Mittwoch, 18. März 2020
Thema: Outtakes
die kurze und etwas weniger abstrakte Variante: ich ringe nach wie vor mit der Uniblockade, was ziemliche Scheiße ist, hatte einen etwa neunzigsekündigen Anfall spontaner Genialität, in dem ein paar mögliche Erkenntnisse kurz an die Oberfläche blubberten, diese im Eilverfahren handschriftlich auf insgesamt fünf Doppelseiten DIN A4-Karoblock gebannt und arbeite nun daran, sie irgendwie in ein nachvollziehbares Format zu bringen,da ich ein seltsames Gefühl habe, einer wichtigen Sache auf der Spur zu sein.

Der Prozess der Begreifbarmachung ist noch im Entstehen, es fühlt sich an wie ein glitschiger Tentakelmoloch, der genau auf der Grenze zwischen Sumpf und Wahrnehmbaren liegt und mal in die eine, mal in die andere Richtung schwappt.
Da sich Fortschritte in der Bestimmung seiner Umrisse anscheinend bevorzugt (oder überhaupt nur) dann zeigen, wenn ich eine gewisse Anzahl an Abstraktionsebenen einführe (Distanzschaffung durch Rollenannahme, wofür ist man denn sprach- und kulturforschende Schauspielerin), habe ich beschlossen, als Experiment genau das zu tun, und irgendwie ist dabei der folgende Text entstanden.

Welche Ich-Version auch immer ihn ausgebrütet hat: Hallo Selbst, ich hab mir das gerade mal durchgelesen - deine verschrobene Eigenartigkeit ist irgendwie sympathisch, lass uns mal quatschen, ich bestell uns Mittagessen.


vom 13.03.20.



Die Kommandobrücke verkündet:
Da bisherige Maßnahmen zum Umgang mit der Uniblockade

-die kleinen Schritte
-das große TROTZDEM, materialisiert in den Versuchen, das Ding in der Psyche als Gegebenheit zu akzeptieren und trotzdem etwas zu machen, egal, wie viele Stunden mentaler Vorbereitung es für zwei semi-ausformulierte Sätze auf dem virtuellen Papier braucht
- strukturierte, geplante und ritualisierte Vorgehensweise (Schaffen eines dezidierten Arbeitsplatzes, einer festen Zeit, mit und ohne Musik verschiedenster Genres, Zeitplan kurz- mittel und langfristig, Schreibübungen und unzählige Entwürfe, Planungen, Vorgehensbeschreibungen, mentales Manifestieren des großartigen Gefühls, wenn der Scheiß endlich geschafft ist)
- niederschwellige Ansätze (Bücher und Laptop neben dem Bett, ein Satz pro Tag reicht und der Tag hat 24 Stunden, es ist also egal, wann der niedergeschrieben wird)
-einfach machen
- und ähnliches
bisher von ausgesprochen geringem Erfolg waren,
dabei aber vermutlich ebenso viel Zeit, Nerven und Energie gekostet haben (und noch kosten), wie es die ursprünglich aus Zeit-, Energie- und Nervengründen verschobene Option der Ursachensuche und anschließenden Auflösung der unliebsamen Partei getan hätte,
wird die Route neu berechnet.
Zum bisherigen Zeitpunkt ist noch unklar, ob die Wahrheit nicht irgendwo dazwischen liegt, weshalb die testweise Kursänderung regelmäßig evauliert und der vorherige Koordinatensatz als Backup gesichert wird.


Eine Sondertagung unter der Leitung
- der IG HD-TV (Handlungsmaßnahmen Durchführen, Totalschaden Vermeiden)
-des aus ihr hervorgegangene Vereins F.u.C.K..t.h.i.S. (Freunde unkonventioneller Coping-Skills im Kampf gegen traumaverwurzelte hochgradig irritierende Selbstsabotage)
-und der IG Biere (Belastende Identitätserbstücke radikal entsorgen)
wird alsbald mit der Diskussion der weiteren Vorgehensweise und der Erstellung eines entsprechenden Konzepts beginnen.
Einladungen ergingen an alle wichtigen hirneigenen Institutionen - und auch an die unwichtigen, man kann ja nie wissen.
Zudem wurden mit Rundumvorhängen ausgestattete Planschbecken aufgestellt, um im Falle spontaner Besuche aus dem namenlosen Nebel adäquate Aufenthaltsmöglichkeiten gemäß der landestypischen Präferenzen (knapp unter der Oberfläche des Hirnsumpfs, selten als Schemen sicht-, ihre Anwesenheit aber umso intensiver fühlbar) anbieten zu können.


Themen der geplanten Vorträge und Workshops sind unter anderem:
- Wenn der aktuelle Scheiß komplett unbeeindruckt davon ist, dass man schon ganz anderen überstanden hat: Was, wenn die Krise sich deshalb nicht bewältigen lässt, weil es gar keine ist?
Vortrag von G.Dankenexperiment, basierend auf dessen Dissertation "Das Leben als Frühstückssandwich und das Selbst als Erdnussbutter. Über Wandlungsprozesse, Übergangszustände, Dazwischen-Sein und ausgewogene Mahlzeiten".

- Wie haben die das früher eigentlich gemacht? Grundkurs Psychoarchäologie.
Workshop, in dessen Rahmen die Teilnehmenden die Gelegenheit bekommen, eigene kleine Ausgrabungen vorzunehmen, um verschüttete Persönlichkeitsmerkmale, Selbst- und Fremddefinitionen, vor allem aber frühere Eigenheiten oder/und Symptome freizulegen


- Idiosynkrasie oder Idiotie? Sammlungsorganisation für Psychoarchäologen.
Auf dem Grundkurs aufbauender Workshop, in dem die Prüfung der Funde hinsichtlich ihrer Tauglichkeit als Bewältigungsstrategie oder/und Kampfstoff für den aktuellen Anlass sowie die fachgerechte Aufbewahrung jener Funde, die nicht in diese Kategorie fallen, erarbeitet werden

- Die Bretter vorm Kopf und die, die die Welt bedeuten: Dramenanalytische und literaturwissenschaftliche Verfahren als Mittel zur Annäherung an jene Realitäten, die sich nur durch Verfremdung greifen lassen
Vortrag von Dr.Anne T. Fiction, Dozentin der Tumbleweed School for Actors and Dissociation Artists

- Seek and Destroy: Wege ins Unterbewusstsein zur Ursachensuche und anschließenden Beseitigung des aktuellen Notstands
Diskussionskreis unter der Leitung der gnadenlos optimistischen Kommandobrücke.

- Chaos regiert: Bild, Ton und Sprache als Quellen der Inspiration, Erleuchtung oder vielleicht wenigstens der heilsam-verstörenden temporären Katharsis.
Prof.Dr.Gap Ginnunga, kulturwissenschaftliche Chaosforscherin und Autorin der ständig erweiterten Bestseller-Anthologie "Ist von Trier zu stark, bist du zu schwach - ungewöhnliche Kraftorte der Lebensphilosophie" (aktueller Stand: C wie Cioran bis R wie Rasputin).

Bei einer ausreichenden Anzahl an interessierten Teilnehmern können folgende Kurse fakultativ belegt werden:
- It's not a bug, it's a feature - philosophische Psychoarchäologie.
Zusätzliche Übung zum Aufbaukurs, die sich Interpretationsmöglichkeiten der Gestalt und Eigenschaften gefundener Artefakte widmet.

- Konstruktiver Mottentanz : Selbstmanagement für Affektmenschen, Extrempersonen und andere Zerstörungswütige.
Vortrag von A.M.Piekłowa, Gärtnerin am Baudelaire-Institut und Primaballerina im Dante-Ensemble.

- "Wir sollten das alles hier nehmen und ein Buch daraus machen, oder wenigstens eine Novelle; das ist voll die gute Story, so mit Symbolen und so."
Diskussionskreis, den sich das zwanzigjährige Ich wünscht. Da der interne Generationenvertrag es vorsieht, sich selbst eine gute Mutter-Vater-Kind-Personalunion zu sein, hat sich die restliche Kommandobrücke entschieden, den Vorschlag in das fakultative Programm mit aufzunehmen. So sollen die jüngeren Mitglieder lernen, dass sie wahr- und ernst genommen werden, selbst, wenn Entscheidungen und Ansichten vom Rest der Familie nicht geteilt werden.

- Der Teufel steckt im Projezierten - Idealisieren und Dämonisieren mit gezielten Realitätsschellen effektiv ausknocken. Mit einem Praxisteil und anschließender Tiefenentspannung.
Unter professioneller Anleitung* erlernen die Teilnehmenden Techniken, um sich selbst oder andere von fehlgeleiteten Vorstellungen zu befreien und so die Entstehung tragfähiger, konstruktiver und unter Umständen angenehmer Realitäten zu begünstigen.

Die Teilnahme ist unabhängig vom bisherigen Erfahrungsgrad und sportlichen Fähigkeiten möglich; der Kursleiter* möchte betonen, dass keine Vorkenntnisse notwendig sind. Die Übungen werden in verschiedenen Varianten für Anfänger, Mittelstufe und Profis gezeigt und können an das eigene Level angepasst werden. Modifikationen und Pausen sind jederzeit möglich.

*Kursleiter Bruce Sylvester Terminatóre ist zertifizierter Weltenzerstörer, Personal Trainer und amtierender Champion der internationalen Ohrfeigenmeisterschaften. In seiner Freizeit stemmt er und häkelt Babymützchen.




Montag, 16. März 2020
Neben Faulheit, Weltfremdheit, angeborener Andersartigkeit (abwechselnd hochgelobt und verdammt), chronischer Ausredensucherei und ständigem Lügen, Egoismus, Unfähigkeit in so ziemlich allen Belangen des Alltags, Weinerlichkeit und übertriebener Sensibilität, übermäßiger Emotionalität, altkluger Aufmüpfigkeit und genereller Maßlosigkeit warf mir meine Mutter gerne auch Arroganz vor.
Und weil spontane Erleuchtungsmomente ebenso wie tiefschürfende Lebensweisheiten bevorzugt dann auftauchen, wenn man weder nach ihnen sucht, noch mit ihnen rechnet, liefert von Trier einen Beweis dafür, dass sie in diesem Punkt wohl Recht hatte - wenn auch nicht so, wie ihr zersetzer Verstand es eigentlich meinte.



"Grace: (...)I'm arrogant because I forgive people?

Ihr Vater: (...)You have this preconceived notion (...) that nobody could possibly attain the same high ethical standards as you, so you exonerate them.
I can not think of anything more arrogant than that.
You forgive others with excuses that you would never in the world permit for yourself.
(...)
Grace: The people who live here are doing their best under very hard circumstances!

Ihr Vater: If you say so, Grace. But is their best really good enough? Do they love you?
(...) "
(Aus: Von Tier, Lars: Dogville, neuntes Kapitel)


Und wenn wir schon dabei sind:

Die eine heiratet einen Mann, mit dem sie nur aus Feigheit zusammen gekommen war (weil man nicht so früh schon wieder Schluss macht, weil man nach so langer Zeit nicht Schluss macht - beständige Fremdfickerei und Geschimpfe über ihn ist anscheinend weniger verwerflich), legt sich versehentlich ein Kind zu, ohne den Unterschied zwischen einer Persönlichkeitsverlängerung und einem eigenständigen Wesen so recht zu raffen, eskaliert fröhlich unglücklich vor sich hin und krepiert schließlich an den körperlichen Folgen des jahrzehntelangen Alkoholismus -
der natürlich eine gemeine Verschwörungstheorie der bösen Anderen war, schließlich war sie nie richtig besoffen und hat nur Bier und Sekt getrunken, im Gegensatz zu der blöden Schlampe, die den besten Freund Papa Mayhems (den man eigentlich hatte haben wollen) geheiratet hat. Die dumme Kuh hatte doch tatsächlich die Dreistigkeit, nach einem ersten Anlauf wieder rückfällig zu werden und sich dann auch noch von Papa Mayhem helfen zu lassen!


Die andere ist Chefchirurgin in einer vor etwa 13 Jahren begonnenen Not-OP am offenen Herzen.
Seziert, amputiert, nekrotisiert, verödet die Erblast, um den Fluch zu annihilieren.
Eine unerhörte Fallstudie, ein monumentales Experiment, Determinismus gegen Willensfreiheit.
Kann ein Mensch sich selbst überwinden, wenn das Selbst in seinen Grundfesten verseucht ist?
Ihre Werte.
Ihre Regeln.
Ihre Naturgesetze.
Gelernt, was die Welt ist, wie die Welt ist, und wie sie funktioniert - von ihr.
Gelernt, was das Ich ist, wie es ist, wie es sein sollte und wie es niemals sein kann- auch von ihr.
Die Gebote der heiligen Mutter Mayhem, charismatische Frau, großartige Schauspielerin, Chefgespenst der Geisterachterbahn, in ihren Heimsuchungsbestrebungen,

wenn wir also schon dabei sind,

aber ein
winziges
Detail
vergessend:

Sie ist tot, ich lebe.

Um ihr den Gefallen zu tun, stelle ich mal das Ego hinten an und schaue auf sie.
Lege die Arroganz ab, löse mich von meinem ewig entschuldigenden Verzeihertum und wende genau die gleichen Maßstäbe, die ich für mich geltend mache, auch auf sie an.
Was bleibt?

Ein projezierender Haufen Menschenmüll, der vielleicht nichts für seine miesen Ausgangsbedingungen konnte, wohl aber für den Umgang damit und die dominoartige Kettenreaktion in den Untergang.
Ihren, nicht meinen.
Sie ist tot, ich lebe.
Der vielleicht nichts für seine schwachen Momente konnte, aber auch nicht dafür kämpfte, irgendwann mal wieder einen starken zu haben.
Lieber zwanzig Jahre Schuldzuweisungen, Hass und Selbstbetrug als auch nur eine Minute Reflektion. Lieber Bier trinken, Geschichten erzählen und die Beschissenheit aller und alles anderen betonen.
Die Umstände, die Menschen, die Welt, alle verblödet und beschissen und abgrundtief böse - lieber das, als auch nur in Erwägung zu ziehen, dass es da Dinge gibt, an denen man arbeiten könnte.
Lieber von besseren Zeiten träumen als auch nur einen Finger dafür zu krümmen, dass sie anfangen.
Scheiß auf Kollateralschäden, mit sowas halten sich nur die Anfänger auf - Profis zerstören Leben!


Wenn ich das gleiche Maß anlege, mit dem ich mich selbst messe, haben die mildernden Umstände aufgrund der Ausgangslage in Anbetracht der restlichen Anklagepunkte keine Auswirkungen aufs Urteil.
Schuldig, keine Gnade, keine Vergebung.
Vollstreckung des Urteils aus technischen Gründen entweder nicht mehr möglich oder, im Falle dieses vorhanden sein sollte, auf die nächste Begegnung im Jenseits verschoben.

Eigentlich aber auch dann nicht mehr notwendig.
Nehmen wir an, es gebe ein Jenseits - klassisch christliches Modell, eine andere Weltebene, von der aus die Verstorbenen zu den Lebenden schauen.
In diesem Fall befindet sich die Verurteilte bereits im Vollzug der Höchstrafe.

Sie ist tot und ich werde einmal ein Leben haben.
Verbanne sie in die Vergangenheit. Vergesse sie.
Zeige ihr jeden Tag, dass sie eine Wahl gehabt hätte.

Und das, mein imaginäres Publikum, ist die höchste Grausamkeit, die gerechteste Strafe, die nachhaltigste Rache und der größte Mittelfingerzeig, den man Arschlochmenschen angedeihen lassen kann.




Dienstag, 10. März 2020
...und auch nicht bei den Hunger Games.

Der Souffleur ist konventionell attraktiv und quasi Frischfleisch im Theaterdunstkreis, dementsprechend gravierend sind die Auswirkungen - oooohs und aaaaahs, sobald man ihn Bühenelemente heben sieht, und noch nie waren so viele Frauen plötzlich Gelegenheitsraucherinnen oder mit der Planung ihres ersten Tattoos beschäftigt.
Auch sämtliche "Ich könnte ja niemals was mit einem jüngeren Mann haben"-Vorsätze scheinen über Bord geworfen, und so hat sich mittlerweile eine semi-permeable Mauer aus verzückten zwanzig- bis dreißigjährigen Damen entwickelt, durch die man sich erst mal durchkämpfen muss, wenn man ihm mitteilen will, er möge heute bitte in einer anderen Ecke sitzen, wir wollen da noch jemanden für Fotos unterbringen.

Interessanterweise nehme ich mich aus dem ganzen Geschwärme und Gezanke heraus und scheine es damit nur mehr anzufeuern. Je weniger ich mich beteilige, desto härtere Geschütze fahren die anderen Frauen auf.
Wenn ich neben dem Souffleur sitze, sitze ich neben dem Souffleur; wenn nicht, dann eben nicht.
Wenn er gerade rauchen geht, wenn ich dampfe, ok, aber ich warte nicht extra - ist eh noch nicht sicher, ob der einfach nur unsicher-überlastet oder doch ruppigdorfkinddoof ist.
Er macht irgendeinen uralten Pubertärwitz? Sage ich ihm.
Blöder Spruch über irgendwas Normabweichendes, was er nicht kennt? Konstruktivitätsschelle zum Mitnehmen.
Geht, ohne sich zu verabschieden? Ok, spare ich mir beim nächsten Mal die Begrüßung.

Männer (oder Frauen) sind keine Siegertrophäe am Ende eines langen, anspruchs- und leidvollen Wettbewerbs, in dessen Verlauf man zeigt, was für ein grandioser Übermensch man ist und die Konkurrenz ausschaltet, koste es, was es wolle.
Es gibt nen ganzen Haufen von denen, und entweder taugen sie was oder eben nicht. Sinnvollerweise findet man das raus, bevor man sich Pfeil und Bogen schnappt, um sie zu erobern.

Meine Psyche macht weiter mit diesem seltsamen Ding, bei dem wir uniblockiert sind, aber in allen anderen Bereichen des Lebens beinahe exponentielles Wachstum hinlegen. Als hätte sie die ganzen Jahre zugehört, gewartet, beobachtet, um jetzt loszusprinten; nicht wie ein Gepard, sondern wie ein verdammter Wanderfalke im Sturzflug nach oben.
Mit Raketenantrieb.

Und natürlich bin ich unsicher, natürlich ist da zwischendurch Frust, Verlust- und Versagensangst ohne irgendwas, das es zu verlieren gäbe oder irgendwas, wobei ich versagen könnte.
Wenn die zwanzigjährige Pissgelb-Jaqueline gaaaaaanz dringend Hilfe mit ihrem Kleid braucht und ihn danach in eine Unterhaltung über ihre gemeinsame Zuneigung zur Ghettosaufpartymusik verwickelt.
Oder die dreißigjährige schlechtrotgefärbte Wonderbra-Waldtraud demonstrieren muss, WIE chillig, WIE pflegeleicht, kumpelhaft, gnadenlos versaut, trinkfest und ÜBERHAUPT-NICHT-WIE-DIE-GANZEN-ANDEREN-WEIBER sie doch ist. Alles anstrengende Tussis, aber sie nicht, neee, sie ist schon immer besser mit Männern klar gekommen (die sehen das meistens anders, aber das ist ein unwichtiges Detail), und überhaupt, sie spielt Flöte, das zeigt, dass sie voll gut blasen kann, höhöhöhö.
Und sie hat ja mal vor zehn Jahren auf einer Weihnachtsfeier mit ihrer Arbeitskollegin rumgemacht, das war voll cool, also, außer, wenn jemand der Zuhörer das nicht cool findet, dann war es nicht cool, sondern eine ganz miese Nummer ihrer bösen Arbeitskollegin, die sie abgefüllt hat, jawohl.
Die natürliche Heimwegreihenfolge wäre Souffleur-Auto ->meine WG, aber Waldtraud geht natürlich gerne einen Umweg zu ihrem Auto, um noch ein Stückchen mit uns zu laufen und uns anzubieten, uns zu unseren jeweiligen Zielen zu fahren.
Unterwegs erzählt sie, was für ein famoses Musiktalent der Souffleur bewiesen hat, als er mit seiner Familienband ein Dorffest beschallt hat, sie hat sich das auf Youtube angeschaut (Jo, ein aus vier Akkorden bestehendes Lied im 4/4-Takt mit dem Bass zu begleiten ist schon eine echte Herausforderung), dass sie seine Tattoos ja soooo toll findet, und dass er nach der letzten Aufführung gerne bei ihr schlafen kann.
Dann fährt sie ihn die ca. 200m zu seinem Auto, was er anscheinend gerne in Anspruch nimmt.
Das Angebot, mich ebenfalls zu meiner WG zu fahren, lehne ich ab und mache einen kleinen Spaziergang draus, allein durch die riesige, erhabene, wunderschöne schlafende Stadt, die meine ist.

Natürlich war da Aggression.
Natürlich ist da Traurigkeit.
Aber ich kann einfach mal damit umgehen.
Natürlich will irgendwas in meiner Psyche Geisterbahn fahren.
Ich aber nicht, also lassen wir das.

Die seltsame alte Frau in meinem Kopf, die Bibliothekarin, die hier inventarisiert und irgendwann vielleicht mal sortiert und ausmistet, hat sich das so angeschaut, über den Rand ihrer dreieckigen Brille hinweg. Dann hat sie sich am Kopf gekratzt, ihren weißen Dutt zurecht und die Katze vom Schreibtisch geschoben, in ein paar Kisten, die da rumstehen, gewühlt und dort ein paar Brösel vom Selbst gefunden.
Ein bisschen -sicherheit, ein bisschen -wert, ein bisschen Ego.
Sie hat sie auf die Kommandobrücke gebracht und da sitzen wir jetzt, wärmen uns die Hände an ihnen, mit hochgezogener Braue das Geschehen beobachtend, dampfend (ich regulär, sie eine E-Pfeife, das passt besser zu ihrem Stil, sagt sie), dann und wann nicken wir uns wissend zu und der Kompass richtet sich gen Klarkommen aus.

Ziemlich geiler Scheiß, ehrlich gesagt.




Freitag, 6. März 2020
Das Leben scheint sich ein Beispiel an meinem Dickschädel zu nehmen.
Oder an meinem Humor.
In jedem Fall produziert es gerade eine ganz erstaunliche Menge an Phänomenen, die ich noch nicht klar als Wunder, Skurrilität, oder Vorboten der nächsten Runde auf der Geisterachterbahn einordnen kann.

Angstblockade in allen Uni- und Alltagsbereichen, Genialitätsanfälle im Freundeskreis (nach wie vor noch nicht vergrault) sowie vor und auf der tatsächlichen Theaterbühne.
Therapiefortschritte, Ernährungsfortschritte und die Unfähigkeit, das als Erfolge zu wertschätzen, weil die Unibaustelle wichtiger ist und ich dort (gefühlt, die Therapeutin sagt, ich soll mich nicht dauernd selbst fertig machen) versage. Oder das Versagen droht, und ich aus meiner beschissenen Selbstsabotage anscheinend doch nicht rauskomme.
(Oder Angst habe, sie nicht früh genug/lange genug ruhig stellen zu können. Empfinde es als relativ entmutigend, dass die dumme Sau gerade jetzt wieder auf den Plan tritt, wenn ich sie am wenigsten gebrauchen kann.)

Jemanden kennen gelernt, der zu denken scheint, dass er mich mögen könnte.
Der Cousin einer Schauspielkollegin wurde zum Souffleur ernannt, und dieser Souffleur scheint irgendwas besonderes an mir zu sehen.
Sitzt da so rum und macht sein Ding, schaut dabei aber immer mal wieder nach mir. Ob es mir gut geht.
Ob er seine Sache richtig macht.
Ob er nach der Arbeit vorbeifahren und mich einsammeln soll, damit ich nicht zum Aufführungsort pendeln muss. Und dass er mich danach auch heimfahren kann.
Dass er mir gerne nen Kaffee oder was zu Essen mitbringt, als Schauspieler vergesse man sowas bestimmt manchmal?
Wie es meinen Katzen geht.

Ich pendle zwischen Faszination und Fluchtreflex.
Faszination am Anfang, die ersten paar Male, als er da plötzlich rumgestanden hat.
Fluchtreflex, seit er vorsichtig meine Nähe sucht.
Nicht aufdringlich, nicht schmierig-gruselig-eklig, stets mir die Entscheidung überlassend, wie viel ich gerade ertrage.
Eskalation auf der Kommandobrücke - Houston, wir sind getriggert.

Der Souffleur taugt nicht zum Idealbild, was prinzipiell eine gute Sache ist. Scheiß auf die Vergötterung; ein Lob der Realität, der tragfähigen.
Er ist ein paar Jahre jünger als ich und vielleicht so ein bisschen Dorfkind, wobei noch unklar ist, ob er das ist oder seine Unsicherheit. Die Nervosität, das Gefühl, besonders cool, besonders witzig, besonders sein zu müssen.
Kommt skurrilerweise nicht aus meinem Hirn, sondern aus seinem.
(Ein Lob dem Therapiefortschritt.)
Dabei spart er sich das Idealisieren oder Dämonisieren, weil das Kennenlernen anscheinend schon spannend genug für ihn ist.
Er gibt sich Mühe, aber es hat nicht den Anschein, dass er das mit einer bestimmten Agenda tut - kein manipulieren, kein hinarbeiten auf irgendeine Idealvorstellung eines Postens, den ich besetzen soll.
Nope, der macht das einfach so. Als wäre ihm was dran gelegen, Zeit mit mir zu verbringen und zu schauen, wer ich eigentlich bin.
Verstörend.

Er hat nach meiner Nummer gefragt und ob wir nach den Aufführungen, wenn wir beide mehr Zeit haben, mal was machen wollen, Gruftkeller oder so.
"Du hörst das doch gar nicht, fühlst du dich dann nicht unwohl?"
- "Das eine Mal werd' ich schon überleben. Dir gefällt's da, oder?"
"Geht schon. Ist auch meistens mein Vorschlag für Leute, denen ich die Konzerte nicht antun will, die ich sonst besuche.
Ist aber trotzdem komplett andere Ecke und ich möchte nicht, dass du dich da irgendwie verpflichtet fühlst, wir können echt auch wo anders hin."
-"Das weiß ich auch, dass man bei euch in der Stadt immer wo anders hin kann. Aber deine schräge Musik gehört halt zu dir dazu, und wenn das dein Schuppen is', zieh ich mir das eben rein."

Sollte ich dem Unterfangen zustimmen (und er nach wie vor ebenfalls), werde ich also in naher Zukunft mit dem Souffleur im Schlepptau tanzen gehen.
Weil er, silberkettchentragend, mit schlechten Tattoos dekoriert und gefühlt aus dem Ghetto heraufbeschworen, beschlossen hat, dass er mich, festivalbändchentragend, mit ziemlich grandiosen Tattoos dekoriert und vermutlich aus irgendeinem Sumpf gekrochen, kennen lernen und sich dabei nach mir richten möchte.

Und weil ich es mittlerweile hinkriege, beim Männer-/Frauen-TÜV zwischen "Das brauche ich" und "das möchte ich" zu unterscheiden.