Neben Faulheit, Weltfremdheit, angeborener Andersartigkeit (abwechselnd hochgelobt und verdammt), chronischer Ausredensucherei und ständigem Lügen, Egoismus, Unfähigkeit in so ziemlich allen Belangen des Alltags, Weinerlichkeit und übertriebener Sensibilität, übermäßiger Emotionalität, altkluger Aufmüpfigkeit und genereller Maßlosigkeit warf mir meine Mutter gerne auch Arroganz vor.
Und weil spontane Erleuchtungsmomente ebenso wie tiefschürfende Lebensweisheiten bevorzugt dann auftauchen, wenn man weder nach ihnen sucht, noch mit ihnen rechnet, liefert von Trier einen Beweis dafür, dass sie in diesem Punkt wohl Recht hatte - wenn auch nicht so, wie ihr zersetzer Verstand es eigentlich meinte.



"Grace: (...)I'm arrogant because I forgive people?

Ihr Vater: (...)You have this preconceived notion (...) that nobody could possibly attain the same high ethical standards as you, so you exonerate them.
I can not think of anything more arrogant than that.
You forgive others with excuses that you would never in the world permit for yourself.
(...)
Grace: The people who live here are doing their best under very hard circumstances!

Ihr Vater: If you say so, Grace. But is their best really good enough? Do they love you?
(...) "
(Aus: Von Tier, Lars: Dogville, neuntes Kapitel)


Und wenn wir schon dabei sind:

Die eine heiratet einen Mann, mit dem sie nur aus Feigheit zusammen gekommen war (weil man nicht so früh schon wieder Schluss macht, weil man nach so langer Zeit nicht Schluss macht - beständige Fremdfickerei und Geschimpfe über ihn ist anscheinend weniger verwerflich), legt sich versehentlich ein Kind zu, ohne den Unterschied zwischen einer Persönlichkeitsverlängerung und einem eigenständigen Wesen so recht zu raffen, eskaliert fröhlich unglücklich vor sich hin und krepiert schließlich an den körperlichen Folgen des jahrzehntelangen Alkoholismus -
der natürlich eine gemeine Verschwörungstheorie der bösen Anderen war, schließlich war sie nie richtig besoffen und hat nur Bier und Sekt getrunken, im Gegensatz zu der blöden Schlampe, die den besten Freund Papa Mayhems (den man eigentlich hatte haben wollen) geheiratet hat. Die dumme Kuh hatte doch tatsächlich die Dreistigkeit, nach einem ersten Anlauf wieder rückfällig zu werden und sich dann auch noch von Papa Mayhem helfen zu lassen!


Die andere ist Chefchirurgin in einer vor etwa 13 Jahren begonnenen Not-OP am offenen Herzen.
Seziert, amputiert, nekrotisiert, verödet die Erblast, um den Fluch zu annihilieren.
Eine unerhörte Fallstudie, ein monumentales Experiment, Determinismus gegen Willensfreiheit.
Kann ein Mensch sich selbst überwinden, wenn das Selbst in seinen Grundfesten verseucht ist?
Ihre Werte.
Ihre Regeln.
Ihre Naturgesetze.
Gelernt, was die Welt ist, wie die Welt ist, und wie sie funktioniert - von ihr.
Gelernt, was das Ich ist, wie es ist, wie es sein sollte und wie es niemals sein kann- auch von ihr.
Die Gebote der heiligen Mutter Mayhem, charismatische Frau, großartige Schauspielerin, Chefgespenst der Geisterachterbahn, in ihren Heimsuchungsbestrebungen,

wenn wir also schon dabei sind,

aber ein
winziges
Detail
vergessend:

Sie ist tot, ich lebe.

Um ihr den Gefallen zu tun, stelle ich mal das Ego hinten an und schaue auf sie.
Lege die Arroganz ab, löse mich von meinem ewig entschuldigenden Verzeihertum und wende genau die gleichen Maßstäbe, die ich für mich geltend mache, auch auf sie an.
Was bleibt?

Ein projezierender Haufen Menschenmüll, der vielleicht nichts für seine miesen Ausgangsbedingungen konnte, wohl aber für den Umgang damit und die dominoartige Kettenreaktion in den Untergang.
Ihren, nicht meinen.
Sie ist tot, ich lebe.
Der vielleicht nichts für seine schwachen Momente konnte, aber auch nicht dafür kämpfte, irgendwann mal wieder einen starken zu haben.
Lieber zwanzig Jahre Schuldzuweisungen, Hass und Selbstbetrug als auch nur eine Minute Reflektion. Lieber Bier trinken, Geschichten erzählen und die Beschissenheit aller und alles anderen betonen.
Die Umstände, die Menschen, die Welt, alle verblödet und beschissen und abgrundtief böse - lieber das, als auch nur in Erwägung zu ziehen, dass es da Dinge gibt, an denen man arbeiten könnte.
Lieber von besseren Zeiten träumen als auch nur einen Finger dafür zu krümmen, dass sie anfangen.
Scheiß auf Kollateralschäden, mit sowas halten sich nur die Anfänger auf - Profis zerstören Leben!


Wenn ich das gleiche Maß anlege, mit dem ich mich selbst messe, haben die mildernden Umstände aufgrund der Ausgangslage in Anbetracht der restlichen Anklagepunkte keine Auswirkungen aufs Urteil.
Schuldig, keine Gnade, keine Vergebung.
Vollstreckung des Urteils aus technischen Gründen entweder nicht mehr möglich oder, im Falle dieses vorhanden sein sollte, auf die nächste Begegnung im Jenseits verschoben.

Eigentlich aber auch dann nicht mehr notwendig.
Nehmen wir an, es gebe ein Jenseits - klassisch christliches Modell, eine andere Weltebene, von der aus die Verstorbenen zu den Lebenden schauen.
In diesem Fall befindet sich die Verurteilte bereits im Vollzug der Höchstrafe.

Sie ist tot und ich werde einmal ein Leben haben.
Verbanne sie in die Vergangenheit. Vergesse sie.
Zeige ihr jeden Tag, dass sie eine Wahl gehabt hätte.

Und das, mein imaginäres Publikum, ist die höchste Grausamkeit, die gerechteste Strafe, die nachhaltigste Rache und der größte Mittelfingerzeig, den man Arschlochmenschen angedeihen lassen kann.





sid, Dienstag, 17. März 2020, 00:48
Aus ihrem Schatten treten.
Richtig und wichtig so.


mayhem, Mittwoch, 18. März 2020, 13:12
Vermutlich einer der großen Lebensprozesse.
Das Loslösen von den Eltern ist an sich ja etwas, vor dem früher oder später jeder steht, spätestens, wenn sie sterben.
Zeitweise fühlt es sich in meinem Fall weniger wie ein friedliches Loslösen an, sondern eher wie ein Kampf ums Entkommen.
Der aber auch irgendwann ausgefochten sein wird; hoffe ich zumindest.


akrabke, Dienstag, 24. März 2020, 10:14
Mir kam spontan der Begriff sie mir vom Halse halten. Sie war mir einfach zu nah, und später war ich ihr umso näher, je mehr die Demenz sie von mir fortgetrieben hat. Während der Anklage konnte ich nun die Dinge ordnen.

akrabke, Dienstag, 17. März 2020, 09:20
Großartig geschrieben (und im übrigen auch hier gerade Thema).


mayhem, Mittwoch, 18. März 2020, 13:09
Erneut danke - und größtes Mitgefühl dafür, dass Sie da gerade auch durch gehen. Tue mir oft schwer mit Kommentaren und bin dann doch meistens nur stille Leserin, weil ich nicht weiß, wie hilfreich es jetzt ist, wenn ich der anderen Person nicht viel mehr als mein Mit-Fühlen/Mit-Leiden anbieten kann.

Der Mutter-Loslösungsprozess (bzw. in meinem Fall Auflösungsprozess) ist manchmal ein Monstrum.
Meine Therapeutin meinte, er sei bei den suboptimalen Müttern schwieriger als bei den "regulären"; es erscheine ihr so, dass die Trauer- und Traumaarbeit umso länger dauere, je schwieriger es war, während die Personen, die eine eingermaßen stabile Bindung (und Mutter) hatten tendenziell schneller damit abschließen würden, bzw. weniger Probleme damit hätten - einer ihrer Patienten habe bereits vierzig Jahre damit gerungen, bevor er zu ihr in die Praxis kam.

Für umso wichtiger halte ich es, damit anzufangen. Oder weiter zu machen - das ist aus meiner Sicht kein linearer Prozess, sondern eher so eine lauernde Sumpfgestalt, die immer wieder plötzlich im Wohnzimmer steht.
Was allerdings auch an meiner speziellen Ausgangslage inklusive verzögertem Bearbeitungsstart und Diagnosechaos liegen könnte.
Generell bin ich auch ein großer Freund davon, es mir nicht nachzumachen und nicht erst im Notbremsenmoment loszulegen, sondern dann mit der Aufarbeitung zu starten, wenn die sprichwörtliche Kacke noch nicht ganz so arg am dampfen ist. Stabilere Ausgangslage -> etwas zügigere, etwas weniger schmerzhafte Bearbeitung.