Thema: monolog
Es ist wieder Ende Mai, bald haben wir Juni. Juni, damals.
Das Festival, jedes Jahr.
Dass es schon wieder soweit ist..
dass es so lange her ist.
Kannst du das glauben?
Bald hat mein Katerchen Geburtstag.
6 Jahre alt wird er.
Einschulung.


Und wieder so vieles, was niemals auch nur ansatzweise am Rande meiner Vorstellung aufgetaucht war; vorbeigerast wie die Sportwagenfahrer an meinem Fahrschulauto.
Weißt du, wir stecken hier immernoch in der Krise; du hast es damals vermutlich nicht richtig mitbekommen, weil du keine der Personen warst, mit denen ich darüber geredet habe, aber ich denke, du hast mitbekommen, dass es irgendwie nicht so läuft, wie es sollte.
Vermutlich ist das untertrieben. Manchmal läuft garnichts und wenn doch, dann sind wir es, die laufen, und zwar auf den Abgrund zu, ob wir wollen oder nicht.
Ich akzeptiere es, was bleibt mir auch anderes übrig? Mir fehlen Kraft und Mut, um zu kämpfen, und es gibt so vieles, wofür ich trotzdem kämpfe, auch, wenn es doch genauso sinnlos erscheint..
Aber die Sinnlosigkeit des Versuchs, das hier irgendwie zu retten, bleibt unerreicht.
Also gehen wir immer weiter auf den Abgrund zu.
Und fallen.
Ich akzeptiere es.
Und wer weiß, wo so ein Sturz hinführt.

Wir stecken hier immernoch in der Krise; es geht wieder los mit dem Anschweigen, Kommunikation ist reduziert auf Vorwürfe und Anschnauzen, obwohl ich doch garnichts falsch gemacht habe; aber vielleicht sind das seine Nerven, die blank liegen und auf denen irgendjemand Salsa tanzt und sie dabei kaputttrampelt.
Morgen kommt mein Großvater ins Pflegeheim, weißt du.
Der Kumpel ist Pflegeheimsangestellter, er hat geschrieben, es gibt immer einen anderen Weg, aber anscheinend gibt es für uns keinen, jedenfalls hat Papa Mayhem das alles so organisiert, und weil er nicht irgendjemand ist, sondern Papa Mayhem, hat mein Großvater doch noch einen Platz bekommen. Im Nachbarort, immer, wenn ich zum Bahnhof laufe, komme ich auch am Heim vorbei. Vor dem eigentlichen Eingang steht eine Statue und außenrum ein Gitter, keine Ahnung, wie man da reinkommen soll.
Wir schauen seinem Verfall jetzt also nicht mehr täglich in halbwegs erträglichen Dosen zu, sondern bekommen immer die konzentrierten Teilergebnisse ins Gesicht geschlagen, nachdem wir mit einem zuckersüßen "Guten Tag Herr Mayhem, Hallo mayhem, er hat sich ja so auf Ihren Besuch gefreut" begrüßt worden sind.

*
Ab morgen ist das Schlachtschiff, Opa Mayhems Schlachtschiff, im Besitz des Klempnersohns. Wieder für einen Spottpreis, wie damals auch der Polo.
Der Klempnersohn macht gerade den Führerschein fürs begleitete Fahren, und was bietet sich da mehr an, als ihm einen beinahe dreißig Jahre alten Originalmercedes günstiger zu überlassen, als der Kommentator seine Kamera gekauft hat?
Lebe Wohl, Schlachtschiff. Entgegen Opa Mayhems Prophezeiung ist es nichts mit uns geworden und ich hatte nicht die Ehre, dich einmal fahren zu dürfen.
Opa Mayhem, sie werfen dein Auto weg.
Er hätte es sonst verschrottet, jetzt fährt es der Klempnersohn zu Schrott.
Aber Opa Mayhem ist zu reduziert, um es verstehen oder begreifen zu können.
Und ab morgen ist er nicht mehr hier, sondern im Heim.
Hättest du das gedacht, damals?

*
Vermutlich unternimmt mein Vater wieder einen Versuch, es zu verdrängen.
So werde ich eben angeschnauzt, wenn er nicht gerade den Wohnzimmerboden heraus- und die Tapete abreisst, die neuen Möbel, die er mit der Vatersfreundin bestellt hat, kommen bald und er will davor Fliesenboden verlegt und die Wände neu tapeziert haben; außerdem will er das Klingelschild neu beschriften, das ausgedruckte Kärtchen liegt bereits fertig auf dem Küchentisch, und darauf steht "Papa Mayhem, mayhem und auch die Vatersfreundin".
Ich habe ihn gebeten, mit dem Zusammenziehen doch bitte zu warten, bis ich das Haus verlassen habe, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass das Klingelschild nur eine Drohung und ein dunkler Vorbote der anstehenden Hölle, aber keine akute Ankündigung war und lediglich vorbeikommende Leute darüber informieren sollte, dass die Vatersfreundin gelegentlich auch eine Zeit lang hier verweilt.
Er hat sich vermutlich etwas vor den Kopf gestoßen gefühlt, aber unser aller Seelenheil hatte in diesem Fall ganz eindeutig Vorrang, und wenn sonst schon niemand das Bedürfnis hat, sich darum zu kümmern, muss ich es eben tun.
Reicht schon, wenn auf Papa Mayhems Nerven Salsa getanzt wird, da muss nicht auch noch die Gesamtsituation ankommen und versuchen, unsere zu zerreißen.


Vielleicht ist es gerade meine Fragilität, die dafür sorgt, dass meine Nerven, im Gegensatz zu denen anderer Mitmenschen, von der besonders stabilen Sorte sind, wie die Metallhaarnadeln, die von der amerikanischen Glaubensgemeinschaft, die sie fertigt, nicht nur als "heavy duty" bezeichnet wurden, sondern auch (natürlich rein theoretisch) zum Knacken von Türschlössern taugen würden, hätte ich genug Kraft, sie in eine entsprechende Form zu bringen.
Allerdings lassen sich die Haarnadeln weder durch Gewalt, noch durch Dutt (was ja prinzipiell fast das Gleiche ist) verbiegen.
Wenigstens eine feststehende Konstante hier.


Vermutlich habe ich auch HeavyDutyNerven, wo auch immer sie herkommen.
Und vermutlich werde ich sie brauchen, jetzt, wo die Vatersfreundin selbst dann anrückt, wenn sie eigentlich auf Kur sein sollte und sich auch sonst Krise an Krise reiht.
Erstaunlicherweise ist da weder Weltuntergangsverzweiflung, noch allzu große Angst.
Man hat nur Angst, wenn man mit sich selber nicht einig ist (Hermann Hesse).
Und im Gegensatz zu früher habe ich eine Art Gleichgewicht gefunden. Ich bin bei mir angekommen und mir mit mir einig.
Zumindest halbwegs.

Hättest du das gedacht?