Sie hat sie ihren Schmuck geholt.

Auf der Suche nach dem Ehering meiner Mutter hat mein Vater die Plastiktüte, in die ihr Schmuck geworfen wurde, als ihr Zeug ausgeräumt wurde, hervorgeholt.
Und als die Vaterfreundin so dasaß und den Schmuck durchwühlte, holte sie aus der Tüte eine Kette hervor und meinte, die würde sehr gut zu ihrem Outfit für abends passen. Und ich saß da, abwechselnd hab ich sie angeguckt und den Schmuck, ein Knäuel aus Ketten und Broschen und Ohrringen, der dann ausgeleert auf dem Sofa vor ihr lag, wie ein toter Krake, den es an den Strand gespült hat, und während sie den Schmuck weiter entwirrte und meinte, wäre ja eine Schande, wenn der einfach nur rumliegen würde, wurde immer mehr sortiert, ein Paar Ohrringe, bei denen sich die Farbe löste-Mülleimer,
Ein Echtgoldarmband-anderer Haufen.
Eine Kette, die ihr gefiel-Tisch.
So zerlegte sie den toten Schmuckkraken, und ich saß da und hab die Vaterfreundin angesehen, abwechselnd sie und den sich auflösenden Kraken, Erinnerungen an eine Tote und einer Toten, und da wanderten ihre Lieblingsohrringe in eine Ecke, ihre Ringe in eine andere, dazwischen ein weniger hochwertiger, aus einem Kaugummiautomaten, den hatten wir mal zusammen geholt, damals, als sie noch hier war, und auf einmal sind da die Ohrringe.
Die hat sie mit der Zeit nicht mehr getragen, dachte,einer wäre verloren gegangen,aber das hatte sie sogar von ihren Lieblingsohrringen gedacht, die die Vaterfreundin gerade ineinander hakte, damit sie nicht wieder verloren gehen, und neben die anderen Paare legte.
Die Ohrringe, von denen der eine scheinbar verschwunden gewesen war, stammten aus Prag, waren lange nicht so hochwertig wie der Rest und bunt; sie hatte sie bei einem Straßenhändler gekauft, damals, als sie dort war, lange bevor ich da war und lange, bevor sie sich so völlig ruiniert hatte.Damals, als sie dort war, ich weiß nicht, ob sie da überhaupt schon mit ihm verheiratet war, aber das hatte ja so oder so keinen Einfluss darauf,dass sie es mit dem treu sein nicht so genau nahm, und ich weiß noch, wie sie erzählt hat, von Prag, als sie mit irgendeinem Kollegen gefühlte fünftausend Treppenstufen erklommen hat um dann über die Dächer von Prag zu gucken, und alle wären golden gewesen und das hätte so toll ausgesehen mit dem Sonnenuntergang.
"Nein."
Die Vaterfreundin sah mich überrascht an, fragte, wieso ich nicht wolle, dass sie "den Plunder" wegwirft, hielt aber inne in ihrer Bewegung.
"Weil ich es nicht will." Nahm die Pragohrringe und ging ins Bad, zum Schmuckkästchen, und legte die Pragohrringe vorsichtig zu meinen eigenen, die ich trotz Eineinhalbzentimeterohrlöchern teilweise immernoch habe.
Bei meiner Rückkehr Kopfschütteln der Vaterfreundin und die erneute Frage, was ich mit denen wolle, die wären doch viel zu bunt für mich und außerdem so ein billiger Schrott, wenn, dann solle ich mir doch was vom Echtgold nehmen.Ob ich fände, dass ihr die Kette, die sie sich genommen hatte, gut stehen würde? Undob ich ihr doch bitte mal mit dem Verschluss helfen könne, der wäre so schwer selbst zuzumachen.
Als sie in Erwartung einer Antwort auf- und mich ansah, war sie schlagartig ruhig.

Sie sind dann ausgegangen, mein Vater und seine Freundin mit der Kette, und nach ewiger Telefoniererei bin ich auch weggegangen, in die Absteige, ohne Kriemhild aber mit Nachbarin, und mit den Ohrringen.
Nach langem Überlegen im letzten Moment noch reingemacht, zwischen Tunnel und eigentliches Ohrloch geklemmt, zur Sicherheit noch ein Verschluss hintendran.


Als die Ohrringe und ich so draußen in der Kälte standen und auf die Nachbarin und deren Bruder, der uns fahren würde, warteten, erinnerte ich mich wieder daran, wie die Vaterfreundin einmal gesagt hatte, ich hätte die selben Augen wie meine Mutter.
Früher, da haben die Leute dauernd gesagt, ich sähe ihr ähnlich, "wie aus dem Gesicht geschnitten".
Sie haben damit aufgehört, als ich älter wurde und ..mehr so, wie ich eben bin.
Irgendwann habe ich es gar nicht mehr gehört, und dann, einen Tag vor der Sache mit dem Schmuck, da sagte die Vatersfreundin, ich hätte ihre Augen.

Ich stand dann vor dem Spiegel und habe Ähnlichkeiten gesucht, so, wie ich das schon mehrmals getan habe, habe gesucht, wo da meine Mutter ist, die Leute haben doch immer gesagt, sie wäre da.
Hab sie nicht gefunden, nicht in meine Augen, die graugrün und nur noch minimal blau sind, nicht so tiefblau wie ihre, nicht mehr in den Haaren, die lang und rot sind, nicht so wie früher, als wir beide den selben mausbraunen Kurzhaarschitt trugen, nur sie eben mit blonden Strähnen.
Nicht in der Nase, die niemals zur Stubsnase zurückmutieren wird, sondern immer das Modell Skischanze bleiben wird, das ich von meinem Vater geerbt habe.
Ein bisschen vielleicht in der Gesichtsform, die beim Analysieren schon selbsternannte Experten,die mir einen Pony verpassen wollten, verzweifeln ließ.
Bin wohl auch optisch nicht mehr als ich.

Es war ein seltsames Gefühl, so mit ihren Ohrringen unterwegs zu sein, fühlte sich anders an, auch, als wir dann in der Absteige saßen, Feindin, Feindinfreund, die Nachbarin und ich, und darauf warteten, dass endlich jemand anfing, zu spielen.
Schien sonst nicht weiter aufzufallen, die Nachbarin sagte zwischendurch, ich sähe schön aus an dem Abend, die Feindin zeigte sich eher distanziert und wir passierten die Smalltalklinie nicht, während ich, wie so oft in letzter Zeit, das Gefühl hatte, bei ihr unerwünscht zu sein.

Diesmal fing es nicht damit an, dass die Lichter ausgingen, sondern damit, dass eine Gestalt in kariertem Hemd auf die Bühne wankte, fast ihren Stuhl verfehlte, aber nur fast, die zwei Bierflaschen, die sie in einer Hand hielt, abstellte und anfing, Gitarre zu spielen.
Auf einmal neben ihm ein Percussionist, der im Laufe des Auftritts alles, aber wirklich alles für seine Zwecke nutzt, von der Waschschüssel übers Stuhlbein, klassische Unpluggedschlagzeugersatzgegenstände,Bierflaschen bis hin zu einem Plastikapfel.
Es war aber nicht der Percussionist, der auffiel, sondern der Fremde, der da auf seinem Stuhl saß und so wirkte, als würde er jeden Moment runterfallen; der das ganze Konzert lang die Augen nicht öffnete, auch nicht, wenn er in irrwitzigem Tempo über sämtliche Bünde der Gitarre wanderte und erst recht nicht, wenn er langsam spielte.
Und dieses Grinsen zwischendurch, das Grinsen eines Wahnsinnigen, immer wieder durchschnitt es die eher friedlichen Klänge; manchmal tauchte es auch auf, wenn er doch einmal sang, oft ganz,ganz leise, manchmal schrie er fast; und seine Stimme kippte immer wieder um wie er auch, und die Feindin flüsterte mir ins Ohr, so muss es bei einem Nirvana-Unplugged gewesen sein.
Die Gesichter des Restpublikums scheinen das selbe zu sagen und ein Blick zum in der Musik völlig versunkenen, irgendwie eindeutig nicht nur betrunkenen Fremden auf der Bühne gab ihr Recht.

Unbeschreiblich.
Wenn musikalische Genialität wirklich existiert, dann saß sie an diesem Abend vor mir auf der Bühne, fiel mehrfach fast vom Stuhl, sang von Leere und darüber, dass das Leben eine Hure ist, wirkte kaputter als kaputt und trotz absoluter Weggetretenheit irgendwie präsent.
Der Percussionist zeigte keine Regungen, nicht, als der Fremde mitten im Stück aufhörte zu spielen, nicht, als er die Gitarre auf den Boden warf, den Percussionisten verscheuchte und selbst anfing, irgendetwas zu trommeln, während er mit dem Fuß über die Gitarrensaiten schrubbte, und nicht, als er das Publikum beschimpfte; wohlgemerkt leise, überhaupt waren alle zusammenhängenden Aussagen leise. Auch sonst konnte man sie schwer als zusammenhängend erkennen, die Texte eher eine Mischung aus lallen, Lauten und manchmal schreien, trotzdem wusste ich,was er ausdrücken wollte.
Zwiegespaltenes Publikum, die einen verließen die Absteige, die anderen starrten auf die Bühne, und ich, die direkt vor ihm saß, wirkte wohl genauso weggetreten wie er und fühlte mich mindestens genauso seelisch gequält. Mitgefühl auf ganz neuer Ebene, wieso muss der auch das spielen,was ich fühle?
Das ganze Konzert eine Mischung aus Horrorshow und schamanischer Beschwörung, mit Musik, die eigentlich zu einem besinnlich-ruhigen Unplugged passte, aber durch ihn verdreht und auf uns aus Kanonen zurückgeschleudert wurde, und die Texte, die Textfetzen, die man verstand... Ich weiß jetzt, wie wirkliche gequälte Künstlerseelen aussehen.
Am Schluss ein Lied, das isoliert betrachtet nach fröhlichem Sommertag singt, aber in Verbindung mit der Art, wie er spielt, Suizid schreit, sowohl als Aussage als auch als Aufforderung, und er schwankt noch mehr und zuckt unkontrolliert, der Percussionist trommelt sich die Seele aus dem Leib und spielt gleichzeitig noch Mundharmonika, irgendwer wirft eine Bierflasche auf die Bühne und das Lied des Fremden endet mit
Life is a whore I really adore
Life is the joke I like the most
.
Wieder dieses irre Grinsen, sekundenlang ausgehalten im aushallen des letzten Akkords.
Dann steht er auf und öffnet zum ersten Mal an diesem Abend die Augen, wechselt ein paar Worte mit dem Percussionisten und wirkt mit einem Mal nicht mehr ganz so weggetreten.
Ein leises "Dankeschön" ins Publikum, dann räumt er zusammen mit dem Percussionisten die Bühne ab und verschwindet.
"Alter". Die Feindin wohl genauso beeindruckt wie ich, und mein Herz tut gerade weh, nicht wegen ihm, sondern wegen der Musik.
Als die Nachbarin sich herdreht und sagt, sie fand das sehr entspannend, die Musik wäre so fröhlich gewesen, bin ich nicht die einzige, die sie mit einem klaren "Bist du blöd?" im Gesicht anschaut. Sie fragt mich, ob das nicht stimmt, ob irgendwas nicht passt.. aber was will ich ihr sagen? "Die konzentrierte Depression, der Ausdruck des ganzen seelischen Leids, dass es auf der Welt gibt, saß da reingepfropft in diese einzelne Person auf der Bühne, die wie ihm Wahn vertonte Abgründe auf uns abgefeuert und uns eingepflanzt oder aus uns hervorgefholt hat?" Hätte sie nicht verstanden.
Nehme ich ihr auch nicht böse.
Ich fasse mich und sage ihr, die Texte seien alles andere als entspannt und fröhlich gewesen. Das ist eine greifbare Erklärung, die sie versteht.
Sie sagt dann aber, das habe sie nicht so empfunden,aber sie könne ja auch kein Englisch, vielleicht läge es daran.
Ich verzichte darauf, ihr zu sagen, dass ich ihn oft genug nichtmal verstanden habe, wenn er auf Deutsch gesungen hat.
Die Feindin wirkt immernoch etwas mitgenommen, starrt auf einen Brandfleck am Tisch, dann schaut sie mich an und meint wieder nur "Alter."
Ihr Freund schüttelt nur den Kopf. "Krasse Sache".
So starren wir drei vor uns hin, während die dauergrinsende Nachbarin nebendran sitzt und sich selbst davon nicht irritieren lässt, und als spontan jemand anderes auf die Bühne steigt, es ist ja open stage, und eine Mischung aus Countrypop und Phil Collins spielt, da freut sie sich noch viel mehr, während es mir fast schon physische Schmerzen bereitet, weil es nach dem,was vorher war, einfach nicht auszuhalten ist.

Als ich rausgehe, sehe ich, wie der Percussionist den Fremden in Richtung eines Autos schiebt. Dort lehnt eine blasse, dünne blonde Frauengestalt und scheint schon zu warten. Zusammen hieven sie den Fremden auf die Rücksitzbank, steigen ein, fahren los und sind dann weg.

Heilige Scheiße.





huehnerschreck, Montag, 5. Dezember 2011, 16:15
die sache mit dem schmuck ... sehr krass. so distanzlos und ... mannohmann ... mir fehlen die worte. abgefahren.
es wäre ja wohl mehr als angebracht gewesen, dir die ganzen sachen zu übergeben, ohne wenn und aber, und falls (FALLS!) du dich dazu entscheidest, irgendwas weggeben oder entsorgen zu wollen, dann dürfte sie _VIELLEICHT!!_ drüber gucken.

ich frage mich, ob sie noch alle latten am zaun hat ...

und das konzert in der absteige: wow. heftige nummer.

ich meld mich demnächst, wenn ich wieder fit bin (mich legt grad n infekt lahm).

fühl dich gedrückt!


threebluesheeps, Montag, 5. Dezember 2011, 17:37
da bin ich ganz der Meinung von huehnerschreck


mayhem, Dienstag, 6. Dezember 2011, 20:02
ob die frau noch ganz normal ist, frage ich mich ständig, auch,wenn ich die antwort (NEIN!) ja eigentlich weiß.^^

das konzert war wirklich krass. vor allem war das das erste "echte" drogenopfer, dass mir einfach so in zivil übern weg gestolpert ist.
(ich gehe schwerstens davon aus,dass er nicht von bisschen alkohol und der musik so war).
Ungelogen, das stand Kurt Cobain zu "besten Zeiten" (soweit man diese anhand von Videos usw beurteilen kann) in nichts nach. Sowohl an Weggetretenheit als auch an musikalischer Ausdruckskraft. Und das muss man erstmal schaffen.


@huehnerschreck: gute besserung!