Sonntag, 3. Mai 2020
Die Vatersfreundin schreibt.
Das tut sie in letzter Zeit öfter; meistens ein Wechselbad der Gefühle.
Weil sie mit Geld, das sie nicht hat, nämlich dem Papa Mayhems (das er auch eigentlich nicht hat) Dinge kauft, die kein Mensch braucht, sondern die halt irgendwie hübsch aussehen. Buddha auf Bauernschränkchen an Häkeldeckchen mit Glitzersteinchen an Enkelkinderbildchen neben Klangschale und Homöopathie-Bibel. Zunächst skurril, dann Gedanken zurück an ihre Wohnung, die sie vor einer Weile aufgegeben hat ("Niemals ziehe ich nach Mayhemsdorf!!") und die so grotesk vollgestopft mit Dekokram war, die Messi-Level der Mutter Mayhem haben einen würdigen Gegner gefunden. Nur mit mehr Glitzer.
Weil ich ihr Geschrei in den Ohren habe, seit fast zehn Jahren, dieses nicht mehr ganz menschliche, abgründige Geschrei, ich, Drecksmensch, der ihr aus den Augen gehen soll, ich, der undankbarer Fluch von Tochter, ich, die ich alles und jeden vertreibe und verjage (letzteres liebevollerweise angebracht auf dem Weg zum Sonntagsbereitschaftspsychologen, nachdem ich aufgrund akuter Nichtmehrsorge zu einer Freundin geflüchtet, deren Mutter meinen Vater angerufen und dieser, mitsamt Freundin, mich eingesammelt hat. Zuvor die Anklage, was mir einfalle, fremden Leuten zu erzählen, was mein Kopf anstellt. Was sollen die denn von uns denken. Akutauslöser war Mr.Gaunt, die zugrunde liegende Situation Geisterachterbahn, Hirnsumpf, alles. Mit 14 hatte ich zum ersten Mal darum gebeten, einen Psychologen sehen zu dürfen. "Sowas brauchst du nicht, arbeit' mehr im Haushalt und mach was, dann geht's dir auch besser". Der Herr, vor dem ich mit 19 oder 20 saß, hat das anders gesehen. Die diversen Damen und Herren, die danach in meinen Kopf geschaut oder es versucht haben, auch).

Weil ich unendliche Genugtuung dabei verspüre, ihr beim Auseinanderfallen zuzusehen, während sie von allem, was sie so schön wegschreien und wegignorieren wollte, zerfressen wird und immer wieder unbarmherzig von Wahnsinn und Elend untergetaucht wird, egal, was sie sich einredet oder kauft, jetzt, wo sie es nur noch unzureichend an mir auslassen kann und neonröhrenbeleuchtet die Tatsache, dass ich mit allem Recht hatte, mit Faustschlägen um sich wirft.
Ein ehrliches Selbstbild ist das schmerzhafteste und nützlichste Werkzeug, das man sich zulegen kann. Danach kommt noch mehr Schmerz, und ganz viel Scheitern, und gelegentlich Großartigkeit.
Ihr ist nichts davon vergönnt, weil sie schon am ersten Schritt scheitert.
Ich krieche mit wehenden Fahnen in ein Leben, das es wert ist, so genannt zu werden.
Ihres wird nur noch von Papa Mayhem und seiner unendlichen Treue, Liebe und stoischen Gelassenheit zusammen gehalten.
Armutszeugnis.


Heute schreibt sie, weil das Dorf wieder tratscht.
Das tut es öfter; meistens ein Wechselbad der Gefühle.
Einerseits erfahre ich zuverlässig, welche(r) der tollen, schönen, vielversprechenden Mitschüler(innen) von damals sein/ihr Leben mal wieder an die Wand gefahren hat und jetzt langsam Probleme kriegt, weil die Eltern doch, ganz kurz, für fünf Minuten, überlegen, ob sie erneut zur Rettung einschreiten wollen (sie entscheiden sich prinzipiell immer dafür). Oder weil der Typ/die Frau, der/die kein Beziehungsmaterial sondern eine Farce war, plötzlich weg ist aber das entstandene Kind/die Wohnung/die Schulden/der Scherbenhaufen halt noch da.
Oder das supertolle Traumleben hat sich als gammeliger Schoko-Osterhase entpuppt, leer und irgendwie eklig.

Andererseits erfahre ich, wer sich mal wieder was zusammen spinnt, auch nach 13 Jahren.
Wer auf einmal stirbt, vorhergesehen oder nicht.

Heute erfahre ich, dass das Dorf eine neue Episode intrigante Kackscheiße spielt.
Die üblichen Verdächtigen, erwachsene Männer, die sich anscheinend für die manipulativen High School Queens eines 90er Jahre Teeniefilms halten oder für die wahren Desperate Housewives (ich hab das nie gesehen, aber wenn die Serie ihrem Titel gerecht wird, könnten sie für neue Folgen auch einfach in Mayhemsdorf drehen).
Ein paar Tratschweiber mit dazu, die, so banal es klingt, einfach nichts besseres zu tun haben und auf Verbalfolter angewiesen sind, weil sie sich sonst mit sich selbst und ihrem verpfuschten Leben auseinandersetzen müssten, und mal ehrlich, wer will das schon?

Verdrehen wir, uns und die Welt, schimpfen wir, tratschen wir, manipulieren und sticheln wir, zelebrieren wir ein Schauspiel, in dem es keine Kunst und keine Realität gibt, unerbittlich, mit Zähnen und Klauen, manisch, immer im Kreis, du willst doch nicht, dass irgendwo jemand rumsteht, nichts zu tun hat und auf einmal anfängt, zu denken?

Lassen wir das lieber. Schauen wir auf das, was wir für die Anderen halten. Geben wir uns der Illusion hin, stellen wir selbstgebastelte Menschensbilder auf den Sockel oder werfen sie in den Abgrund, Obsession über alles,scheiß auf Differenziertheit, Realität oder Menschlichkeit, das sind große Worte noch größerer Idioten, verkenne die anderen, damit du dich nicht versehentlich selbst erkennst.

Rase weiter auf der Stelle durch deinen Stillstand, aberwitzig, so verblödet, dass das Leben selbst sich angeekelt abzuwenden scheint, Ziel erreicht, das Aufgehen in der Illusion, endlich macht die Welt Platz für das, was man sich an ihrer Stelle zusammengezimmert hat, und es ist überzeugend genug, um umso schockierter zu sein, wenn der Zufall es schafft, das Leben zu einem Besuch einzuladen.
Meistens schickt es jemanden vor, weil es keine Lust hat, sich das Elend schon wieder anzutun, ein Kind oder eine entfernte Großtante, und entweder verprügeln sie die Illusion oder werden von deren Besitzern verprügelt.

Es bleibt: der temporäre Hohlfrieden.

Es bleibt auch: das Wissen um seine fragile Konstruktion.

Das Leben hat Zeit. Äonen.
Die nimmt es sich auch. Und holt auf.
Unerbittlich wie die Naturgewalten selbst.
Mit dem Aufprall kommt die Höllenfahrt.
Bitter, wenn einem vor lauter Selbstbetrugstanzwut so schwindlig ist, dass man den Ausgang nicht mehr findet.




Dienstag, 28. April 2020
Der gordische Hirnknoten scheint gelöst, ich sichte Quellen und mache Hausaufgaben UND TRAUE DEM TEILFRIEDEN NICHT, während die Knotenüberreste verwirrt und versifft rumliegen und keiner weiß, ob sie sich wieder zusammenrotten oder doch auflösen werden.

Die Hausaufgaben sind zu viel, die Quellen zu wenig und es ist ein Kampf mit ungewissem Ausgang; die äußere Lage unverändert und immer noch alles zu viel und am Rand des Unmöglichen.
Aber: nur am Rand. Da sind noch eineinhalb Millimeter Abstand und das ist genug - wer braucht schon Lichtblicke?
Die menschliche Psyche stellt manchmal die tollsten Sachen an und das Gehirn ist eine Wunderkammer.

Ein Stapel Bücher auf meinem Schreibtisch, ich pflüge wie eine sehr langsame, aber sehr sture Schildkröte durch mit einer gnadenlosen Zielorientiertheit, die mich selbst erstaunt in ihrer Unerschütterlichkeit.
Eines taugt nichts, ein weiteres taugt nichts, und ein weiteres und fünf und zehn und zwanzig.
Planänderung folgt auf Planänderung, ich sortiere und sichte und führe Buch über Bücher.
Übersicht aller genannten Primärtexte in der Sekundärliteratur, Gesamtanzahl der Nennungen, Unterteilung :Allgemeines - mögliche Verbindung zum vorgegebenen Themenkomplex - ggf anderweitig nutzbar - Bullshit.
Weitere Kreuzchen für kurze Nennungen und längere Besprechungen und alles dazwischen, um hoffentlich irgendwann mal zu einer Themeneingrenzung und Fragestellung zu kommen; am besten schon gestern, oder vor einer Woche oder vor vier.

Klappt natürlich nicht, viele Ideen und keine durchführbar, der Kopfkrieg wächst und gedeiht und wir schreien uns gegenseitig an, dass wir verdammtnocheins die Fresse halten sollen und werfen uns gegenseitig vor, dass wir irrationale Scheiße von uns geben.
13 Jahre Mutter Mayhem haben mich auf sowas vorbereitet, deshalb kann ich den Kopfkrieg schreien und schimpfen und manipulieren und verletzen lassen, wie er eben gerade will und mache meine Sachen schlicht und ergreifend trotzdem.
Weiß immer noch nicht, wie ich die Bachelorarbeit und den Rest (die innere Kontrollinstanz möchte nachhaltig panisch darauf hinweisen, dass es den ganzen Rest auch noch gibt und ich den ganz schlimm vernachlässige, obwohl wir gemeinsam eine Prioritätenliste gemacht haben und die Themeneingrenzung momentan auf Platz 1 ist) schaffen soll.
Dafür aber, dass ich sie schaffen werde; ohne überzeugende Beweisgrundlage, dennoch unerschütterlich.
Wirklichkeit entsteht aus Unwahrscheinlichkeiten, die eintreten.





Die Therapeutin liegt im Krankenhaus.
Sie hielt sich an Abstandsmaßnahmen, andere halt nicht, und dann sind über Kontaktpersonen von Kontaktpersonen auf einmal Leute krank und leiden vor sich hin.
In unserer letzten Sitzung hat sie sich für ihre Verspätung entschuldigt, Atemprobleme sollte man abklären lassen, sicherheitshalber Arzttermin gehabt, es sei aber anscheinend alles ok und dementsprechend würde das wohl bald wieder vorbei gehen.
Sie ist relativ jung, keine Risikogruppe und hat eine Familie.
Außerdem siecht sie jetzt, vermutlich auf einer Intensivstation, vor sich hin und es scheint dramatisch genug, um gestern einen Anruf der Praxisleitung bei mir zu veranlassen, in dem ich gefragt werde, ob ich, "wenn es die Umstände erfordern", meine Therapie bei jemand anderem fortsetzen würde/könnte, mehrfach mit Nachdruck auf Krisentelefone hingewiesen und versichert wird, meine Grüße würden ausgerichtet, falls sie wieder ansprechbar wird.
Nicht wenn, sondern falls.
Das ist ein Unterschied.
Wenn es kein sprachliches Versehen war, ein gravierender.

Den restlichen Tag frisst der, durch vortägige Überproduktivität (Hirnsumpf: haha, als ob drei oder vier Stunden produktiv wären!) wohl begünstigte, Überlastungszustand, weil ich es ihm erlaube.
Keine Krisenanrufe, keine Panikattacken und kein Weinen; stattdessen einfach vor sich hin existieren, nebenher eine Hausaufgabe erledigen, mit anderem Eingrenzungsfokus nochmal Quellen suchen (natürlich wieder nicht erfolgreich).
Der Kopfkrieg sagt, das ist nicht genug, ich erkläre ihm, dass jede Diskussion eine Energieverschwendung ist und er deshalb jetzt einfach ignoriert wird.

Telefonat mit Dory, die Probleme anderer zu bearbeiten lenkt manchmal effizient von meinen eigenen ab und solche Pausen brauche ich.
Gemeinsames Fernfeierabendbier zwischen positiver Belanglosigkeit und Gesprächstherapie, nichts davon fühlt sich erzwungen oder nach Arbeit an; wundervoll.
Ich bin stolz auf sie, weil sie Dinge mit etwas Unterstützung sehr schnell erkennen und umsetzen kann, sie ist stolz auf mich, weil die Erkenntnisse über Jahre erkämpft sind aus Erfahrungen, Therapie und Trauma.
Ich teile meine Weltuntergangsroutine und Krisennahkampferfahrung, sie ihre Normalität, wir halten uns vom wahnsinnig werden ab und einander über Wasser.
Zwischendurch Zimmerpflanzengespräche und ein paar Witze über den nicht vorhandenen Musikgeschmack der jeweils anderen.
Es könnte schlimmer sein.




Freitag, 17. April 2020
Thema: gefunden.
An düster ragenden Häuserwällen
Durch flammenbesäte steinerne Schlucht
Branden die rasselnden Wagen, die Menschen /
Wie Wellen in klippiger Meeresbucht.
Der rote Vollmond taucht empor.

Die Menge wühlt und drängt und stößt;
Jedweden kümmert nur seine Not /
Wie auf dem Deck des lecken Schiffes,
Das in den Tod zu sinken droht.
Der rote Mond schaut düster drein.

Auf glattem Bürgersteige kauert /
Gleichwie am Felsenriff das Wrack /
Ein Mann mit vorgesunknem Kopfe,
Zur Seite einen Lumpensack.
Der Vollmond blickt mit düstrer Glut.

Die Leute auf dem Bürgersteige
Treiben vorbei und blicken kalt;
Die Straßenbahn beglotzt im Rollen
Mit grünem Auge die Gestalt.
Der rote Mond schaut düster drein.

Dort drüben lockt die blutige Flamme
Dem Schnapswirt manchen Gast ins Haus;
Und öffnet sich die Schänke dunstig,
Dringt Schelten und Gejohl heraus. –
Der Vollmond blickt mit düstrer Glut.

Des Handelshauses Fensterreihe
Ist noch vom Gaslicht grell erhellt;
Papier und Pult und blasse Schreiber;
Der Chef durchzählt des Tages Geld.
Der Vollmond blickt mit düstrer Glut.

Nun heult vom Hofe die Maschine
Zur Vesper; da entläßt das Tor
Viel arbeitsmatte Blusenmänner;
Nur der Fabrikschlot stößt empor
Zum roten Monde schwarzen Rauch.

Ein würdiger Bürger kommt geschritten,
Den Lump am Steige trifft sein Blick;
Entrüstet mit dem Kopfe schüttelnd
Geht er zu Bier und Politik /
Und zornrot glüht der volle Mond.

(Wille, Bruno: Straße)




Mittwoch, 8. April 2020
Kurse fallen aus, Prüfungs- und somit auch Verbuchungszeiträume verschieben sich massiv, Bibliotheken sind geschlossen und die nette Dame am anderen Ende der Email-Leitung meint, nee, an der Frist zur Zeugnisvorlage ändert sie nix, wir haben die ja schon mal verschoben.
(Zur Erinnerung: die erste Verschiebung ergab sich, nachdem ich die nette Dame am anderen Ende der Email-Leitung darauf hingewiesen hatte, dass der erste zugeteilte Termin IN DER VORLESUNGSZEIT und somit Wochen, bevor die Verbuchung überhaupt anfängt, liegt).

Ich soll also eine Leistung in einem Kurs, der wahrscheinlich nicht stattfindet, einfahren, auf eine rechtzeitige Verbuchung der fehlenden Hausarbeiten hoffen, eine Themeneingrenzung, darauf aufbauend ein Exposé zur Vorlage bei meinem Betreuer und, je nachdem, wie lange die Bibliotheken geschlossen bleiben, auch die Bachelorarbeit an sich ohne Bücher (und ohne nennenswerte Auswahl an Onlinequellen) schreiben.
Eine wissenschaftliche Arbeit, die, wenn es nach meinem Betreuer geht, 30 oder mehr Titel in der Sekundärliteraturliste haben soll und sich mit noch festzulegenden Einzelaspekten spezieller Phänomene in speziellen deutschen Theaterstücken eines speziellen Autoren beschäftigt.
Weil ja noch Zeit ist und ich doch schon mal eine Verlängerung erbeten hatte.

Der Kopfkrieg der letzten Tage (kein Unikram, kein Yoga, keine ausgewogene Ernährung, kein Haushalt, nichtmal Gesichtsmaske oder Haarkur, dafür Überlastungsprokrastinieren und mentale Selbstzerfleischung) wird von einem großen, hässlichen Heulkrampf weggespült.

Ich will das Schicksal anschreien, was die Scheiße soll; dass ich den Master (Themenbereich, Dozentin, mögliches Praktikum und nebenher ein Angebot, für eine Saison eine Regie-Unterstützung bei einer kleineren Bühne zu übernehmen, die mit ihren Stücken tatsächliches GELD VERDIENT) quasi jetzt schon in der Tasche habe und es ein dramaturgisch genialer, aber auch verdammt mieser Schachzug wäre, da jetzt den Bachelor zu verunmöglichen. Wir sind hier nicht auf der Bühne, ein schlichtes, langweiliges Happy End ist erlaubt und erwünscht.

Dann fällt mir ein, dass es das Schicksal ja gar nicht gibt und die einzige höhere Macht der Zufall ist.
Und die Soft Skills, die sich aus meiner einzigartigen Kombination eines geisteswissenschaftlichen Studiums, schräger Persönlichkeit und des tendenziell unüblichen Lebenslaufes ergeben (und die mich laut Suffausspruch des Thekenzwergin-Mannes zur perfekten Personalerin, Managerin oder Weltherrscherin machen würde, er könne quasi spüren, dass ich der Menschheit Großartiges bringen werde).


Mit dem Selbstwert und der Wertschätzung meiner positiven Persönlichkeitsaspekte habe ich es gerade aber nicht so, also fährt mein Hirn eine Runde Achterbahn und ich lasse mich von mir selbst anschreien (verschenktes Potenzial, Unfähigkeit aufgrund grotesker Faulheit, ich müsse mich ja einfach nur aufraffen, drei oder vier oder mehr Tage nichts produktives gemacht, Selbstsabotage und Unvermögen, etwas dagegen zu tun, obwohl das doch so leicht wäre),
um mich anschließend zurück anzuschreien (JA BITCH ich hab die letzten Tage nichts gemacht, das liegt aber auch daran, dass die ganze Selbstvorwurfmühle und das Kopfchaos mich derart intensiv energiefressend in absolute Überlastung schleudern, dass ich komplett gelähmt bin, hatten wir nicht ausgemacht, dass in meinem Kopf Demokratie herrscht?).
Dann schreibe ich Dory, ob sie gerade Mittagspause hat und telefonieren kann, weil mich die Nachricht der netten Dame am anderen Ende der Email-Leitung gerade wieder zum weinen bringt und das irgendwie raus muss und mir sonst niemand verfügbares einfällt, vor dem ich am Telefon weinen würde.


Dory findet, die nette Dame am anderen Ende der Email-Leitung übertreffe selbst die Leute aus der Höhle des Studienkredit-Satans und fragt, ob das irgendwie ein Wettbewerb ist und was man da gewinnen kann.

Wir rechnen zusammen durch, ob es technisch möglich ist, den Bachelor zu packen, und stellen fest: selbst, wenn ich es schaffen sollte, buchstäblich um mein zukünftiges Leben zu schreiben, hängt alles davon ab, ob die Bibliotheken früh genug wieder öffnen, damit ich das überhaupt tun kann; davon, ob die Verbuchungen früh genug stattfinden und ob sie, entgegen der jahrzehntelangen "Schnecke auf Valium"-Tendenz dabei zumindest in meinem Fall Überschallgeschwindigkeit hinlegen.
Was in etwa so wahrscheinlich ist wie ein Lottogewinn.

"Ich sag das ja echt nicht gerne, aber das ist halt echt schöne Scheiße. Weil es einfach mal krass unwahrscheinlich ist und null in deinen Händen liegt. Ich würd' ja sagen, ich komm' vorbei und wir gehen tanzen oder was trinken, aber nee, so ein Scheißdrecksvirus hat ja beschlossen, er muss jetzt grad rumseuchen. Die Drecksau."
Mittlerweile findet auch Dory die aktuelle Weltkreuzfahrt auf der MS Pandemie nicht mehr so entspannend und angenehm.
Also reden wir über Lähmungs- Überlastungs- und Unvermögensgefühle und deren Bewältigung (ein paar jage ich gleich aus ihrem Kopf, wenn ich schon dabei bin), Selbstzweifel, im Hirnsumpf schwimmende Identitätsfragmente, Geisterachterbahnfahrten, das Ertragen und Aussitzen und das große Trotzdem.
Ich scheine konstruktiv zu sein; Dory weint ein bisschen und sagt, ich sei die beste Freundin, die ihr in fast dreißig Jahren je begegnet ist.
-"Dory, vielleicht ist dein früherer Freundeskreis auch einfach nur genauso suboptimal wie dein Männergeschmack." Manchmal sieht der Glückstreffer nämlich nur deswegen wie einer aus, weil man als Maßstab lediglich die vorherigen Blindgänger anlegt.

"Stimmt alles, aber du bis trotzdem großartig. Hab dich lieb! Und jetzt koch dir was schönes, mach dir n Bier auf oder ein Glas Wein und lad' dir endlich mal die Datingapp runter, von der wir geredet haben, damit du mal auf andere Gedanken kommst."

-"Ich gönn mir dauernd irgendwas zu Essen, ein- bis dreimal die Woche bis zu ein Glas Wein oder Bier und das einzig interessante an deiner App ist, dass du da den Baumgeist gefunden hast, den ich sowieso nicht anschreiben würde, weil ich gerade besseres zu tun habe und dem sicher nicht nachlaufe."
"Ok, also warten wir wieder ein paar Monate auf eure nächste Begegnung, er erinnert sich vielleicht nicht mehr dran, dass er mal nüchtern mit dir quatschen wollte und wir finden nie raus, ob ihr das ultimative Traumpaar sein könntet? Klingt nicht so geil, der Plan."

- "Genau das machen wir. Wenn er sich nicht mehr erinnert, war's nur blöd dahergesagt, es besteht kein Interesse oder er säuft wie nochwas; in allen drei Fällen lautet die Diagnose: aussortiert.
Ansonsten lernt man sich halt kennen und schaut, ob da was sein könnte - oder eben nicht. "
Dory fühlt tendenzielle Zustimmung, zumal sie seinen Humor nicht mag und ihn deswegen auch nicht, findet aber dennoch, zu mir könnte der passen und man müsse da deswegen mal was machen.
Ich, Aussitzen und Ungewissheiten und Schwebezustände absolut hassend, werde von einem spontanen Anfall konstruktiver Gedankengänge getroffen, der meine Therapeutin stolz machen würde.
-"Nur, weil der tageslichttauglich ist, den passenden Musikgeschmack hat und anscheinend Bücher liest, heißt das nicht, dass man kompatibel wäre. Wir hatten's doch bei dem letzten Typ, den du getroffen hast, vom Unterschied zwischen "Das brauche ich" und "Das möchte ich" und dass das wichtig ist. Selbst, wenn ich merken sollte, dass ich echt Interesse an ihm habe und er auch an mir, was aktuell noch völlig unklar ist: ohne Kompatibilität im "Das brauche ich" bringt das auch nix."


Mir fliegt hier vielleicht grad alles um die Ohren und potenziell geht die Welt unter, aber ein paar Verlässlichkeiten scheint es nach wie vor zu geben:
- Der Zufall bastelt weiter eigentümliche Storylines, die entweder unerbittlich auf den Super-GAU zusteuern oder der Charakterentwicklung für die Vorbereitung grandioser Zeiten dienen
- mit Empathie, Verständnis,Gnade und guten Ratschlägen begegne ich vorwiegend anderen, statt sie mir selbst auch mal zu erlauben
- kein Bock auf's Kennenlernen oder Daten des menschlichen Äquivalents zu Discounter-Sonderangeboten
- keine Ahnung, wie ich aus dem ganzen Scheiß hier heil rauskomme
- da Teile davon nicht in meinem Einflussbereich liegen, übe ich mich im Aushalten, Aussitzen und Vertrauen auf Glück oder Zufall

Also eigentlich alles wie immer, nur mit voll aufgedrehtem Verstärker.