Mittwoch, 6. Juni 2012
Es ist halb elf, als sie wieder verschwindet, und halb zwei, als ich mich zum ersten Mal aus meiner Kauerposition hinter meiner Tür bewege, um mir ein Paar Socken zu holen.

Das soll mir bloß aus den Augen gehen, das Drecksmensch!
Richtig, die Vatersfreundin war heute da, so, wie die letzten Tage auch, nur mit dem Unterschied, dass sie heute schrie, das Kapitel "Familie Mayhem" sei für sie abgeschlossen und wir sollten alle verrecken, und ihre Sachen geholt hat (zum wiederholten Mal).

Man hat mir nicht einmal Zeit gegeben, mich darauf vorzubereiten. Ein einfaches "Mayhem, komm mal raus" meines Vaters, und auf einmal stand sie vor mir, bließ mir eine Rauchwolke ins Gesicht und schrie dann los.
Dass ich es jetzt geschafft habe, dass ich ihre Beziehung kaputt gemacht habe, dass ich Schuld bin,
dass sie jetzt geht, weil ich Schuld bin,
dass das Kapitel "Familie Mayhem" für sie abgeschlossen ist, wegen mir,
dass mein Vater ihr gestern den Rest gegeben hat, ich sie kaputt mache und dass ich an allem Schuld bin.
Ich habe sie angesehen ohne mit der Wimper zu zucken oder das Gesicht zu verziehen, und, wesentlich leiser als sie, erwidert:" Und du denkst, du hast mir nicht weh getan."
Eine Feststellung, keine Frage.
Und sie schreit, sie habe mich wesentlich besser behandelt, als ich blöde Sau das verdient hätte, immer habe sie mich viel besser behandelt, und ich, ich hätte ja alles kaputt gemacht.
Dabei wirft sie mir ein Kochbuch vor die Füße, dass sie sich vor einem Jahr von mir ausgeliehen hat.
Ich beschließe, es in die Küche zu bringen, wo sich die Katze beim einsetzenden Türenknallen, das ankündigt, wenn die Vatersfreundin ihre Sachen raus- und die meines Vaters reinträgt, weise unter den Küchenschrank verzieht und dort verweilt.
Weiteres Türenknallen, sie scheint das ganze Schlafzimmer abzubauen.
Gestern haben wir zusammen Geschirr gespült und uns nicht angeschrien, weil ich alles ignoriert habe, was aus ihr rauskam.
Vielleicht hat es ihr den Rest gegeben, dass ich keine Angriffsfläche mehr geboten habe, einfach so.
Die scheinbare innere Emigration, die mir doch niemals wirklich geglückt wäre.

Ich habe Angst, dass das nicht das Ende ist und sie wieder kommt.
Als sie eine weitere Plastiktüte gefüllt hat und gehen will, höre ich mich sagen:" Vergiss deine Jacke und die Katzenleine nicht." In einem normalen Ton, das Neutralbleiben scheint zu funktionieren.
"Dann sperr das Scheißteil in dein Scheißzimmer!!!"
-"Ich hab nur gesagt, dass..."
"Halt dein dreckiges Maul jetzt!!"
-"Ich.."
"Du hälst jetzt deine scheiß Klappe, oder ich hau dir drauf !!"
Da steht sie vor mir und droht mit Schlägen, ihr Raucheratem brennt in der Nase und ihr furchtbar lautes Schreien in den Ohren.
Ich muss schon garnichts mehr sagen, sondern nur atmen, als sie nachschiebt, sie würde mich gleich verprügen.
Und ich schaue ihr ins Gesicht, ohne mit der Wimper zu zucken.
"Papa Mayhem, beweg dich sofort hier rein!!!!"
Mach doch wenigstens die Haustür zu, du schreist laut genug, und wenn die Katze rausrennt..
Noch ein Versuch meinerseits. "Vatersfreundin, ich habe nur..:"
"Geh jetzt in dein Zimmer." Papa Mayhem in der Eingangstür.
-"Aber.."
"Du gehst jetzt in dein Zimmer, und untersteh dich, da wieder rauszukommen".
Autsch.
Aber ich gehe in mein Zimmer, setze mich auf den Boden hinter der Tür und lehne mich mit dem Rücken an.
"Das soll mir bloß aus den Augen gehen, das Drecksmensch!! "
Weiteratmen. Einfach weiteratmen. Sie kann mir doch nichts tun. Selbst wenn, Schläge tun eventuelll weh, aber was macht das schon. Weiteratmen.
Hinter meiner Tür tobt weiter der Orkan und das Geschrei, bestimmt hat sie morgen keine Stimme mehr, denn selbst für ihre Verhältnisse ist es laut.
Zwischendurch schließt sie die Haustür nicht, weil sie weiß, dass ich dann Angst habe, dass die Katze rausrennt.
Das Drecksmensch..
Sie spricht mir also meine Menschlichkeit ab.
Ein es bin ich, das es, dem sie die Haupt- und mein Vater somit die alleinige Schuld am Beziehungsende gibt.
Drecksmensch, ich. Das Drecksmensch.
Meine Beine zittern.
Sie soll weg. Sie soll weggehen und weg bleiben, meinetwegen kann sie ihr restliches Zeug noch holen und seines bringen, aber dann soll sie weg gehen, weit weg, ganz weit weg, oder zumindest nicht wieder hier her kommen, nicht, solange ich noch da bin.
Meine Arme jetzt auch.
Und trotzdem habe ich die Angst, die sich so sehr nach Gewissheit anfühlt, dass sie wiederkommt. Mein Vater lässt die Person, die sein Herz hat, nicht so einfach los und wird ihr nachlaufen, und sie mag groß inszenierte Dramen, an deren Ende sie sich gütigerweise herablässt, zu dem zurückzukehren, der vor ihr im Staub kriecht. War bei Ehekrisen mit dem verstorbenen Vatersfreundinmann auch so, hat sie oft genug erzählt, und sie ist doch so impulsgesteuert, wobei die Impulse immer Wut oder Hass oder Aggression sind.
Meine Atmung zittert auch, und wie ich da so auf dem Boden sitze, Rücken zur Tür, und vor mich hin zittere und heule, fragt sich die Sanitäterin in mir, ob sich so wohl die Vorstufe eines Nervenzusammenbruchs anfühlt.
Die Sanitäterin in mir ist es auch, die schemahaft das abspult, was ich für derartige Notfälle gelernt habe, als Atemnot einsetzt und mein zitterndes Luftholen immer schneller werden will; mir die Hand auf den Arm legt und sagt, und jetzt atmen wir zusammen ganz ruhig,ok? Einatmen, Ausatmen. Einatmen, Ausatmen. Einatmen, Ausatmen. Immer wieder. Ganz ruhig.
Weil ich keine Tüte habe, aber kurz vorm Hyperventilieren bin, halte ich mir die hohlen Hände vor Mund und Nase. Ausatemluft enthält mehr CO2 und hilft, den Schalter umzulegen, der einen wieder normal atmen lässt, und irgendwann klappt es auch und ich muss wenigstens keine Angst mehr haben, zu ersticken.

Auch nach dem letzten Türenknallen bleibe ich sitzen, auch, als ihr Auto weg ist. Aufstehen geht gerade nicht, und überhaupt geht gerade nichts außer zittern und schubweise ein bisschen heulen. Er hat ja gesagt, ich soll in meinem Zimmer bleiben. Und bloß nicht rauskommen.
Leises Scharren an der Tür, die Katze will rein.
Setzt sich auf mein Bett, wühlt sich in mein Schlafshirt, der Kopf guckt aus dem Kragen raus, legt sich hin und hält die Augen fest geschlossen.
Wenigstens bist du jetzt da, Kater Mayhem. Dann kann dich auch erstmal niemand einfach rausschmeißen.
Kater Mayhem hält die Augen weiter geschlossen und wirkt wie eine Reinkarnation Buddhas. Zugenommen hat er durchs stetige Gestopftwerden der Vatersfreundin auch, jetzt sieht man es besonders. Wenn sie weg bleibt, kriegen wir das aber auch wieder auf die Reihe.
Sie soll weg bleiben.
Sie soll einfach weg bleiben, sich selbst und einen guten Therapeuten finden und mit wem anders glücklich werden.
Kalt. Ich friere. Kann ich aufstehen? Ja, scheint zu klappen.
Also, Socken holen. Rosa Flauschesocken, aus Kuschelplüschstoff. Und sogar die treue Bandjacke lässt sich ausnahmsweise mal wieder schließen.
Trotzdem kalt, vielleicht kommt das Zittern ja daher. Aber es wird schwächer, immerhin.
Sie soll wegbleiben.
Mein schicksalsgebeutelter Vater schließt die Werkstatttüren und geht irgendwann dazu über, im Wohnzimmer den Sand, der unter der letzten Schicht Dielenboden aus den 50ern sowas wie eine Isolierung hatte bilden sollen, in einen großen Karton zu schaufeln und immer wieder raus zu tragen.
Er gibt mir die Schuld.
Irgendwo tief in sich drin spürt er vielleicht, dass nicht ich es war, aber er gibt mir die Schuld. Weil sie mir die Schuld gibt.
Mir, dem Etwas.
Dem Drecksmenschen.

Er hat das Werkstattradio vergessen.
Crazy von Gnarls Barkley.
Meine Mutter hat immer gesagt, das Video macht sie aggressiv, ich fand es etwas beunruhigend, aber sehr faszinierend, wie die Tintenklekse da immer neue Bilder formten.

"But maybe I'm crazy
Maybe you're crazy
Maybe we're crazy
Probably..
"




Montag, 4. Juni 2012
Der freundschaftliche Teil meiner Verbindung zur alten Sache bildet sich gerade mit vertauschten Rollen zwischen der Nixe und mir aus , und wissen Sie was, es ist ein sehr seltsames Gefühl, auf einmal in seiner Position, so.. stabil als Ruhepol, Schulter, Hoffnungsspenderin, Ratgeberin und ansatzweise gute Freundin zu sein; und das nichtmal bewusst, sondern völlig intuitiv/instinktiv.
Erkennt man automatisch Menschen, die ähnlich sind, wie man es früher einmal war (wenn auch auf einem anderen Entwicklungsstand, aber das ist wohl vergangenheitsbedingt) und versucht unbewusst, die vielzitierte "Hilfe zur Selbsthilfe" zu leisten? Vielleicht.

Eventuell auch glorreiche Fügung des Schicksals, who knows.
Anzeichen akuten Glorreichseins hat das ganze wenn, dann nur sehr vage, aber vielleicht kommt das noch und immerhin kennt sie den Fremden.
Über eine Ecke, ja; und da erzählt sie mir so von ihrer Freundin, dem lauten, selbstbewussten Trampeltierchen, die ihn kennt und die er in der Pause mal besucht hat.
In gewissen Fällen schrillen bei solchen Bemerkungen sämtliche Alarmglocken, aber beim Fremden handelt es sich nicht um so einen Fall habe ich beschlossen, somit war da nur ein seltsames Gefühl, oder eher ein Hauch davon, und fast hätte ich genauer nachgefragt, doch die Nixe erzählte von ganz alleine weiter, entkräftete das Alarmglockenpotenzial des Trampeltierchens ein wenig (Das Argument "Die ist ja auch 5, 6 Jahre jünger als er" zieht allerdings alleine nicht, da bieten diverse ehemalige und aktuelle Konstellationen in meinem Bekannten- und Freundeskreis nicht nur ähnliche, sondern auch ganz andere Zahlenwerte) und ließ gleichzeitig eine benerdbrillte Freundin eben dieses Mädchens auf den Plan treten, die anscheinend beim Fremden zu Besuch war und etwas angeheitert mit ihm auf dem Balkon saß.
Einem spontanen Besuch des Trampeltierchens hatten die beiden aber nichts entgegen zu setzen, und er wehrte sich auch nicht dagegen, als Trampeltierchen und die Angeheiterte seinen Kühlschrank leerten.
Man könnte jetzt in die Runde werfen, dass der Fremde zumindest am Wochenende sowieso ausschließlich von Bier lebt, aber das scheint ein allgemein bekannter und akzeptierter Fakt zu sein.

Ich bin natürlich so garnicht verunsichert, oder eifersüchtig (ich doch sowieso niemals).
Gibt ja auch absolut keinen Grund dafür, emotional gesehen. Und eigentlich sollte ich mir Gedanken über Klausurenstoff und die 200 Vokabeln machen, die ich bis zum Ende der Ferien erfolgreich in meinem Hirn untergebracht haben sollte . Und vielleicht darüber, wieso die Vatersfreundin nicht in einer abgschlossenen Gummizelle auf Kur ist, da, wo sie hingehört.
Aber wissen Sie was? Das tue ich, ganz überraschend mal wieder, nicht.

Vielleicht sind das Paranoia, aber ich bin verunsichert. Generell sehr schnell und in solchen Situationen sowieso.
Aber es gibt doch auf keinen Fall einen Grund dafür, verunsichert zu sein.. oder eifersüchtig.
Ich doch nicht. Und schon garnicht wegen ihm.
Wäre ja noch schöner.
Sind bestimmt nur die Folgen von mit dem Weg zur Fahrschule 15 gelaufenen Kilometern heute, zuviel Bewegung scheint sich negativ auf meine Gehirnaktivität auszuwirken, und schließlich ist es alles nur Denkenssache.


Aber war ja klar, dass die, Entschuldigung, verdammte Kackbratze eine Nerdbrille auf ihrer bescheuerten Nase sitzen hat.
Man sollte die Dinger einsammeln, einschmelzen und sinnvolles formen.

Ich meine natürlich nur die Brillen, nicht die Trägerinnen.
Auf welche Ideen kommen Sie denn?




Freitag, 1. Juni 2012
Wenn die Ferien vorbei sind, brauche ich erstmal Urlaub, vermutlich..

Zu viel Vatersfreundin, zu viel Schreikind, zu viel Lerndruck, so wenig getan und nichtmal genug Frieden, um in Ruhe ausschlafen zu können.
Wer nachts um drei im Hof sitzt und sich Grillenkonzerte anhört, sollte auch bis mittags ausschlafen dürfen, ganz eindeutig.
Sollte das Schreikind jemals anfangen, über Instinkthandlungen hinaus zu denken, werde ich ihm das auf jeden Fall sagen, vorausgesetzt, ich habe dann noch Kontakt zu dem Haufen.
Innerlich schreit jetzt schon alles laut "Nein!" und klingt dabei wie Fingernagelkratzen auf Schiefertafeln, wenn ich die laute Hexenstimme nahen höre.

Aber da ist die Gewissheit, dass ihre Angriffe ins Leere laufen.
Ihre verbissenen Versuche, zu zeigen, wie toll das Leben doch ist, wenn ich mich nur erstmal in mein Zimmer verzogen habe; das künstliche laute Lachen, die Pseudofröhlichkeit über Handlungen des Schreikinds, die ihr zwischendurch vom Gesicht rutscht wie eine schlechte Maske, wenn sie das Kind wegen einer Kleinigkeit so anschreit, dass es anfängt, zu weinen.
Ihre verkrampften Versuche der Ignoranz, bei denen ihre Wut, ihre Aggression, vielleich auch ihr Hass, fast sichtbar um sie herumwabern wie Rauchwolken, wenn ich sie neutral-freundlich begrüße, einfach neben ihr her existiere und keinerlei Anstalten mache,spontan in einen fürchterlichen Weinkrampf im Angesicht ihrer vermeintlichen Stärke, Allmacht und Weisheit zu verfallen.
Ich habe die Vatersfreundin besiegt, augenscheinlich.
Und selbst in ihrer naturgegebenen Beschränktheit (was nicht als Beleidigung oder Arroganz, sondern einfach als Diagnose aufzufassen ist) begreift sie es, wenn auch vielleicht nicht bewusst. Und es macht sie aggressiv, wie einen Hund, der immer weiter in die Enge getrieben wird.

Da ist immernoch mein zitterndes Nervenkostüm und das Kreischen aus dem Inneren, wenn sie vorbeikommt, aber ich habe mir angewöhnt, das nicht zu zeigen.
Die Fähigkeit zum stummen, wort- und tatenlosen Terror, die Oma Mayhem bis zur Perfektion beherrscht hat und wegen der meine Mutter mal zitternd auf dem Sofa lag und auch dann nicht aufstehen konnte, als der Arzt da war, habe ich nicht in diesem Umfang geerbt, die emotionale Kaltblütigkeit sucht man bei mir komplett vergeblich. Vielleicht beherrsche ich den stummen Psychoterror deswegen nicht perfekt.
Aber ich gehe davon aus, dass die Fähigkeit dazu vorhanden ist, vererbt wie die tiefliegenden Augen.
Und speziell für die Vatersfreundin werde ich versuchen, sie zu perfektionieren.
Vermutlich widerspricht das meiner Unsicherheit und der Emotionalität, aber im Hinblick auf meine Person hat ja sowieso jemand den Kontrast gewaltig nach oben geschraubt.
Ganz offensichtlich zählt auch freundliches Neutralbleiben zu einer Form der Belästigung, Beleidigung oder sogar schon zum stummen Psychoterror. Vielleicht ist das aber auch nur in unserem besonderen Fall so, und normale Menschen sind fähig dazu, freundlichem Neutralbleiben mit ebenfalls freundlichem Neutralbleiben zu begegnen.

Dear Vatersfreundin,
Ab jetzt streiche ich das "freundlich" vor meinem Neutralbleiben.
Letztgenanntes werde ich weiterhin beibehalten, egal, wie sehr ich dich verabscheue und verachte, denn nichts anderes empfinde ich mehr.
Aber ich werde dir zeigen, wie viel Verachtung und Abscheu man jemandem entgegenbringen kann.
Ohne irgendwas zu machen oder ein Wort zu sagen werde ich es dir zeigen, und du wirst es spüren, selbst du wirst es spüren.
Das garantiere ich dir.




Freitag, 25. Mai 2012
Das letzte Bild, das sich in mein Gehirn gräbt, als wir gehen, ist der zusammengesunkene Opa Mayhem, der in seinem Rollstuhl am Tisch sitzt und auf das ihm gebrachte und von ihm abgelehnte Abendessen starrt, dann schließen sich die Aufzugtüren, und Papa Mayhem und ich, wir stehen uns gegenüber, lehnen unsere Köpfe gegen die jeweiligen Aufzugwände hinter uns, schließen die Augen und würden am liebsten anfangen, zu weinen. Eigentlich sollte doch alles ganz anders sein...

Wir fahren fast sofort, nachdem ich von der Schule heimgekommen bin, los, denn wir haben die Aufgabe, meinem Großvater zu erklären,dass er bald entlassen wird, dann aber nicht nach Hause gehen darf, sondern in ein Pflegeheim muss, und an dem Aschenbecher, der auf meiner Fensterbank steht und aus dem noch etwas Rauch aufsteigt, erkenne ich,dass die Vatersfreundin zu Besuch ist.
Wenn sie mitgeht, bleibe ich daheim, will ich meinem Vater sagen, aber der scheint fest eingeplant zu haben,dass nur wir beide fahren.
Aber wir beide.
Mein Herz krampft sich zusammen beim Gedanken an das,was kommt, aber ich kann ihn nicht alleine lassen.
Nicht heute, nicht damit.
Also setze ich mich ins Auto und warte.
Eigentlich wollte er nur etwas holen, aber aus irgendeinem Grund fängt die Vatersfreundin an, ihn anzuschreien, ich höre ihre aufgebrachte, wütende Stimme, ihr Gezeter und seine Versuche, sie zu beruhigen.
Auf der Windschutzscheibe sieht man die Umrisse dessen, was aus Insekten wird, wenn sie auf der Autobahn dagegen klatschen.
Die Haustür knallt zu, Schlüssel klirren.
Die Vatersfreundin wühlt in ihrer Umhängetasche, fördert ihre Zigarettenschachtel zu Tage und zieht kurz darauf hektisch an einer weiteren Kippe, während sie Minispaten, Wasserflasche und Strickzeug einpackt.
Ich frage mich, ob sich mein Hautkrebsrisiko durch die Tatsache, dass selbst Kreidefelsen braun gegen mich wirken und sich das auch nach wochenlanger intensiver Sonnenbestrahlung nicht ändert, erhöht.
Die Vatersfreundin zündet sich die nächste Zigarette an.
Vielleicht ist ihr Krebsrisiko größer als meines.
Sehr große Veranlagung plus Kellerbräune vs. Kettenrauchen und Daueraggression.
Wenn wir jetzt sterben würden, würde sie unglücklicher als ich sterben, dabei geht es ihr doch eigentlich besser.

Sie haben ihn auf eine andere Station verlegt, wir müssen in den dritten Stock fahren, nicht mehr nur auf die Intensivstation gehen.
Im dritten Stock gibt es einen Sitzbereich, der den Patienten vorgaukeln soll, sie hätten die Freiheit, draußen zu sitzen; er ist mit Glas überdacht und mit Sonnenschirmen bestückt, und am Rand stehen in rotbraunem Kugelgranulat diese Pflanzen, von denen man nie weiß, ob sie künstlich sind oder echt.
Papa Mayhem und ich, wir sitzen an einem Tisch und warten.
Zwischendurch fahren Halbgeister in Rollstühlen und rollen Halbgeister an Rollatoren vorbei, manchmal zuckt selbst Papa Mayhem, der vom völlig entstellten Brandopfer bis zum Junkie, der nach einer Überdosis 2 Wochen in seiner Wohnung gelegen hatte, bereits alles esehen hat, zusammen.
Irgendwann wollen sie auch Opa Mayhem an uns vorbeischieben, aber wir winken, und nach einer halben Minute versteht er,dass wir es sind, die da sitzen. Die Krankenschwester schiebt ihn wieder an seinen Platz, wir stellen unsere Stühle dazu. Man begrüßt sich und schweigt.
Zwischendurch Gesprächsversuche, im Gegensatz zu den Krankenschwestern verstehe ich inzwischen beinahe komplett, was er sagt.
Und immer wieder sein Wunsch, aufstehen und rumlaufen zu können.
Geht nicht, so gern ich würde.. Wir können dich rumfahren, wenn du willst, sagt Papa Mayhem, die Antwort lautet Ja und so fahren wir Opa Mayhem ums Stockwerk, ins Erdgeschoss, am Ausgang vorbei.
Als uns die Sonne herzlos und grausam durch die Glastüre anstrahlt, seufzt Großvater Mayhem und sinkt noch tiefer in sich zusammen. Ob wir nicht mal raus könnten.
Nein, geht nicht, dein Piepser schlägt dann Alarm, Vater.
Na gut, na gut.. Fahr mich hoch, mir ist kalt.

Am Nebentisch sitzt die Frauenstation und vegetiert ebenfalls vor sich hin. Wir schweigen uns gerade in der sechsten Minute an, als eine von ihnen beginnt, russische Klagelieder zu singen.
Jedenfalls glaube ich,dass es Klagelieder sind, sie klingen jedenfalls sehr schön und sehr traurig, auch, wenn ich den Text nicht verstehe, weil mein russisch sehr schlecht und das Gesicht der singenden Frau halbseitig gelähmt ist. Sie sitzt auch im Rollstuhl, überhaupt sitzen auf dieser Station alle im Rollstuhl,manche dürfen nicht aufstehen und manche können nicht, aber mein Großvater ist der einzige, der von einem Bauchgurt an seinem Rollstuhl festgehalten wird. Sein Bett ist auch das Einzige, das eine Patientenfestschnürvorrichtung hat.
Na los, fahrt mich doch nochmal eine Runde...
Machen wir.
Wir drehen Runde um Runde ums Stockwerk, sehr langsam, vorbei an Schwestern, die entweder mitleidig oder krampfhaft fröhlich schauen, und einem Mann, dem ein Teil seines Schädels fehlt, als hätte man akkurat ein Viertel herausgeschnitten und dann sorgfältig die Kopfhaut wieder darüber drapiert; vorbei an der Frauenstation und der singenden Russin, denen, die nichtmal mehr alleine den Kopf bewegen können, und einem Mittdreißiger, der von seinen Eltern besucht wird und mit ihnen über seine Arbeit spricht. Als er zum ersten Mal hier war, hat Opa Mayhem uns im Eingangsbereich empfangen und davon erzählt, dass er in der Therapie Weidenkörbe flechten musste.
Bis zu seiner Entlassung immer Weidenkörbe flechten, das erste, was er getan hat, als er wieder zuhause war, war entflechten, zerlegen und sich darüber freuen, dass er für den Winter neues Brennmaterial hatte.

In den vier Stunden, die wir zu Besuch sind, drehen wir immer wieder unsere Runden, Angestellte, Pfleger, Schwestern und die Patienten, die noch was mitbekommen, sehen uns wahlweise irritiert oder missbilligend an/nach, aber als ich bei der dreizehnten Runde möglichst bösartig und ohne zu blinzeln meinen Blick ganz langsam an den am Rand Stehenden vorbeiwandern lasse, scheint auf einmal allen etwas furchtbar wichtiges, das noch unbedingt erledigt werden muss, einzufallen.

"Dann geh halt hin und frag sie, frag die Schwester!"
Egal, worum es ging, zwischenzeitlich gab er nur noch diesen Satz von sich. Egal, wie oft mein Vater versicherte, dass die Tabletten mit dem Abendessen kommen würden, so, wie immer; ob er versuchte, mit seinem Vater über das Pflegeheim zu reden, oder ob er ihn fragte, ob er gut schlafen könne hier in der Klinik.
Der Mann mit dem unvollständigen Schädel sitzt am selben Tisch wie wir, versucht, mir in den Ausschnitt zu starren und merkt schließlich an, Opa Mayhem wäre ja nur am rummäkeln und sich beschweren. Schlaflos wären hier doch alle, außer die, die ihre Schlaftabletten horten und dann mehrere auf einmal nehmen.
Das interessiert mich nicht, du Idiot, will ich schreien.
Mache ich aber nicht. Schweige weiter und beobachte meinen Großvater, der zwischendurch ein paar kraftlose und halbherzige Versuche unternimmt, seinem Rollstuhl zu entkommen, es aber nach einem "Vater, bitte..." von Papa Mayhem gleich wieder bleiben lässt.

Irgendwann bringen sie das Essen, und Großvater Mayhem ruft, er will nichts essen, garnichts will er, garnichts, alles sinnlos, alles ohne Sinn. Alles so traurig und so gemein und so ein Sauhaufen.
Vater, du musst was essen.
Nein!
Papa Mayhem schneidet Brotscheibenhälften, und dann Hälften von Hälften, jede Viertelscheibe bekommt ein Viertel Wurst, wird nochmal geteilt und Opa Mayhem hingeschoben. Der isst dann doch, jedem Bissen folgt ein "Ich will nichts, garnichts will ich..", aber er nimmt sich doch weiter Brotachtel , bis die halbe Scheibe gegessen ist. Dann weigert er sich endgültig und auch dann noch lautstark, als mein Vater eine weitere Wurtscheibe halbiert und selbst isst.
Wir müssen dann gehen, Vater.
Jaja, geht ruhig.
Nicht einmal den Blickt hebt er und sieht so verloren aus. Verloren und alt, steinalt, und der hoffnungsloseste Mensch, der mir bis dato begegnet ist.
Das alles sitzt da in dem Stuhl und starrt auf seinen Teller.
Mein Vater geht neben dem Rollstuhl in die Knie, legt seinen Kopf auf der Schulter seines Vaters ab und sagt ihm,dass er sich erinnern soll an früher, an das, was er immer zu Papa Mayhem und dessen Bruder gesagt hat. Wenn man es nicht ändern kann, dann muss man es akzeptieren, und dann aufstehen und dagegen ankämpfen. Erinner dich doch dran, Vater, erinner dich doch.. jetzt musst du das machen, früher hast du es immer uns gesagt, jetzt ist es andersrum.
Opa Mayhem starrt weiter mit nur halb offenen Augen auf seinen Teller. Ja, es tut weh. Wo kommt das auf einmal her..
Ich würde sie gerne umarmen, alle beide. Ihn, um ihm zu sagen, dass er sich nicht einfach so aufgeben soll, dass er das nicht machen soll und darf und kann.. dass er sich doch nicht einfach so auflösen kann.. und meinem Vater, um ihm zu sagen,dass er nicht alleine ist.
"Also Vater, wir gehen dann jetzt.." Er steht auf, legt ihm nochmal die Hand auf die Schulter, drückt sie vorsichtig und greift nach der Tüte mit Wäsche und der zweiten mit Gebäck, das jemand Opa Mayhem geschenkt hat, der es nicht essen will und dem wir versprechen mussten, es mitzunehmen.
"Tschüss Opa. Wir kommen auf jeden Fall am Sonntag wieder, ich auch."
"Ja, ja..."
Jeder weitere Schritt weg von meinem kleinen, zusammengesunkenen, unendlich alten und nur noch vor sich hin vegetierenden Großvater ein weiterer Nadelstich.
Die Nadeln werden viel zu schnell zu Küchenmessern.
Der letzte zum Hackbeil.
Dann stehe ich im Aufzug, Papa Mayhem gegenüber, drehe mich nochmal um und sehe meinen sich auflösenden Großvater nochmal, bevor die Türen sich schließen.