Donnerstag, 19. März 2020
Meine große Stadt spielt Dystopie.
Übergangswetter, Übergangsgefühle. Traditionell der Zeitpunkt, an dem ich vom Existieren ins Leben wechsle. Danach Sommerkrise, bevor sich das Phänomen wiederholen wird, um anschließend Winterpause zu machen.
Ich krieche raus aus mir und sogar raus aus dem Haus.
Zärtlicher Sonnenschein, milde Temperaturen, selbst der Wind ist freundlich und flaniert sachte durch die menschenleeren Gassen.
In den dunklen Schaufenstern hängen Hinweise auf Onlineshops, in den erleuchten Appelle, das Personal weder verbal noch physisch anzugreifen.
In öffentlichen Verkehrsmitteln gibt es plötzlich Sitzplätze und selbst die gruseligen Mitfahrer halten Abstand, sodass es gar nicht so schlimm ist, dass ich meine Kopfhörer vergessen habe.
Ein paar Sitzreihen vor mir erzählt ein circa fünfzehnjähriges Mädchen, dass es nichts essen kann, weil sich das nicht mit ihrem Rausch verträgt.
Ihre Sitznachbarin stimmt zu; sie habe an Fasching eine Woche lang durchgehend "Teile geschmissen" und danach mehr gewogen, obwohl sie "voll wenig gegessen und eigentlich nur gesoffen" habe.
Der Gegenübersitzer äußert Zweifel, es entwickelt sich eine Diskussion, in deren Verlauf Mädchen1 poltert, was die Scheiße soll, es müsse nicht jeder wissen, dass sie sich "Teile schmeißt". Die Faschingsfeiermaus poltert mit: da sei ja eigentlich nix dabei, aber irgendwie würde einen jeder sofort voll assi finden, wenn man sich was schmeißt und wenn jeder sage, oh, das ist voll schlimm, würde sich das negativ aufs Rauschempfinden auswirken.
Man dreht sich kurz um und scannt die anderen Fahrgäste; mit geschultem Auge wird festgehalten: Eh alles Spießer.



Im Frontenkrieg um die Bunkerausstattung finde ich mich auf der Seite wieder, die sich moralisch besser anfühlt, aufgrund der anderen Seite aber vermutlich bald vor ein paar versorgungstechnischen Problemen steht.
Der PTBS-Rentner braucht ein paar Dinge, und die "Wir helfen Ihnen gegen einen Obulus gerne beim Einkaufen, Kinder betreuen, oder was Sie sonst noch brauchen - deshalb werfen wir Zettel mit diesem uneigennützigen Angebot in fast jeden Briefkasten, an den wir kommen"-Studenten sind in der Verteilung ihrer Gunst immer noch selektiv genug, um ihn zu meiden.
Als sie gerade eine Runde durchs Haus drehen und bei seinen Stockwerksnachbarn klingeln, vielleicht fällt denen ja spontan noch was ein, kommt er anscheinend auch raus; ich höre ihn fragen, ob sie ihm etwas mitbringen können. Die Studententruppe verneint, sie würden nicht da hin gehen, wo es seine Sachen gibt.
"Aber ich brauche doch nur ein paar Dosen Katzenfutter und eine Packung Klopapier."
Studententruppe dreht sich um und läuft die Treppe runter.
Alter Mann schreit Untermenschen, verdammte, bösartige.
Ich stelle meinen Müllsack in die Ecke und laufe die Treppe hoch.
Auf halber Strecke Begegnung mit der Studententruppe.
Alter, der Pisser hat doch ein Rad hab, sagt eine bejutebeutelte Bloggerduttträgerin im Carpe Diem-Shirt.
Wahrscheinlich, aber er hat halt auch Recht, ihr scheinheiligen Arschlöcher, sage ich im Vorbeigehen, mit der Wortwahl des PTBS-Opas durchaus unzufrieden, der vermuteten Grundaussage allerdings zustimmend.
Keine Verurteilung für bezahlte Dienstleistungen, aber: Ehrlichkeit bitte. Das "Einer für alle"-Altruismusphrasenschwein macht sich nicht gut als vorgeschobene Tarnung.

Alter Mann hat die Wohnungstür geschlossen und reagiert nicht auf klingeln.
Ich, ganz pragmatisch, schreie seine Tür an, dass ich einkaufen gehe und ihm was mitbringen kann.

Der PTBS-Opa sagt mir, dass er nicht daheim bleibt, weil sein Arzt es ihm befohlen, sondern, weil seine Enkelin ihn darum gebeten hat. Die wohne ganz wo anders, sei gerade außerdem in Indien und weiß vielleicht nicht so recht, was sie machen soll, wohl aber, was er machen soll: das Haus möglichst nicht verlassen und immer gründlich Hände waschen, weil sie sonst traurig ist.
Was der Arzt sagt, sehe er ja schon skeptisch, eigentlich sei das ja auch alles übertrieben, aber traurige Enkelin, nee, das kann er nicht, also bleibt er daheim.
Ich frage ihn, was er so braucht, ob er eine Einkaufsliste hat oder eine schreiben möchte; er fragt mich, ob das Angebot ernst gemeint ist oder ob ich kriminelle Absichten habe.
Ich biete ihm an, die Einkäufe auszulegen und die Rechnung mitzubringen, zeige ihm, dass ich keine Waffe im Rucksack habe und mein Rock keine Taschen hat.
Man kann ja nie wissen, meint er, sagt aber danke und holt einen Einkaufszettel.

Nach mehr als einer Stunde und vier verschiedenen Geschäften habe ich immer noch kein Toilettenpapier.
Radiostimmen schwärmen von Wochenangeboten, einwegbehandschuhte Angestelle huschen zwischen leergefegten Regalen durch ausgestorbene Supermärkte und korrigieren die Stückzahlen auf den "nur haushaltsübliche Mengen"-Zetteln nach unten.
Eine Einkäuferin blockiert mich, als ich zwei Packungen Nudeln in meinen Korb legen will, eine für den alten Mann, eine für mich. "Denken Sie vielleicht mal daran, dass es auch noch andere Leute gibt? Ich habe Kinder, ja!"
Aus dem Loch,dass mir meine Aggression in den Brustkorb gebrannt hat, steigt irgendwas anderes, groß und ruhig und majestätisch. Ein gestaltlos wabernder Schatten, schwärzer als schwarz, so leise, dass es im ganzen Kopf totenstill wird.
Der Baumgeist fällt mir ein, der hohle Klang seines Lachens, als ich gesagt habe, dass nicht jeder Mensch in jedem Moment gut ist, wohl aber das Potenzial hat, es zu sein.
Ich lasse eine Packung Nudeln in den Einkaufswagen der Frau plumpsen, neben die anderen acht, vier Flaschen Öl und sechs Sechserkartons Milch und starre ihr in die Augen, auf der Suche nach einer Seele.
Der Baumgeist hat gesagt, es ist einfacher, wenn es keine gibt.

Aufgrund des gebotenen Sicherheitsabstands bildet sich eine kleine Pseudoschlange an der Kasse.
Die Nudelfrau steht vor mir und telefoniert mit irgendwem.
Ihr Gesprächspartner scheint Probleme mit der Kinderbetreuung zu haben, jedenfalls hält sie fest, dass sie froh ist, keine zu haben.
Der Kassenazubi hält sie und sie die ganze Schlange auf.
"Geht nicht, zu viel. Ein Karton Milch, heute Nudeln nur einmal, Bitte."
Nudelfrau schreit den Laden zusammen, was ihm einfalle, wer wisse schon, wann es wieder was gebe, kaufen ja schließlich alle ein wie blöd, sie habe Kinder zuhause und Angehörige zu pflegen.
Der Kassenazubi, irgendwo zwischen Überforderung und Resignation, bittet sie, kurz an der Seite zu warten, damit sie das mit der Chefin klären können.
Nudelfrau regt sich auf, sie habe auch noch anderes zu tun, aber diese Chefin, die könne ruhig her kommen, der würde sie was erzählen, wie die sich das eigentlich vorstelle, so eine Frechheit, wir seien hier doch nicht in der DDR, wo einem der Staat vorschreibt, wie man einzukaufen habe.
Ich bezahle meine Einkäufe (inkl. einer Packung Nudeln für den alten Mann, einer Packung Sojamilch, einer Packung Hafermilch, keiner Packung Toilettenpapier) und wünsche der Nudelfrau beim rausgehen alles Gute für ihre Angehörigen und ihre Kinder.

Auf dem Heimweg versuche ich es in zwei weiteren Geschäften; keines hat Toilettenpapier.
Bei einem überlege ich kurz, ob ich den Ladenschluss übersehen habe und bekomme kurz Angst, eingeschlossen zu werden.
Dann mache ich einen weiteren Kunden aus, ein Rollstuhlfahrer, der das Regal anstarrt, auf dessen oberster, der Vorrats-Ebene, eine Packung Küchenrolle steht, weil noch niemand dazu gekommen ist, nachzufüllen und die unteren Regalreihen zu bestücken.
Aus irgendeiner Ecke kommt eine Verkäuferin mit verquollenen Augen und verlaufener Wimperntusche und läuft vorbei.
Die Zeit bleibt stehen, der gestaltlose Schemen kriecht wieder aus dem rauchenden Brandloch, das die Wut hinterlassen hat, groß und majestätisch und schwärzer als schwarz.
Der Baumgeist hat gesagt, es heißt Misanthropie und ist kein Szeneklischee und kein untergangsromantischer Identitätstopos, sondern eine natürliche Folge des inneren Überlebenskampfes, Alternative: Untergang.
Unsere zweite Begegnung muss Wochen her sein, wer weiß, ob und wann ich ihn überhaupt wieder sehe und ob er sich noch erinnert.
Ein unbestimmtes Gefühl will sich einstellen, kein richtiges Vermissen, vielleicht eine Art Melancholie, wer weiß.

Die Verkäuferin kommt zurück, ohne Wimperntuschegefechtsgräben, aber mit einer Leiter.




Mittwoch, 18. März 2020
Thema: Outtakes
die kurze und etwas weniger abstrakte Variante: ich ringe nach wie vor mit der Uniblockade, was ziemliche Scheiße ist, hatte einen etwa neunzigsekündigen Anfall spontaner Genialität, in dem ein paar mögliche Erkenntnisse kurz an die Oberfläche blubberten, diese im Eilverfahren handschriftlich auf insgesamt fünf Doppelseiten DIN A4-Karoblock gebannt und arbeite nun daran, sie irgendwie in ein nachvollziehbares Format zu bringen,da ich ein seltsames Gefühl habe, einer wichtigen Sache auf der Spur zu sein.

Der Prozess der Begreifbarmachung ist noch im Entstehen, es fühlt sich an wie ein glitschiger Tentakelmoloch, der genau auf der Grenze zwischen Sumpf und Wahrnehmbaren liegt und mal in die eine, mal in die andere Richtung schwappt.
Da sich Fortschritte in der Bestimmung seiner Umrisse anscheinend bevorzugt (oder überhaupt nur) dann zeigen, wenn ich eine gewisse Anzahl an Abstraktionsebenen einführe (Distanzschaffung durch Rollenannahme, wofür ist man denn sprach- und kulturforschende Schauspielerin), habe ich beschlossen, als Experiment genau das zu tun, und irgendwie ist dabei der folgende Text entstanden.

Welche Ich-Version auch immer ihn ausgebrütet hat: Hallo Selbst, ich hab mir das gerade mal durchgelesen - deine verschrobene Eigenartigkeit ist irgendwie sympathisch, lass uns mal quatschen, ich bestell uns Mittagessen.


vom 13.03.20.



Die Kommandobrücke verkündet:
Da bisherige Maßnahmen zum Umgang mit der Uniblockade

-die kleinen Schritte
-das große TROTZDEM, materialisiert in den Versuchen, das Ding in der Psyche als Gegebenheit zu akzeptieren und trotzdem etwas zu machen, egal, wie viele Stunden mentaler Vorbereitung es für zwei semi-ausformulierte Sätze auf dem virtuellen Papier braucht
- strukturierte, geplante und ritualisierte Vorgehensweise (Schaffen eines dezidierten Arbeitsplatzes, einer festen Zeit, mit und ohne Musik verschiedenster Genres, Zeitplan kurz- mittel und langfristig, Schreibübungen und unzählige Entwürfe, Planungen, Vorgehensbeschreibungen, mentales Manifestieren des großartigen Gefühls, wenn der Scheiß endlich geschafft ist)
- niederschwellige Ansätze (Bücher und Laptop neben dem Bett, ein Satz pro Tag reicht und der Tag hat 24 Stunden, es ist also egal, wann der niedergeschrieben wird)
-einfach machen
- und ähnliches
bisher von ausgesprochen geringem Erfolg waren,
dabei aber vermutlich ebenso viel Zeit, Nerven und Energie gekostet haben (und noch kosten), wie es die ursprünglich aus Zeit-, Energie- und Nervengründen verschobene Option der Ursachensuche und anschließenden Auflösung der unliebsamen Partei getan hätte,
wird die Route neu berechnet.
Zum bisherigen Zeitpunkt ist noch unklar, ob die Wahrheit nicht irgendwo dazwischen liegt, weshalb die testweise Kursänderung regelmäßig evauliert und der vorherige Koordinatensatz als Backup gesichert wird.


Eine Sondertagung unter der Leitung
- der IG HD-TV (Handlungsmaßnahmen Durchführen, Totalschaden Vermeiden)
-des aus ihr hervorgegangene Vereins F.u.C.K..t.h.i.S. (Freunde unkonventioneller Coping-Skills im Kampf gegen traumaverwurzelte hochgradig irritierende Selbstsabotage)
-und der IG Biere (Belastende Identitätserbstücke radikal entsorgen)
wird alsbald mit der Diskussion der weiteren Vorgehensweise und der Erstellung eines entsprechenden Konzepts beginnen.
Einladungen ergingen an alle wichtigen hirneigenen Institutionen - und auch an die unwichtigen, man kann ja nie wissen.
Zudem wurden mit Rundumvorhängen ausgestattete Planschbecken aufgestellt, um im Falle spontaner Besuche aus dem namenlosen Nebel adäquate Aufenthaltsmöglichkeiten gemäß der landestypischen Präferenzen (knapp unter der Oberfläche des Hirnsumpfs, selten als Schemen sicht-, ihre Anwesenheit aber umso intensiver fühlbar) anbieten zu können.


Themen der geplanten Vorträge und Workshops sind unter anderem:
- Wenn der aktuelle Scheiß komplett unbeeindruckt davon ist, dass man schon ganz anderen überstanden hat: Was, wenn die Krise sich deshalb nicht bewältigen lässt, weil es gar keine ist?
Vortrag von G.Dankenexperiment, basierend auf dessen Dissertation "Das Leben als Frühstückssandwich und das Selbst als Erdnussbutter. Über Wandlungsprozesse, Übergangszustände, Dazwischen-Sein und ausgewogene Mahlzeiten".

- Wie haben die das früher eigentlich gemacht? Grundkurs Psychoarchäologie.
Workshop, in dessen Rahmen die Teilnehmenden die Gelegenheit bekommen, eigene kleine Ausgrabungen vorzunehmen, um verschüttete Persönlichkeitsmerkmale, Selbst- und Fremddefinitionen, vor allem aber frühere Eigenheiten oder/und Symptome freizulegen


- Idiosynkrasie oder Idiotie? Sammlungsorganisation für Psychoarchäologen.
Auf dem Grundkurs aufbauender Workshop, in dem die Prüfung der Funde hinsichtlich ihrer Tauglichkeit als Bewältigungsstrategie oder/und Kampfstoff für den aktuellen Anlass sowie die fachgerechte Aufbewahrung jener Funde, die nicht in diese Kategorie fallen, erarbeitet werden

- Die Bretter vorm Kopf und die, die die Welt bedeuten: Dramenanalytische und literaturwissenschaftliche Verfahren als Mittel zur Annäherung an jene Realitäten, die sich nur durch Verfremdung greifen lassen
Vortrag von Dr.Anne T. Fiction, Dozentin der Tumbleweed School for Actors and Dissociation Artists

- Seek and Destroy: Wege ins Unterbewusstsein zur Ursachensuche und anschließenden Beseitigung des aktuellen Notstands
Diskussionskreis unter der Leitung der gnadenlos optimistischen Kommandobrücke.

- Chaos regiert: Bild, Ton und Sprache als Quellen der Inspiration, Erleuchtung oder vielleicht wenigstens der heilsam-verstörenden temporären Katharsis.
Prof.Dr.Gap Ginnunga, kulturwissenschaftliche Chaosforscherin und Autorin der ständig erweiterten Bestseller-Anthologie "Ist von Trier zu stark, bist du zu schwach - ungewöhnliche Kraftorte der Lebensphilosophie" (aktueller Stand: C wie Cioran bis R wie Rasputin).

Bei einer ausreichenden Anzahl an interessierten Teilnehmern können folgende Kurse fakultativ belegt werden:
- It's not a bug, it's a feature - philosophische Psychoarchäologie.
Zusätzliche Übung zum Aufbaukurs, die sich Interpretationsmöglichkeiten der Gestalt und Eigenschaften gefundener Artefakte widmet.

- Konstruktiver Mottentanz : Selbstmanagement für Affektmenschen, Extrempersonen und andere Zerstörungswütige.
Vortrag von A.M.Piekłowa, Gärtnerin am Baudelaire-Institut und Primaballerina im Dante-Ensemble.

- "Wir sollten das alles hier nehmen und ein Buch daraus machen, oder wenigstens eine Novelle; das ist voll die gute Story, so mit Symbolen und so."
Diskussionskreis, den sich das zwanzigjährige Ich wünscht. Da der interne Generationenvertrag es vorsieht, sich selbst eine gute Mutter-Vater-Kind-Personalunion zu sein, hat sich die restliche Kommandobrücke entschieden, den Vorschlag in das fakultative Programm mit aufzunehmen. So sollen die jüngeren Mitglieder lernen, dass sie wahr- und ernst genommen werden, selbst, wenn Entscheidungen und Ansichten vom Rest der Familie nicht geteilt werden.

- Der Teufel steckt im Projezierten - Idealisieren und Dämonisieren mit gezielten Realitätsschellen effektiv ausknocken. Mit einem Praxisteil und anschließender Tiefenentspannung.
Unter professioneller Anleitung* erlernen die Teilnehmenden Techniken, um sich selbst oder andere von fehlgeleiteten Vorstellungen zu befreien und so die Entstehung tragfähiger, konstruktiver und unter Umständen angenehmer Realitäten zu begünstigen.

Die Teilnahme ist unabhängig vom bisherigen Erfahrungsgrad und sportlichen Fähigkeiten möglich; der Kursleiter* möchte betonen, dass keine Vorkenntnisse notwendig sind. Die Übungen werden in verschiedenen Varianten für Anfänger, Mittelstufe und Profis gezeigt und können an das eigene Level angepasst werden. Modifikationen und Pausen sind jederzeit möglich.

*Kursleiter Bruce Sylvester Terminatóre ist zertifizierter Weltenzerstörer, Personal Trainer und amtierender Champion der internationalen Ohrfeigenmeisterschaften. In seiner Freizeit stemmt er und häkelt Babymützchen.




Montag, 16. März 2020
Neben Faulheit, Weltfremdheit, angeborener Andersartigkeit (abwechselnd hochgelobt und verdammt), chronischer Ausredensucherei und ständigem Lügen, Egoismus, Unfähigkeit in so ziemlich allen Belangen des Alltags, Weinerlichkeit und übertriebener Sensibilität, übermäßiger Emotionalität, altkluger Aufmüpfigkeit und genereller Maßlosigkeit warf mir meine Mutter gerne auch Arroganz vor.
Und weil spontane Erleuchtungsmomente ebenso wie tiefschürfende Lebensweisheiten bevorzugt dann auftauchen, wenn man weder nach ihnen sucht, noch mit ihnen rechnet, liefert von Trier einen Beweis dafür, dass sie in diesem Punkt wohl Recht hatte - wenn auch nicht so, wie ihr zersetzer Verstand es eigentlich meinte.



"Grace: (...)I'm arrogant because I forgive people?

Ihr Vater: (...)You have this preconceived notion (...) that nobody could possibly attain the same high ethical standards as you, so you exonerate them.
I can not think of anything more arrogant than that.
You forgive others with excuses that you would never in the world permit for yourself.
(...)
Grace: The people who live here are doing their best under very hard circumstances!

Ihr Vater: If you say so, Grace. But is their best really good enough? Do they love you?
(...) "
(Aus: Von Tier, Lars: Dogville, neuntes Kapitel)


Und wenn wir schon dabei sind:

Die eine heiratet einen Mann, mit dem sie nur aus Feigheit zusammen gekommen war (weil man nicht so früh schon wieder Schluss macht, weil man nach so langer Zeit nicht Schluss macht - beständige Fremdfickerei und Geschimpfe über ihn ist anscheinend weniger verwerflich), legt sich versehentlich ein Kind zu, ohne den Unterschied zwischen einer Persönlichkeitsverlängerung und einem eigenständigen Wesen so recht zu raffen, eskaliert fröhlich unglücklich vor sich hin und krepiert schließlich an den körperlichen Folgen des jahrzehntelangen Alkoholismus -
der natürlich eine gemeine Verschwörungstheorie der bösen Anderen war, schließlich war sie nie richtig besoffen und hat nur Bier und Sekt getrunken, im Gegensatz zu der blöden Schlampe, die den besten Freund Papa Mayhems (den man eigentlich hatte haben wollen) geheiratet hat. Die dumme Kuh hatte doch tatsächlich die Dreistigkeit, nach einem ersten Anlauf wieder rückfällig zu werden und sich dann auch noch von Papa Mayhem helfen zu lassen!


Die andere ist Chefchirurgin in einer vor etwa 13 Jahren begonnenen Not-OP am offenen Herzen.
Seziert, amputiert, nekrotisiert, verödet die Erblast, um den Fluch zu annihilieren.
Eine unerhörte Fallstudie, ein monumentales Experiment, Determinismus gegen Willensfreiheit.
Kann ein Mensch sich selbst überwinden, wenn das Selbst in seinen Grundfesten verseucht ist?
Ihre Werte.
Ihre Regeln.
Ihre Naturgesetze.
Gelernt, was die Welt ist, wie die Welt ist, und wie sie funktioniert - von ihr.
Gelernt, was das Ich ist, wie es ist, wie es sein sollte und wie es niemals sein kann- auch von ihr.
Die Gebote der heiligen Mutter Mayhem, charismatische Frau, großartige Schauspielerin, Chefgespenst der Geisterachterbahn, in ihren Heimsuchungsbestrebungen,

wenn wir also schon dabei sind,

aber ein
winziges
Detail
vergessend:

Sie ist tot, ich lebe.

Um ihr den Gefallen zu tun, stelle ich mal das Ego hinten an und schaue auf sie.
Lege die Arroganz ab, löse mich von meinem ewig entschuldigenden Verzeihertum und wende genau die gleichen Maßstäbe, die ich für mich geltend mache, auch auf sie an.
Was bleibt?

Ein projezierender Haufen Menschenmüll, der vielleicht nichts für seine miesen Ausgangsbedingungen konnte, wohl aber für den Umgang damit und die dominoartige Kettenreaktion in den Untergang.
Ihren, nicht meinen.
Sie ist tot, ich lebe.
Der vielleicht nichts für seine schwachen Momente konnte, aber auch nicht dafür kämpfte, irgendwann mal wieder einen starken zu haben.
Lieber zwanzig Jahre Schuldzuweisungen, Hass und Selbstbetrug als auch nur eine Minute Reflektion. Lieber Bier trinken, Geschichten erzählen und die Beschissenheit aller und alles anderen betonen.
Die Umstände, die Menschen, die Welt, alle verblödet und beschissen und abgrundtief böse - lieber das, als auch nur in Erwägung zu ziehen, dass es da Dinge gibt, an denen man arbeiten könnte.
Lieber von besseren Zeiten träumen als auch nur einen Finger dafür zu krümmen, dass sie anfangen.
Scheiß auf Kollateralschäden, mit sowas halten sich nur die Anfänger auf - Profis zerstören Leben!


Wenn ich das gleiche Maß anlege, mit dem ich mich selbst messe, haben die mildernden Umstände aufgrund der Ausgangslage in Anbetracht der restlichen Anklagepunkte keine Auswirkungen aufs Urteil.
Schuldig, keine Gnade, keine Vergebung.
Vollstreckung des Urteils aus technischen Gründen entweder nicht mehr möglich oder, im Falle dieses vorhanden sein sollte, auf die nächste Begegnung im Jenseits verschoben.

Eigentlich aber auch dann nicht mehr notwendig.
Nehmen wir an, es gebe ein Jenseits - klassisch christliches Modell, eine andere Weltebene, von der aus die Verstorbenen zu den Lebenden schauen.
In diesem Fall befindet sich die Verurteilte bereits im Vollzug der Höchstrafe.

Sie ist tot und ich werde einmal ein Leben haben.
Verbanne sie in die Vergangenheit. Vergesse sie.
Zeige ihr jeden Tag, dass sie eine Wahl gehabt hätte.

Und das, mein imaginäres Publikum, ist die höchste Grausamkeit, die gerechteste Strafe, die nachhaltigste Rache und der größte Mittelfingerzeig, den man Arschlochmenschen angedeihen lassen kann.




Dienstag, 10. März 2020
...und auch nicht bei den Hunger Games.

Der Souffleur ist konventionell attraktiv und quasi Frischfleisch im Theaterdunstkreis, dementsprechend gravierend sind die Auswirkungen - oooohs und aaaaahs, sobald man ihn Bühenelemente heben sieht, und noch nie waren so viele Frauen plötzlich Gelegenheitsraucherinnen oder mit der Planung ihres ersten Tattoos beschäftigt.
Auch sämtliche "Ich könnte ja niemals was mit einem jüngeren Mann haben"-Vorsätze scheinen über Bord geworfen, und so hat sich mittlerweile eine semi-permeable Mauer aus verzückten zwanzig- bis dreißigjährigen Damen entwickelt, durch die man sich erst mal durchkämpfen muss, wenn man ihm mitteilen will, er möge heute bitte in einer anderen Ecke sitzen, wir wollen da noch jemanden für Fotos unterbringen.

Interessanterweise nehme ich mich aus dem ganzen Geschwärme und Gezanke heraus und scheine es damit nur mehr anzufeuern. Je weniger ich mich beteilige, desto härtere Geschütze fahren die anderen Frauen auf.
Wenn ich neben dem Souffleur sitze, sitze ich neben dem Souffleur; wenn nicht, dann eben nicht.
Wenn er gerade rauchen geht, wenn ich dampfe, ok, aber ich warte nicht extra - ist eh noch nicht sicher, ob der einfach nur unsicher-überlastet oder doch ruppigdorfkinddoof ist.
Er macht irgendeinen uralten Pubertärwitz? Sage ich ihm.
Blöder Spruch über irgendwas Normabweichendes, was er nicht kennt? Konstruktivitätsschelle zum Mitnehmen.
Geht, ohne sich zu verabschieden? Ok, spare ich mir beim nächsten Mal die Begrüßung.

Männer (oder Frauen) sind keine Siegertrophäe am Ende eines langen, anspruchs- und leidvollen Wettbewerbs, in dessen Verlauf man zeigt, was für ein grandioser Übermensch man ist und die Konkurrenz ausschaltet, koste es, was es wolle.
Es gibt nen ganzen Haufen von denen, und entweder taugen sie was oder eben nicht. Sinnvollerweise findet man das raus, bevor man sich Pfeil und Bogen schnappt, um sie zu erobern.

Meine Psyche macht weiter mit diesem seltsamen Ding, bei dem wir uniblockiert sind, aber in allen anderen Bereichen des Lebens beinahe exponentielles Wachstum hinlegen. Als hätte sie die ganzen Jahre zugehört, gewartet, beobachtet, um jetzt loszusprinten; nicht wie ein Gepard, sondern wie ein verdammter Wanderfalke im Sturzflug nach oben.
Mit Raketenantrieb.

Und natürlich bin ich unsicher, natürlich ist da zwischendurch Frust, Verlust- und Versagensangst ohne irgendwas, das es zu verlieren gäbe oder irgendwas, wobei ich versagen könnte.
Wenn die zwanzigjährige Pissgelb-Jaqueline gaaaaaanz dringend Hilfe mit ihrem Kleid braucht und ihn danach in eine Unterhaltung über ihre gemeinsame Zuneigung zur Ghettosaufpartymusik verwickelt.
Oder die dreißigjährige schlechtrotgefärbte Wonderbra-Waldtraud demonstrieren muss, WIE chillig, WIE pflegeleicht, kumpelhaft, gnadenlos versaut, trinkfest und ÜBERHAUPT-NICHT-WIE-DIE-GANZEN-ANDEREN-WEIBER sie doch ist. Alles anstrengende Tussis, aber sie nicht, neee, sie ist schon immer besser mit Männern klar gekommen (die sehen das meistens anders, aber das ist ein unwichtiges Detail), und überhaupt, sie spielt Flöte, das zeigt, dass sie voll gut blasen kann, höhöhöhö.
Und sie hat ja mal vor zehn Jahren auf einer Weihnachtsfeier mit ihrer Arbeitskollegin rumgemacht, das war voll cool, also, außer, wenn jemand der Zuhörer das nicht cool findet, dann war es nicht cool, sondern eine ganz miese Nummer ihrer bösen Arbeitskollegin, die sie abgefüllt hat, jawohl.
Die natürliche Heimwegreihenfolge wäre Souffleur-Auto ->meine WG, aber Waldtraud geht natürlich gerne einen Umweg zu ihrem Auto, um noch ein Stückchen mit uns zu laufen und uns anzubieten, uns zu unseren jeweiligen Zielen zu fahren.
Unterwegs erzählt sie, was für ein famoses Musiktalent der Souffleur bewiesen hat, als er mit seiner Familienband ein Dorffest beschallt hat, sie hat sich das auf Youtube angeschaut (Jo, ein aus vier Akkorden bestehendes Lied im 4/4-Takt mit dem Bass zu begleiten ist schon eine echte Herausforderung), dass sie seine Tattoos ja soooo toll findet, und dass er nach der letzten Aufführung gerne bei ihr schlafen kann.
Dann fährt sie ihn die ca. 200m zu seinem Auto, was er anscheinend gerne in Anspruch nimmt.
Das Angebot, mich ebenfalls zu meiner WG zu fahren, lehne ich ab und mache einen kleinen Spaziergang draus, allein durch die riesige, erhabene, wunderschöne schlafende Stadt, die meine ist.

Natürlich war da Aggression.
Natürlich ist da Traurigkeit.
Aber ich kann einfach mal damit umgehen.
Natürlich will irgendwas in meiner Psyche Geisterbahn fahren.
Ich aber nicht, also lassen wir das.

Die seltsame alte Frau in meinem Kopf, die Bibliothekarin, die hier inventarisiert und irgendwann vielleicht mal sortiert und ausmistet, hat sich das so angeschaut, über den Rand ihrer dreieckigen Brille hinweg. Dann hat sie sich am Kopf gekratzt, ihren weißen Dutt zurecht und die Katze vom Schreibtisch geschoben, in ein paar Kisten, die da rumstehen, gewühlt und dort ein paar Brösel vom Selbst gefunden.
Ein bisschen -sicherheit, ein bisschen -wert, ein bisschen Ego.
Sie hat sie auf die Kommandobrücke gebracht und da sitzen wir jetzt, wärmen uns die Hände an ihnen, mit hochgezogener Braue das Geschehen beobachtend, dampfend (ich regulär, sie eine E-Pfeife, das passt besser zu ihrem Stil, sagt sie), dann und wann nicken wir uns wissend zu und der Kompass richtet sich gen Klarkommen aus.

Ziemlich geiler Scheiß, ehrlich gesagt.