Freitag, 17. April 2020
Thema: gefunden.
An düster ragenden Häuserwällen
Durch flammenbesäte steinerne Schlucht
Branden die rasselnden Wagen, die Menschen /
Wie Wellen in klippiger Meeresbucht.
Der rote Vollmond taucht empor.

Die Menge wühlt und drängt und stößt;
Jedweden kümmert nur seine Not /
Wie auf dem Deck des lecken Schiffes,
Das in den Tod zu sinken droht.
Der rote Mond schaut düster drein.

Auf glattem Bürgersteige kauert /
Gleichwie am Felsenriff das Wrack /
Ein Mann mit vorgesunknem Kopfe,
Zur Seite einen Lumpensack.
Der Vollmond blickt mit düstrer Glut.

Die Leute auf dem Bürgersteige
Treiben vorbei und blicken kalt;
Die Straßenbahn beglotzt im Rollen
Mit grünem Auge die Gestalt.
Der rote Mond schaut düster drein.

Dort drüben lockt die blutige Flamme
Dem Schnapswirt manchen Gast ins Haus;
Und öffnet sich die Schänke dunstig,
Dringt Schelten und Gejohl heraus. –
Der Vollmond blickt mit düstrer Glut.

Des Handelshauses Fensterreihe
Ist noch vom Gaslicht grell erhellt;
Papier und Pult und blasse Schreiber;
Der Chef durchzählt des Tages Geld.
Der Vollmond blickt mit düstrer Glut.

Nun heult vom Hofe die Maschine
Zur Vesper; da entläßt das Tor
Viel arbeitsmatte Blusenmänner;
Nur der Fabrikschlot stößt empor
Zum roten Monde schwarzen Rauch.

Ein würdiger Bürger kommt geschritten,
Den Lump am Steige trifft sein Blick;
Entrüstet mit dem Kopfe schüttelnd
Geht er zu Bier und Politik /
Und zornrot glüht der volle Mond.

(Wille, Bruno: Straße)




Mittwoch, 8. April 2020
Kurse fallen aus, Prüfungs- und somit auch Verbuchungszeiträume verschieben sich massiv, Bibliotheken sind geschlossen und die nette Dame am anderen Ende der Email-Leitung meint, nee, an der Frist zur Zeugnisvorlage ändert sie nix, wir haben die ja schon mal verschoben.
(Zur Erinnerung: die erste Verschiebung ergab sich, nachdem ich die nette Dame am anderen Ende der Email-Leitung darauf hingewiesen hatte, dass der erste zugeteilte Termin IN DER VORLESUNGSZEIT und somit Wochen, bevor die Verbuchung überhaupt anfängt, liegt).

Ich soll also eine Leistung in einem Kurs, der wahrscheinlich nicht stattfindet, einfahren, auf eine rechtzeitige Verbuchung der fehlenden Hausarbeiten hoffen, eine Themeneingrenzung, darauf aufbauend ein Exposé zur Vorlage bei meinem Betreuer und, je nachdem, wie lange die Bibliotheken geschlossen bleiben, auch die Bachelorarbeit an sich ohne Bücher (und ohne nennenswerte Auswahl an Onlinequellen) schreiben.
Eine wissenschaftliche Arbeit, die, wenn es nach meinem Betreuer geht, 30 oder mehr Titel in der Sekundärliteraturliste haben soll und sich mit noch festzulegenden Einzelaspekten spezieller Phänomene in speziellen deutschen Theaterstücken eines speziellen Autoren beschäftigt.
Weil ja noch Zeit ist und ich doch schon mal eine Verlängerung erbeten hatte.

Der Kopfkrieg der letzten Tage (kein Unikram, kein Yoga, keine ausgewogene Ernährung, kein Haushalt, nichtmal Gesichtsmaske oder Haarkur, dafür Überlastungsprokrastinieren und mentale Selbstzerfleischung) wird von einem großen, hässlichen Heulkrampf weggespült.

Ich will das Schicksal anschreien, was die Scheiße soll; dass ich den Master (Themenbereich, Dozentin, mögliches Praktikum und nebenher ein Angebot, für eine Saison eine Regie-Unterstützung bei einer kleineren Bühne zu übernehmen, die mit ihren Stücken tatsächliches GELD VERDIENT) quasi jetzt schon in der Tasche habe und es ein dramaturgisch genialer, aber auch verdammt mieser Schachzug wäre, da jetzt den Bachelor zu verunmöglichen. Wir sind hier nicht auf der Bühne, ein schlichtes, langweiliges Happy End ist erlaubt und erwünscht.

Dann fällt mir ein, dass es das Schicksal ja gar nicht gibt und die einzige höhere Macht der Zufall ist.
Und die Soft Skills, die sich aus meiner einzigartigen Kombination eines geisteswissenschaftlichen Studiums, schräger Persönlichkeit und des tendenziell unüblichen Lebenslaufes ergeben (und die mich laut Suffausspruch des Thekenzwergin-Mannes zur perfekten Personalerin, Managerin oder Weltherrscherin machen würde, er könne quasi spüren, dass ich der Menschheit Großartiges bringen werde).


Mit dem Selbstwert und der Wertschätzung meiner positiven Persönlichkeitsaspekte habe ich es gerade aber nicht so, also fährt mein Hirn eine Runde Achterbahn und ich lasse mich von mir selbst anschreien (verschenktes Potenzial, Unfähigkeit aufgrund grotesker Faulheit, ich müsse mich ja einfach nur aufraffen, drei oder vier oder mehr Tage nichts produktives gemacht, Selbstsabotage und Unvermögen, etwas dagegen zu tun, obwohl das doch so leicht wäre),
um mich anschließend zurück anzuschreien (JA BITCH ich hab die letzten Tage nichts gemacht, das liegt aber auch daran, dass die ganze Selbstvorwurfmühle und das Kopfchaos mich derart intensiv energiefressend in absolute Überlastung schleudern, dass ich komplett gelähmt bin, hatten wir nicht ausgemacht, dass in meinem Kopf Demokratie herrscht?).
Dann schreibe ich Dory, ob sie gerade Mittagspause hat und telefonieren kann, weil mich die Nachricht der netten Dame am anderen Ende der Email-Leitung gerade wieder zum weinen bringt und das irgendwie raus muss und mir sonst niemand verfügbares einfällt, vor dem ich am Telefon weinen würde.


Dory findet, die nette Dame am anderen Ende der Email-Leitung übertreffe selbst die Leute aus der Höhle des Studienkredit-Satans und fragt, ob das irgendwie ein Wettbewerb ist und was man da gewinnen kann.

Wir rechnen zusammen durch, ob es technisch möglich ist, den Bachelor zu packen, und stellen fest: selbst, wenn ich es schaffen sollte, buchstäblich um mein zukünftiges Leben zu schreiben, hängt alles davon ab, ob die Bibliotheken früh genug wieder öffnen, damit ich das überhaupt tun kann; davon, ob die Verbuchungen früh genug stattfinden und ob sie, entgegen der jahrzehntelangen "Schnecke auf Valium"-Tendenz dabei zumindest in meinem Fall Überschallgeschwindigkeit hinlegen.
Was in etwa so wahrscheinlich ist wie ein Lottogewinn.

"Ich sag das ja echt nicht gerne, aber das ist halt echt schöne Scheiße. Weil es einfach mal krass unwahrscheinlich ist und null in deinen Händen liegt. Ich würd' ja sagen, ich komm' vorbei und wir gehen tanzen oder was trinken, aber nee, so ein Scheißdrecksvirus hat ja beschlossen, er muss jetzt grad rumseuchen. Die Drecksau."
Mittlerweile findet auch Dory die aktuelle Weltkreuzfahrt auf der MS Pandemie nicht mehr so entspannend und angenehm.
Also reden wir über Lähmungs- Überlastungs- und Unvermögensgefühle und deren Bewältigung (ein paar jage ich gleich aus ihrem Kopf, wenn ich schon dabei bin), Selbstzweifel, im Hirnsumpf schwimmende Identitätsfragmente, Geisterachterbahnfahrten, das Ertragen und Aussitzen und das große Trotzdem.
Ich scheine konstruktiv zu sein; Dory weint ein bisschen und sagt, ich sei die beste Freundin, die ihr in fast dreißig Jahren je begegnet ist.
-"Dory, vielleicht ist dein früherer Freundeskreis auch einfach nur genauso suboptimal wie dein Männergeschmack." Manchmal sieht der Glückstreffer nämlich nur deswegen wie einer aus, weil man als Maßstab lediglich die vorherigen Blindgänger anlegt.

"Stimmt alles, aber du bis trotzdem großartig. Hab dich lieb! Und jetzt koch dir was schönes, mach dir n Bier auf oder ein Glas Wein und lad' dir endlich mal die Datingapp runter, von der wir geredet haben, damit du mal auf andere Gedanken kommst."

-"Ich gönn mir dauernd irgendwas zu Essen, ein- bis dreimal die Woche bis zu ein Glas Wein oder Bier und das einzig interessante an deiner App ist, dass du da den Baumgeist gefunden hast, den ich sowieso nicht anschreiben würde, weil ich gerade besseres zu tun habe und dem sicher nicht nachlaufe."
"Ok, also warten wir wieder ein paar Monate auf eure nächste Begegnung, er erinnert sich vielleicht nicht mehr dran, dass er mal nüchtern mit dir quatschen wollte und wir finden nie raus, ob ihr das ultimative Traumpaar sein könntet? Klingt nicht so geil, der Plan."

- "Genau das machen wir. Wenn er sich nicht mehr erinnert, war's nur blöd dahergesagt, es besteht kein Interesse oder er säuft wie nochwas; in allen drei Fällen lautet die Diagnose: aussortiert.
Ansonsten lernt man sich halt kennen und schaut, ob da was sein könnte - oder eben nicht. "
Dory fühlt tendenzielle Zustimmung, zumal sie seinen Humor nicht mag und ihn deswegen auch nicht, findet aber dennoch, zu mir könnte der passen und man müsse da deswegen mal was machen.
Ich, Aussitzen und Ungewissheiten und Schwebezustände absolut hassend, werde von einem spontanen Anfall konstruktiver Gedankengänge getroffen, der meine Therapeutin stolz machen würde.
-"Nur, weil der tageslichttauglich ist, den passenden Musikgeschmack hat und anscheinend Bücher liest, heißt das nicht, dass man kompatibel wäre. Wir hatten's doch bei dem letzten Typ, den du getroffen hast, vom Unterschied zwischen "Das brauche ich" und "Das möchte ich" und dass das wichtig ist. Selbst, wenn ich merken sollte, dass ich echt Interesse an ihm habe und er auch an mir, was aktuell noch völlig unklar ist: ohne Kompatibilität im "Das brauche ich" bringt das auch nix."


Mir fliegt hier vielleicht grad alles um die Ohren und potenziell geht die Welt unter, aber ein paar Verlässlichkeiten scheint es nach wie vor zu geben:
- Der Zufall bastelt weiter eigentümliche Storylines, die entweder unerbittlich auf den Super-GAU zusteuern oder der Charakterentwicklung für die Vorbereitung grandioser Zeiten dienen
- mit Empathie, Verständnis,Gnade und guten Ratschlägen begegne ich vorwiegend anderen, statt sie mir selbst auch mal zu erlauben
- kein Bock auf's Kennenlernen oder Daten des menschlichen Äquivalents zu Discounter-Sonderangeboten
- keine Ahnung, wie ich aus dem ganzen Scheiß hier heil rauskomme
- da Teile davon nicht in meinem Einflussbereich liegen, übe ich mich im Aushalten, Aussitzen und Vertrauen auf Glück oder Zufall

Also eigentlich alles wie immer, nur mit voll aufgedrehtem Verstärker.




Sonntag, 29. März 2020
Unsicherheiten aussitzen, Zwischenzeiten aushalten, genau auf der Kluft zwischen zwei Weltatemzügen ausharren und den Scheitelpunkt der Achterbahn überleben, ohne zurück oder nach vorne zu schauen.

Das Leben möchte mir gerade einiges abverlangen.
Natürlich nur im Kopf; die größten Schlachten sind immer die in meinem Kopf, mit mir und gegen mich.
Und alles/allem, was da sonst noch so drin ist.
Entweder steuere ich in eine Katastrophe, oder in eine Zukunft als weise Frau.
Vielleicht auch beides.

Kein Zweifel daran, dass ich das alles aussitzen werde.
Unklar eher, was dabei rauskommt.
Das große Grausen und Grübeln, Selbstvorwurfmühle, Katastrophisieren und Selbstsabotage.
Ich kanns alles benennen, alte Bekannte, das Entkommen ist die Herausforderung.
Ich weiß nicht, ob ich das kann.
Potenzial, sicher. Hatte ich mal, habe ich vermutlich immer noch.
Es nutzen, so richtig?
Work in progress.
Mein Glaube an die tragfähige Zukunft scheint ebenso unerschütterlich wie die Betonmauer, die ich immer wieder auf dem Weg dorthin hochziehe.
Ich gegen mich, mal sehen, wer gewinnt.
Es bleibt spannend.





Donnerstag, 19. März 2020
Meine große Stadt spielt Dystopie.
Übergangswetter, Übergangsgefühle. Traditionell der Zeitpunkt, an dem ich vom Existieren ins Leben wechsle. Danach Sommerkrise, bevor sich das Phänomen wiederholen wird, um anschließend Winterpause zu machen.
Ich krieche raus aus mir und sogar raus aus dem Haus.
Zärtlicher Sonnenschein, milde Temperaturen, selbst der Wind ist freundlich und flaniert sachte durch die menschenleeren Gassen.
In den dunklen Schaufenstern hängen Hinweise auf Onlineshops, in den erleuchten Appelle, das Personal weder verbal noch physisch anzugreifen.
In öffentlichen Verkehrsmitteln gibt es plötzlich Sitzplätze und selbst die gruseligen Mitfahrer halten Abstand, sodass es gar nicht so schlimm ist, dass ich meine Kopfhörer vergessen habe.
Ein paar Sitzreihen vor mir erzählt ein circa fünfzehnjähriges Mädchen, dass es nichts essen kann, weil sich das nicht mit ihrem Rausch verträgt.
Ihre Sitznachbarin stimmt zu; sie habe an Fasching eine Woche lang durchgehend "Teile geschmissen" und danach mehr gewogen, obwohl sie "voll wenig gegessen und eigentlich nur gesoffen" habe.
Der Gegenübersitzer äußert Zweifel, es entwickelt sich eine Diskussion, in deren Verlauf Mädchen1 poltert, was die Scheiße soll, es müsse nicht jeder wissen, dass sie sich "Teile schmeißt". Die Faschingsfeiermaus poltert mit: da sei ja eigentlich nix dabei, aber irgendwie würde einen jeder sofort voll assi finden, wenn man sich was schmeißt und wenn jeder sage, oh, das ist voll schlimm, würde sich das negativ aufs Rauschempfinden auswirken.
Man dreht sich kurz um und scannt die anderen Fahrgäste; mit geschultem Auge wird festgehalten: Eh alles Spießer.



Im Frontenkrieg um die Bunkerausstattung finde ich mich auf der Seite wieder, die sich moralisch besser anfühlt, aufgrund der anderen Seite aber vermutlich bald vor ein paar versorgungstechnischen Problemen steht.
Der PTBS-Rentner braucht ein paar Dinge, und die "Wir helfen Ihnen gegen einen Obulus gerne beim Einkaufen, Kinder betreuen, oder was Sie sonst noch brauchen - deshalb werfen wir Zettel mit diesem uneigennützigen Angebot in fast jeden Briefkasten, an den wir kommen"-Studenten sind in der Verteilung ihrer Gunst immer noch selektiv genug, um ihn zu meiden.
Als sie gerade eine Runde durchs Haus drehen und bei seinen Stockwerksnachbarn klingeln, vielleicht fällt denen ja spontan noch was ein, kommt er anscheinend auch raus; ich höre ihn fragen, ob sie ihm etwas mitbringen können. Die Studententruppe verneint, sie würden nicht da hin gehen, wo es seine Sachen gibt.
"Aber ich brauche doch nur ein paar Dosen Katzenfutter und eine Packung Klopapier."
Studententruppe dreht sich um und läuft die Treppe runter.
Alter Mann schreit Untermenschen, verdammte, bösartige.
Ich stelle meinen Müllsack in die Ecke und laufe die Treppe hoch.
Auf halber Strecke Begegnung mit der Studententruppe.
Alter, der Pisser hat doch ein Rad hab, sagt eine bejutebeutelte Bloggerduttträgerin im Carpe Diem-Shirt.
Wahrscheinlich, aber er hat halt auch Recht, ihr scheinheiligen Arschlöcher, sage ich im Vorbeigehen, mit der Wortwahl des PTBS-Opas durchaus unzufrieden, der vermuteten Grundaussage allerdings zustimmend.
Keine Verurteilung für bezahlte Dienstleistungen, aber: Ehrlichkeit bitte. Das "Einer für alle"-Altruismusphrasenschwein macht sich nicht gut als vorgeschobene Tarnung.

Alter Mann hat die Wohnungstür geschlossen und reagiert nicht auf klingeln.
Ich, ganz pragmatisch, schreie seine Tür an, dass ich einkaufen gehe und ihm was mitbringen kann.

Der PTBS-Opa sagt mir, dass er nicht daheim bleibt, weil sein Arzt es ihm befohlen, sondern, weil seine Enkelin ihn darum gebeten hat. Die wohne ganz wo anders, sei gerade außerdem in Indien und weiß vielleicht nicht so recht, was sie machen soll, wohl aber, was er machen soll: das Haus möglichst nicht verlassen und immer gründlich Hände waschen, weil sie sonst traurig ist.
Was der Arzt sagt, sehe er ja schon skeptisch, eigentlich sei das ja auch alles übertrieben, aber traurige Enkelin, nee, das kann er nicht, also bleibt er daheim.
Ich frage ihn, was er so braucht, ob er eine Einkaufsliste hat oder eine schreiben möchte; er fragt mich, ob das Angebot ernst gemeint ist oder ob ich kriminelle Absichten habe.
Ich biete ihm an, die Einkäufe auszulegen und die Rechnung mitzubringen, zeige ihm, dass ich keine Waffe im Rucksack habe und mein Rock keine Taschen hat.
Man kann ja nie wissen, meint er, sagt aber danke und holt einen Einkaufszettel.

Nach mehr als einer Stunde und vier verschiedenen Geschäften habe ich immer noch kein Toilettenpapier.
Radiostimmen schwärmen von Wochenangeboten, einwegbehandschuhte Angestelle huschen zwischen leergefegten Regalen durch ausgestorbene Supermärkte und korrigieren die Stückzahlen auf den "nur haushaltsübliche Mengen"-Zetteln nach unten.
Eine Einkäuferin blockiert mich, als ich zwei Packungen Nudeln in meinen Korb legen will, eine für den alten Mann, eine für mich. "Denken Sie vielleicht mal daran, dass es auch noch andere Leute gibt? Ich habe Kinder, ja!"
Aus dem Loch,dass mir meine Aggression in den Brustkorb gebrannt hat, steigt irgendwas anderes, groß und ruhig und majestätisch. Ein gestaltlos wabernder Schatten, schwärzer als schwarz, so leise, dass es im ganzen Kopf totenstill wird.
Der Baumgeist fällt mir ein, der hohle Klang seines Lachens, als ich gesagt habe, dass nicht jeder Mensch in jedem Moment gut ist, wohl aber das Potenzial hat, es zu sein.
Ich lasse eine Packung Nudeln in den Einkaufswagen der Frau plumpsen, neben die anderen acht, vier Flaschen Öl und sechs Sechserkartons Milch und starre ihr in die Augen, auf der Suche nach einer Seele.
Der Baumgeist hat gesagt, es ist einfacher, wenn es keine gibt.

Aufgrund des gebotenen Sicherheitsabstands bildet sich eine kleine Pseudoschlange an der Kasse.
Die Nudelfrau steht vor mir und telefoniert mit irgendwem.
Ihr Gesprächspartner scheint Probleme mit der Kinderbetreuung zu haben, jedenfalls hält sie fest, dass sie froh ist, keine zu haben.
Der Kassenazubi hält sie und sie die ganze Schlange auf.
"Geht nicht, zu viel. Ein Karton Milch, heute Nudeln nur einmal, Bitte."
Nudelfrau schreit den Laden zusammen, was ihm einfalle, wer wisse schon, wann es wieder was gebe, kaufen ja schließlich alle ein wie blöd, sie habe Kinder zuhause und Angehörige zu pflegen.
Der Kassenazubi, irgendwo zwischen Überforderung und Resignation, bittet sie, kurz an der Seite zu warten, damit sie das mit der Chefin klären können.
Nudelfrau regt sich auf, sie habe auch noch anderes zu tun, aber diese Chefin, die könne ruhig her kommen, der würde sie was erzählen, wie die sich das eigentlich vorstelle, so eine Frechheit, wir seien hier doch nicht in der DDR, wo einem der Staat vorschreibt, wie man einzukaufen habe.
Ich bezahle meine Einkäufe (inkl. einer Packung Nudeln für den alten Mann, einer Packung Sojamilch, einer Packung Hafermilch, keiner Packung Toilettenpapier) und wünsche der Nudelfrau beim rausgehen alles Gute für ihre Angehörigen und ihre Kinder.

Auf dem Heimweg versuche ich es in zwei weiteren Geschäften; keines hat Toilettenpapier.
Bei einem überlege ich kurz, ob ich den Ladenschluss übersehen habe und bekomme kurz Angst, eingeschlossen zu werden.
Dann mache ich einen weiteren Kunden aus, ein Rollstuhlfahrer, der das Regal anstarrt, auf dessen oberster, der Vorrats-Ebene, eine Packung Küchenrolle steht, weil noch niemand dazu gekommen ist, nachzufüllen und die unteren Regalreihen zu bestücken.
Aus irgendeiner Ecke kommt eine Verkäuferin mit verquollenen Augen und verlaufener Wimperntusche und läuft vorbei.
Die Zeit bleibt stehen, der gestaltlose Schemen kriecht wieder aus dem rauchenden Brandloch, das die Wut hinterlassen hat, groß und majestätisch und schwärzer als schwarz.
Der Baumgeist hat gesagt, es heißt Misanthropie und ist kein Szeneklischee und kein untergangsromantischer Identitätstopos, sondern eine natürliche Folge des inneren Überlebenskampfes, Alternative: Untergang.
Unsere zweite Begegnung muss Wochen her sein, wer weiß, ob und wann ich ihn überhaupt wieder sehe und ob er sich noch erinnert.
Ein unbestimmtes Gefühl will sich einstellen, kein richtiges Vermissen, vielleicht eine Art Melancholie, wer weiß.

Die Verkäuferin kommt zurück, ohne Wimperntuschegefechtsgräben, aber mit einer Leiter.