Montag, 3. Februar 2020
Thema: gefunden.

Ich trage dich wie eine Wunde
auf meiner Stirn, die sich nicht schließt.
Sie schmerzt nicht immer. Und es fließt
das Herz sich nicht draus tot.
Nur manchmal plötzlich bin ich blind und spüre
Blut im Munde.

(Gottfried Benn, Mutter)




Sonntag, 26. Januar 2020
Meine gelegentlichen Anfälle spontaner Genialität haben derart auf die Konstruktivitäts-Tube gedrückt, dass es einem anderen Menschen das Hirn und sie daraufhin ihr Leben umgekrempelt hat. So bin ich zu meiner Freundschaft(?) mit Dory gekommen, und Dory sagt, wir gehen feiern.

Weil sie ist, wie sie ist, sagt sie das nicht mit der Woche Vorlauf, die ich für Unternehmungen dieser Art und zur finanziellen Planung mindestens brauche, sondern eine halbe Stunde, bevor sie vor meiner Tür steht.
"Ich hasse es, wenn Leute unangemeldet aufkreuzen, du hast Glück, dass ich überhaupt an die Klingel bin. Was machst du überhaupt hier?"
- "Dich zwingen, aus deiner Höhle raus zu kommen, mit mir tanzen zu gehen und nen schönen Abend zu haben. Optimalerweise sammelst du dabei mindestens drei Nummern ein und machst mit mindestens zwei Personen rum, die doppelt so heiß wie dein Kaffee-Mann sind. Klingt doch nach nem super Plan!" So viel gute Laune, so viel Optimismus, so viel brutale Gnadenlosigkeit dabei.
"Ich hab meine Haare seit über einer Woche nicht mehr gewaschen, die einzige Hose, die mir passt, kann alleine zur Waschmaschine laufen, und wenn Romero vorbei käme, würde er mich als Extra für nen weiteren "Night of the Living Dead"-Teil casten - ohne, dass ich dafür in die Maske müsste."
- "Aaaach, du übertreibst. Jetzt lass mich schon raaa-heeeein, ich hab uns ein Weinchen mitgebracht!"

Eine Stunde später sitze auf meinem Bett, warte darauf, dass meine Haare trocknen und höre Dory zu, die von ihren Dating-App-Erfahrungen erzählt, während ich mich frage, wie ich es in der Zeit zwischen Mr.Gaunt und Ex-Mr.Mayhem fertig gebracht habe, mich bei psychisch ähnlich mieser Ausgangslage wie jetzt mindestens einmal die Woche bis sechs Uhr morgens kaputt zu feiern und mir genug Personen anzulachen, um ein wenig Abwechslung dabei zu haben, wer mir gerade Kummer verursacht, wem ich das Ego aufpolstere und wer sich um meines kümmert.
Als gute Wissenschaftlerin teste ich meine Thesen ("Das war, als ich noch jünger, unantastbar und gottgleich war, ohne es zu merken; inzwischen habe ich Erkenntnisse und ein paar Coping Skills, dafür aber auch Normalsterblichkeit gewonnen"), bevor ich sie zur Tatsache erkläre.
Und beschwöre auf dem Schrein des Mädelsabends unter Zuhilfenahme der heiligen Relikte Schlampenkleid, Ich-verwende-das-nur-zu-ganz-besonderen-Anlässen-weil-es-seit-Jahren-nicht-mehr-hergestellt-wird-Parfum und der "Als ich noch jung, schön und verzweifelt war"-Playlist meine brach liegenden Makeup-Skills ebenso wie mein 20jähriges Ich.
Wir geben uns die Hand und bringen uns auf den aktuellen Stand der Dinge, sie vertreibt den Schmerz um unwiderruflich verschenkte Chancen und Potenziale aus meinem Kopf und ich den ganzen Scheiß, den sie glaubt, aus ihrem.
Irgendwo dazwischen finde ich das, was ich bin, und entkomme meiner Mutter.

Im Gruftkeller kenne ich fast keine Besucher mehr, dafür aber die Thekenzwergin, trinke beinahe gratis, ohne mich zu betrinken, stelle fest, dass ich auf magische Weise auch meine Billardfähigkeiten reaktiviert habe und lerne zwischen den Spielen, der Tanzfläche und den Dampf-Pausen einen Wikinger kennen.
Er gibt mir ein paar Bier aus und wir spielen ein paar Runden Billard, meistens mit oder gegen unsere jeweiligen Begleitungen.
Er ist einen Kopf größer und etwa vier Farbstufen blonder als ich, hat einen einigermaßen gepflegten Bart auf Optimallänge und würde ich mit ihm schlafen, müsste ich weder Angst haben, ihm alle Knochen zu brechen, noch, dass sein Bauch ein eigenes Gravitationsfeld entwickelt und ich nen Drehwurm kriege.
Außerdem wechselt er hochfrequent zwischen Zuneigungsbekundungen und pöbelndem Machogehabe, und weil ich zwar mayhem 2.0 berufen habe, dank der durchgeführten Upgrades aber mindestens bei Version 2.7 bin, spiegle ich zwar und es entsteht diese seltsame Anziehungskraft, ich realisiere aber auch, dass psychische Verdrehtheit und die Fähigkeit zu Machtdynamik-Spielchen nicht zu den Gebieten gehört, auf denen Kompatibilität oder gleich sein (können) für eine Sache sprechen.
Mein zwanzigjähriges Ich überlässt mir, wenn auch murrend, das Ruder, ich bringe sie auf den aktuellen Stand der Dinge, wir vertreiben den Scheiß aus unserem Kopf und als der Billard-Wikinger auch nach einem Hinweis auf sein irritierendes Verhalten bleibt, wie er ist, schauen wir uns auf der mentalen Kommandobrücke kurz an, zucken mit den Schultern und beschließen, dass wir das weder vertiefen, noch in Verzweiflung abdriften werden, sondern es einfach in die "ok, dann ist das halt so" Kiste sortieren und unser Ding machen, wir sind hier schließlich zum feiern und nicht zum Generieren neuer Weltuntergänge.

Als Dory heim möchte, fragt der Billard-Wikinger, ob wir vorher tanzen gehen, fünfzehn Minuten sind schließlich noch bis Ladenschluss.
Mein zwanzigjähriges Ich, das es nebenbei erwähnt für eine gute Idee hielte, ihn mal nach seiner Handynummer zu fragen, will Ja sagen, aber weil ich nicht mehr zwanzig und addicted to bullshit bin, lehne ich beides ab.

Weil ich außerdem immer noch ich bin, jammere ich beim Heimlaufen darüber, dass ich mich schlecht fühle, weil ich ihn geabfuhrt habe, mir die Schuld an seinem wechselhaft-ruppigen Verhalten gebe, ich hätte ja schließlich auch etwas zugänglicher sein können und weniger Kaktus-im-Pinhead-Bodysuit und dann wäre der bestimmt auch ganz anders gewesen.
Dory klärt mich darüber auf, dass sie sich von ihm angegraben gefühlt und er ihr erzählt hat, dass die letzten drei Exfreundinnen ihn betrogen haben und er gerade mit Nummer vier zusammen ist - weil die gut aussieht. Und dass er mit Nummer drei ein Kind hat.
Mein zwanzigjähriges Ich sieht das Schema "Mann, der eine ganze Batterie an Warnzeichen ist" erfüllt, ist etwas enttäuscht, möchte aber betonen, so für den Fall, dass er demnächst mal weniger vergeben ist, wir haben schließlich Prinzipien, dass der ja gar nicht für was festes taugen muss, wenn er eh nur 'ne menschliche Heizdecke sein soll. Ich erlaube ihr und ihren Gefühlen, den Raum einzunehmen, den sie gerade brauchen und verspreche ihr, ihre These nicht auf dem Stapel derer, die auf Aktualität und Relevanz geprüft werden sollten, zu vergessen.

Dann verräume ich Dory auf meinem Sofa und bringe auf dem Schrein des Mädelsabends ein Dankbarkeitsopfer an die Götter des Erkenntnisgewinns, der Psychotherapie und der gelegentlichen Anfälle spontaner Genialität, die es mir ermöglicht haben, mich auch dann kritisch zu hinterfragen, wenn das Ergebnis hässlich sein könnte.
Ich ziehe mein 20jähriges Ich wieder aus, schminke sie mir runter, wir geben uns die Hand und danken uns für die Begegnung, bevor jeder wieder in seine Realitätsebene zurückkehrt.
Dazwischen finde ich Teile von dem, was ich sein kann, und entkomme meiner Mutter.
Gute Erfolgsquote für einen Abend.




Sonntag, 19. Januar 2020
Der Kaffee-Mann hat wieder Schweigephase; nach einer Woche frage ich mal nach, ob alles in Ordnung ist.
Die mich eigentlich bewegende Frage "Sind wir noch am kennenlernen, oder schon bei "ok, das war jetzt genug kennen lernen,zwischendurch mal n Bier ist ok, mehr aber bitte nicht" ?" habe ich mir zunächst verkniffen, weil eine zur Begutachtung hinzugezogene Freundin meinte, nee, du kannst dem doch nicht so das Messer auf die Brust setzen, was ist, wenn der echt nur kommunikationsbehindert ist, und ich ihr nach ein wenig Bedenkzeit zustimmen musste - was, wenn der wirklich nur verpeilt oder sein Hamster gestorben ist?

Die Antwort kommt so ein, zwei Stunden später, bedankt sich für die Nachfrage, erzählt von Stress auf der Arbeit und beantwortet dann, was ich davor geschickt hatte.
Ich überlege, wie ich das, was mich beschäftigt (Die "lernen wir uns gerade noch kennen oder reicht's dir?`"-Frage und die Tatsache, dass ich es nett fände, wenn ich ein "bin im Stress, antworte dir am Wochenende" bekommen könnte - wer weiß, ob und wann ne Antwort gekommen wäre, wenn ich nicht wieder nachgefragt hätte) am konstruktivsten ausdrücken kann.
Die hinzugezogene Bekannte/Freundin befindet, meine Unsicherheit/Bauchgefühl/Vorahnung/Paranoia/Wasauchimmer hat recht, ich bin sowas von auf der Freundschaftsschiene abgestellt worden, sähe man daran, dass der Kontakt zu mir keinerlei Priorität habe (neige dazu, zuzustimmen) und die ganze Nachricht total oberflächlich sei; dass er am Schluss fragt, wo die von mir in der letzten Nachricht angesprochenen Uni-Mindfuck-Probleme lagen, sei halt aus Höflichkeit und Konvention, weil man das eben so macht.

Das Gefühl der Oberflächenverortung unserer Kommunikation hat bei mir ein paar mal angeklopft, tut sich jetzt mit dem Rest zusammen und möchte in meinem Kopf randalieren.
Klar ist es noch meilenweit zu früh, um abzuschätzen, ob das der Stiefvater meiner Katzen werden soll- ein lose gestalteter Kumpelkontakt mag ich aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch noch nicht sein. Um das beurteilen zu können, müsste ich den Menschen kennen, und er mich. Beides ist nicht der Fall. Ich habe mein Bild und er vermutlich seines, aber es ist lückenhaft und basierend auf Annahmen, eventuell Projektionen und Wünschen, und dem ganzen anderen Kram, der zwar immer mit rein spielt, aber eben nicht das ausschließliche Mitspracherecht haben sollte.

Weitere Handlungsoptionen erscheinen also wie folgt:
1.Die Annahme, als loser Kumpelkontakt kategorisiert worden zu sein, akzeptieren, auf dieser Verhaltens- und Kommunikationsebene verweilen und sich damit abfinden

2.Eindrücke ansprechen: Wie, und wie viel davon? Und was dann?

3.Nach einem weiteren Treffen fragen
a) und die Eindrücke ansprechen, wie und wie viel auch immer, oder/und
b) versuchen, von der Oberflächenebene weg zu kommen und den Menschen dahinter auszubuddeln (wie und wie viel auch immer), oder
c) einfach mal der heiße Ofen sein, der ich halt manchmal bin, ggf vorher flirten lernen (es ist nie zu spät, sich neue Fähigkeiten anzueignen),für den Fall, dass "ich unterhalte mich gerne mit dir" und eine Abschiedsumarmung eventuell, so ganz vielleicht eine zu dezente Bekundung meines Interesses war


tendiere aktuell zu Option 3., und weil ich auf verkappte Art und Weise Overachiever bin, eine Kombination aus allen drei Unterpunkten: Scheiß auf Hin- und Hergeschreibe, Butter bei die Fische und überhaupt: zusammenreißen, der heiße Ofen sein, der ich manchmal bin, Abschied von der Oberflächenebene, gewonnene Eindrücke ansprechen; falls mir danach ist, die Unsicherheit mal wegpacken und den armen Mann gemäßigt, aber dennoch nachhaltig angraben.
Keine Lust, meine Zeit mit kommunikationsbehinderten trüben Pfützen zu verschwenden; die sind fast so nervig wie die "Ich könnte zwar alterstechnisch den Vater sein, aber OMG du bist so toll, so erwachsen, blablabla"-Fraktion, die einem an der Bar auflauert.

Sonstige Großartigkeiten:
- Habe meine Motivation wieder gefunden. Uni ist immer noch "AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAH!", aber ich hab Bock, den Scheiß hinzukriegen und kann mir sogar vorstellen, wie sich das anfühlt, wenn es geklappt hat.
Vermute, einen Uni-Abschluss geschafft zu haben wird sich ziemlich cool anfühlen, erst recht, wenn ich zum Master zugelassen werde und den dann auch noch wuppe wie die geniale Wahnsinnige, die ich manchmal bin

- Seit Bröselzahn draußen ist, habe ich ca. 30% weniger Kopfschmerzen

- Kater Mayhem hat mit über 13 Jahren das strategische um- und runterschubsen von Gegenständen für sich entdeckt und macht das jetzt immer, wenn er Aufmerksamkeit möchte - nur Aufmerksamkeit. Kein Futter, kein Kuscheln, kein Spielen, Wasser und Katzentoilette sind noch ok und wehe, man will ihn berühren. Einfach nur Aufmerksamkeit, bittedanke

- ich habe inzwischen eine grauweiße Strähne, die ebenfalls ziemlich cool ist, sich aber leider nur zeigt, wenn ich die Haare offen trage

- und zwischendurch mit der Hausverwaltung telefoniert und Sachen geregelt, wie man das als Hauptmieter so macht. Ich bin erwachsen, yesss!




Montag, 6. Januar 2020
Ein handgeschriebener Zettel am Eingang informiert darüber, dass die Stammkneipe heute aufgrund unvorhergesehener Umstände geschlossen bleibt.
"Hm, passiert das öfter?" Kaffe-Mann ist ähnlich überrascht wie ich.
-"Nee, eigentlich nicht, die haben immer offen, außer an Weihnachten. Der Wirt sagt, einmal im Jahr will er sich einfach auch mal gemütlich vor dem Kamin mit seiner Frau betrinken."

Auch Stammkneipe 2 informiert uns per Zettel (gedruckt) darüber, dass wir heute relativ sicher kein Bier bekommen:
"Bauarbeiten bis xx.yy.2020. Bitte besuchen Sie stattdessen Kneipe 3, die haben auch guten Whisky."
Der Kaffee-Mann ist erstaunt, dass ein Kneipenbesitzer einfach so auf seine direkte, das gleiche Format bedienende Konkurrenz verweist und fragt, ob ich Kneipe 3 kenne.
Ich erkläre ihm das beinahe familiäre Zusammenhaltsprinzip der etwas weniger frequentierten, etwas weniger PartyStudentenEskalations-geprägten Kneipen und stelle erneut fest, dass ich echt gerne hier wohne.
Dann brechen wir auf gen Kneipe 3.

Kneipe 3 informiert uns (per Tafelanschrieb) darüber, dass es heute Live-Musik gibt, und ein Blick durchs Fenster offenbart, dass das ziemlich viele Leute ziemlich cool finden.
Ein Blick ins Gesicht des Kaffee-Manns hingegen offenbart, dass er lieber eine Wurzelbehandlung ohne Betäubung durchführen lassen als dort hineingehen würde.
Die Aussicht, in einer bis unters Dach vollgestopften Kellerkneipe einem verstrahlten Möchtgernhippie bei der akustischen Vergewaltigung seiner Gitarre zuhören zu müssen, erfüllt mich mit ähnlicher Freude wie das handschuhlose Schrubben eines gammeligen Kühlschranks.
"Nee?"
"Nee."
Was ich sonst noch so kennen würde?
"Da will ziemlich wahrscheinlich keiner von uns hin."
Also starte ich meine erste ziellose Kneipentour.
Im zwölften Semester, ohne Wegbier, mit fünfzehn Euro in der Tasche und dem wahrscheinlich ältesten Endzwanziger, den ich kenne. Und er schlägt sich echt gut.
Kein "Aber wir können ja mal reinschauen", wenn ich nach einem Blick durchs Fenster abwinke, weil der reicht, um sich einen Überblick zu verschaffen.
Zu modern, zu hipsterseuchig, zu überflutet von den Tränen hunderter pseudointellektueller verkannter "Künstler", nur mit anschließender Ganzkörperdesinfektion betretbar, zu neon, bezieht die Getränke nur von einer Brauerei und die produziert kein Bier, sondern in Flaschen abgefüllte Verbrechen gegen die Menschenrechte - wir haben erstaunlich präzise und erstaunlich kongruente Vorstellungen davon, was eine Scheißkneipe zur Scheißkneipe macht. Wenn wir doch wo reinschauen und auf einen Shot eingeladen werden, weil manche Schwankwirte es schlicht zur Unmöglichkeit erklärt haben, dass jemand genauso nüchtern geht, wie er reingekommen ist, oder wenn jemand mit uns plaudern will, übernehme ich das.
Wenn ich mich nicht traue, voraus zu laufen, weil man dafür an Menschen vorbei muss, übernimmt der Kaffee-Mann.
In der letztlich ausgewählten Kneipe überlastet mich die fremde Umgebung und Reizüberflutung, ich bin entscheidungs- und handlungsgelähmt und kann gerade irgendwie gar nichts. Also sucht er uns einen Tisch, fragt, ob der ok ist, ich bekomme den Sitzplatz an der Wand, mit Blick in den Raum und zur Tür: "Du hattest mal geschrieben, ungewohnte Orte mit vielen fremden Menschen würden dich gelegentlich etwas nervös machen, deshalb dachte ich, es könnte vielleicht hilfreich sein, wenn dir niemand im Rücken sitzt und du von deinem Platz aus einen Überblick gewinnen kannst."

Wir reden über meinen Unikram und seine aktuellen Projekte, die unendliche Schnarchigkeit Fontanes, unser jeweiliges Silvester, die Redeanteile sind asymmetrisch aber ich finde es diesmal weniger schlimm, weil ich bei den meisten Themen einfach mehr zu erzählen habe.
Wenn ich das Gefühl habe, zu sehr in den Vortragsmodus zu rutschen, ertappe ich mich fast immer rechtzeitig genug, um kurz zu unterbrechen - atmen, einen Schluck trinken, Nase putzen, irgendwas, Hauptsache kurz "Stop".
Einmal übernimmt der Autopilot, ich bemerke es aber rechtzeitig genug, um "Abort Mission!" von der Hirnschaltkreiskommandobrücke zu rufen und als Akutmaßnahme zur Reizflutsenkung und Rückzugsortschaffung zur Toilette zu gehen.
Die Therapeutin sagt, wenn man ganz genau darauf achtet, kann man in meinem Gesicht subtile Hinweise sehen, wenn ich dissoziiere (ihre aktuelle These ist, dass das das ist, was ich "Autopilot" nenne; wenn mein Bewusstsein sich schlafen legt und ich stattdessen einfach auf irgendeine Art "funktioniere", die aber nicht immer ich bin), also schaue ich mein Gesicht an, was das so erzählt.
Die Verbindung Bild im Spiegel - Ich klappt irgendwie mal wieder nicht richtig, also tippe ich mir auf die Nasenspitze und das Bild im Spiegel macht das gleiche. Ok, das ist also mein Gesicht, das ist meine Nasenspitze, und so sieht es aus, wenn ich sie antippe.
Als Experiment beschließe ich, dem Autopilot, bzw. seinem Abschalten keine weitere Beachtung zu schenken und stattdessen zu überlegen, welchen weiteren Verlauf des Abends ich nett fände.
Der Kaffee-Mann hat schon vor einer guten halben Stunde gesagt, dass er müde wird und demnächst gehen möchte, ich fände es nett, wenn er mir noch ein bisschen was von sich erzählen würde. Ich wüsste gerne, ob ich es mit einem stillen Gewässer oder einer trüben Pfütze zu tun habe, gefühlt selektiert er mindestens so stark wie ich, welche Teile seiner potenziellen Verletzlichkeit er wem preis gibt.

Also mache ich einen Tausch.
Wir reden über Weihnachten, er fragt, ob ich denn nun doch daheim war und ich erkläre, dass "daheim" für mich die Unistadt ist.
Und dann, dass das zu einem nicht geringen Teil an der Vatersfreundin liegt.
Ich erzähle ihm von damals, als ich, aufs Abitur zusteuernd, zuhause ausgezogen bin, weil ich sie nicht mehr ertragen habe; dass die Verbindung zu meinem Vater inzwischen distanziert-friedlich ist, zweiteres aber lange nicht der Fall war; dass sich das manchmal komisch anfühlt und ein weitere Grund ist, der ausschlaggebende aber, dass ich diese Frau, und nein, es liegt nicht daran, dass mein Vater eine Freundin hat, die nicht meine Mutter ist, als einen wandelnden Angriff auf meine psychische Gesundheit empfinde.
"Das klingt für mich nachvollziehbar und ich finde nicht, dass man sich für die Entscheidung, keine Zeit mit solchen Menschen verbringen zu wollen, rechtfertigen muss."
Bam, und weg ist jeder Rest Autopilot.
Ich brauche ein paar Anläufe, um auszudrücken, dass ich gerade überrumpelt bin, weil das jemand einfach so hinnimmt , als absolute Selbstverständlichkeit. Er bestätigt nochmals, dass das für ihn einfach nur logisch ist, es braucht aber ein paar Wiederholungen, bis es richtig in meinem Hirn ankommt.
Ich traue mich, auch das zu sagen, und dass es mir schwer fällt, manche Dinge,gerade im Bezug auf meine Familie, zu erzählen, weil es einerseits nur ein Teil von mir ist, aber eben doch ein Teil von mir, und weil ich nicht möchte, dass mein Gegenüber sich unwohl fühlt; überlastet, dazu genötigt, Verständnis oder Mitleid oder überhaupt irgendwas zu sagen.
Er verzichtet auf den Hinweis, dass ich das bereits erwähnt habe, und versichert mir stattdessen einfach nochmal, dass es für ihn nicht unangehm ist. "Ich würde, soweit ich es jetzt beurteilen kann, sagen, dass du eine etwas unkonventionelle Familiensituation hast. Das ist aber nichts, wofür man sich rechtfertigen muss, finde ich. Den Lebenspartner meiner Mutter empfinde ich auch nicht deswegen als schwierig, weil er nach dem Tod meines Vaters den Platz an ihrer Seite eingenommen hat, sondern weil er einfach eine sehr laute und rechthaberische Person ist."
- " Das kann man so sagen, mit dem "unkonventionell", glaube ich. Es fällt mir oft schwer, da zu entscheiden, wem ich was, oder wie viel, erzähle, weil das, was für mich die obersten zehn Prozent sind, manchen schon zu viel ist. Deshalb habe ich bisher so einen großen Bogen um jegliche Erwähnung meiner Mutter gemacht - die ist 2007 gestorben, also vor bald 13 Jahren. Ich weiß, dass Eltern früher oder später sterben und das so ziemlich jedem passiert, der welche hat, aber das, was dann folgt, was es beim Gegenüber auslöst, das beschäftigt mich: Wie?/Warum so früh?/Das ist ja voll schlimm, du Arme, die Überlegung, was ich antworte, wie viel ich antworte, und den Rattenschwanz, den das dann wieder produziert, wenn ich erzähle, was passiert ist. "
Auf Risiko gesetzt und dem Kaffeemann einen Blick in mein Gehirn spendiert. Einen vorsichtigen. Der Terror der Vatersfreundin, meine tote Mutter, früher am Abend gezeigt, dass ich ein bisschen was über die ein oder andere psychische Erkrankung weiß, ein bisschen was über Therapie, ein bisschen was über manche Psychopharmaka.
Genug, um anzudeuten, ohne zu konkret zu werden.

Etwas später macht der Kaffee-Mann ebenfalls einen Mäuseschritt, es geht um's seltsam-Sein.Vermutet, es sei seltsam, dass er keine nennenswerten sozialen Kontakte hier habe, also, außer mich jetzt (Hey, er stuft mich als einen nennenswerten sozialen Kontakt ein). Nach dem Studium waren auf einmal alle weg, er ja auch, hierher, der Rest woanders hin, und irgendwie habe sich da nie was neues ergeben. Er sei aber auch nicht so gut im Kennenlernen von Menschen, andere würden das vermutlich beim Feiern gehen machen, über Vereine oder Hobbies, wie ich mit dem Theater, aber er käme sich auch seltsam dabei vor, wenn er das jetzt machen würde, nur, um Anschluss zu finden. Zwischendurch sei das auch in Ordnung gewesen, aktuell aber irgendwie wieder ein bisschen unangenehm.Hoffentlich hält er nicht nur deswegen Kontakt zu mir.

Später begleitet er mich noch ein Stück heimwärts, obwohl er eigentlich in die andere Richtung müsste.
Dann und wann schwankt Feiervolk vorbei, die meisten sind inzwischen aber entweder in der gewählten Location oder ihrem/irgendeinem Bett verräumt. Laufen so durch das gefühlt dauerhaft miese Wetter dieser, nein, meiner großen Stadt, die gerade einen ihrer menschenleeren Schweigemomente hat; das Kontrastprogramm, für die ich sie so liebe. Zwischendurch bleiben wir stehen, weil ich einen Waschbären gesehen habe, oder einen Vogel, oder irgendwas anderes, was plötzlich nach meiner Aufmerksamkeit verlangt und begutachtet werden muss, weil ich manchmal so ein bisschen Katze bin. Er beschwert sich nicht, nimmt es einfach hin und wartet, bis ich zufrieden bin und wir weiter gehen können. Ich weiß gar nicht mehr, worüber wir uns unterhalten haben, aber ich glaube, es war ok.
Überhaupt - so vieles war irgendwie auf einmal ok, kein Autopilot, keine Gedankenspiralen, einfach mit dem Kaffee-Mann durch meine Stadt laufen, es fühlt sich so in Ordnung und selbstverständlich an, ich könnte mich dran gewöhnen.

An meiner Haltestelle verabschieden wir uns, wieder Umarmung, wieder vorsichtig, aber weniger Sicherheitsabstand. Mäuseschritte. Ich strecke die Arme ein bisschen aus mache einen Schritt vor, er auch, und so kommt eben die Abschiedsumarmung zustande.
Er ruft mir ein "Bis bald" nach, zumindest für seine Verhältnisse ist es ein rufen, ich drehe mich nochmal um und sage auch "Bis bald", weiß aber nicht, ob er das noch gehört hat.