem ganzen wohl einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Da war die CD, Summer Swap 2011.
Auch, wenn es nicht meine Geschichte war, die die CD erzählt hat, konnte ich einige Nummern nicht zuende hören, und manches war auf einmal wieder da.

Als zum xten Mal The Doors und The End liefen, räumte ich gerade die letzten Teile in meinen Kleiderschrank zurück, die von dem auch vorher nicht überquellenden Inhalt übrig geblieben sind, und
telefonierte später mit der Optimistin, die meinte, würde sich doch alles super entwickeln, es würde alles einen viel besseren Eindruck machen jetzt und die Vatersfreundin wolle doch nur Liebe und Harmonie.

Ich tendiere ja eher zu "meinen Kopf".

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Eventuell morgen ein Besuch bei Opa Mayhem, dessen Sprachzentrum immernoch meistens macht, was es will, aber nur sehr selten, was es soll.
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Mit viel Glück bis Freitag endlich eigene Dienstkleidung, ansonsten wird der Dienst eben wieder in zu großer Uniform und einer Jacke, die auch mir bis zu den Knien reicht, absolviert.
Bin ja nicht zum gut aussehen da, sondern zum helfen, auch diesmal wieder mit freundlicher Unterstützung der sympathischsten aller Mitsanitäter.

Lesen Sie also diesen Samstagmorgen nach Dienstschluss, exklusiv und nur bei Just Listen:
Zwischen Zuhalten, Abdrücken und Mojito-
Papa Mayhem, der gesprächige Kollege und ich vs. The Dorffest.
Mit allen seinen netten Begleiterscheinungen.

Hoffentlich hab ich bis dahin wieder Einweghandschuhe.