Thema: monolog
Und dann kommt der Raucher zurück und hat Esmeralda im Schlepptau, die sich sogar die Mühe macht, ihre Schuhe auf der Fußmatte abzustellen und mich grüßt, und hinter ihr folgt Mr. Gaunt, der sich ducken muss, um nicht mit dem Kopf am Tührrahmen anzustoßen, seine Flasche Schnaps nicht selbst leert, sondern originalverschlossen dem inzwischen nur noch dümmlich grinsenden Raucherbruder in die Hand drückt und sich anschließend neben dem Mischpultmann, der sich förmlich auf den Sitzplatz an meiner Seite geworfen hatte und auf dessen Schoß noch immer der kichernde Musiker sitzt, aufs Sofa fallen lässt.
Feststellung des Abends: Mr. Gaunt ist potenzieller Auslöser des Machete-Syndroms. Eigentlich ist der Gute ein Stückchen zu alt, optisch nicht gerade das, was die meisten Leute als "ansprechend" bezeichnen würden und zudem mit diversen obskuren Tätowierungen verziert,aber aufgrund nicht näher nachvollziehbarer Umstände augenscheinlich die Inkarnation aller Begierden.
Ganz so schlimm ist es bei mir dann doch noch nicht, allerdings gehöre ich auch zu den geschätzt fünf Prozent der weiblichen Kleinstadtbewohner unter 60, die beim Anblick des oberkörperfreien und arbeitsverschwitzten Rauchers nicht sofort jegliches rationales Denken abschalten.

"Mädels, das is mein Platz. Aufstehn!" Eigentlich will sich der Raucher seinen Platz neben mir zurückerobern,aber der Mischpultmann macht keine Anstalten, sich und den mittlerweile mal wieder von der angeblichen Schönheit der französischen Sprache schwärmenden Musiker auf einen der unbequemen Klappstühle zu befördern. So einen könne sich doch der Raucher nehmen , meint der Mischpultmann, und vermutet ganz selbstbewusst, ich hätte bestimmt keine Probleme damit, neben ihm zu sitzen und den restlichen Abend lang sein blödes Gerede zu ertragen.
"Doch." Das allgemeine Verlorensein und die Aggression, die der Mischpultmann auslöst, sorgen für eine relativ klare Ansage.
Legolas und Esmeralda grinsen, die Raucherschwester macht sich ein weiteres Bier auf und gibt mir ein Daumen hoch, der Vater aller KBMs und seine Klone schütteln den Kopf und beginnen mutmaßlich, über mich zu lästern.
Aber da ist wieder ein bisschen Selbstsicherheit, immerhin, und als der Raucher einen weiteren Stuhl holen will, ihn vor lauter Rückenschmerzen aber beinahe sofort wieder fallen lässt, stehe ich auf und helfe ihm, und weil ich eigentlich sowieso nur meine Ruhe haben will, nehme ich mir auch einen und wir tun das, was wir am Besten können: Uns in eine Ecke setzen und Gitarre spielen. Eigentlich hört sich das, was ich auf Keyboards und Klavieren produziere, besser an als spontane Gitarrenvergewaltigung am frühen Morgen, aber das Saiteninstrument erschien mir eindeutig transportfähiger und zumindest ein bisschen resistenter gegen eventuelle Bierfontänen.
Und wir sitzen da und spielen, die meisten Paare bleiben verschwunden und auch der Raucherbruder kommt nicht wieder, dafür kehrt ein wenig Sicherheitsgefühl zu mir zurück; die Angst wird langsam weniger und ich fühle mich nicht mehr ganz so verloren. Die Welt kommt wieder ein bisschen ins Gleichgewicht, und irgendwann ist da Mr.Gaunt, der kurzerhand den Bass des Pinguins, der direkt von einem Auftritt hergefahren war, an sich genommen hat und einfach so mitspielt, und es funktioniert, ohne jegliche Verständigung und ohne, dass er einmal den Blick vom Boden hebt, um zu sehen, was er spielt oder was wir spielen.
Wir sind irgendwo zwischen Nirvana, Bob Dylan und konzerntrierter Melancholie mit Tendenz zu Letzerem, die sich noch verstärkt und ins Verzweifelte übergeht, als am Schluss nur noch Mr.Gaunt und ich das Outro spielen.

Dann Stille, wir schauen uns an und wissen nicht, was jetzt, denn eigentlich ist alles gesagt, und so viel mehr, als man mit Worten hätte ausdrücken können...
Von Mr.Gaunts Coolness ist nichts mehr übrig, als er den Bass zur Seite stellt, aufsteht und seine Jacke holt.
Im Türrahmen bleibt er stehen, ich spüre seinen Blick, obwohl ich gerade mit dem Rücken zu ihm knie und meine Gitarre einpacke.
"Ich hab nichts dagegen, wenn wir das mal wiederholen, mayhem."
Innerlich irgendwas, das sich verdächtig wie völlig sinnfreie Schwärmerei anfühlt , und ich kann mir gerade noch das verblödete Grinsen verkneifen und ein halbwegs neutrales "Klar, gerne" rausquetschen, bevor ich mein Instrument auf der Rücksitzbank des Mayhemmobils querlege, vor lauter Seligkeit fast vergesse, wieder abzuschließen, beim Weg zurück ins Haus beinahe über den Raucherhund stolpere und seinen Besitzer so lange dämlich angrinse, bis dieser mich auf den Boden der Tatsachen zurückholt, indem er mich fragt, wann diese Wiederholung denn stattfinden würde.
"Keine Ahnung....ich denke mal, ich werd ihn schon mal wieder sehen, wenn nicht gibts ja auch noch das soziale Netzwerk meines Misstrauens, und für absolute Notfälle das Fratzenbuch."
-"Damit kommst du aber nicht weit, der is nicht im sozialen Netzwerk, und beim Fratzenbuch erst recht nicht. Haste nich nach seiner Nummer gefragt?"
"Nee, hab ich mich nicht getraut."
-"Wie sagste immer: Das is jetzt natürlich unpraktisch".
"Vermutlich hast du Recht."

Und da sitze ich, umzingelt von den übrig gebliebenen KBMs, dem Musiker, der nur noch manisch lacht und jeden umarmen will, und dem Mischpultmann, der mir erklärt, was für ein schlechter Mensch Mr. Gaunt doch ist, und komme mir wieder so verloren vor. Und doof. Und etwas naiv. Und wieder, so furchtbar verloren.
Ich weiß nicht, ob sie es sind, die normal sind, oder ob ich es bin. Oder ob es die da draußen sind, mit denen ich nur noch in Zweckgemeinschaften zu tun habe, weil ich mit ihnen noch weniger gemeinsam habe als mit denen, die mir am Wochenende begegnen.
Und wieso es immer die gescheiterten Existenzen sind, die mich anziehen und die sich um mich sammeln.
Ob meine Existenz nicht noch viel mehr gescheitert ist als ihre.
Oder ich mich nur reinsteigere.

Und es bleibt die Frage nach dem warum, und die Feststellung, dass doch eigentlich alles ganz anders sein sollte.





arboretum, Freitag, 16. November 2012, 23:36
Wer sagt denn, dass Mr. Gaunt nicht die Initiative ergreift, um das zu wiederholen? Er wird dann auch schon wissen, wie er Euch findet.


mayhem, Montag, 19. November 2012, 15:28
im idealfall tut er das. ich bin mir aber bei ihm nicht sicher, ob er nicht vielleicht einfach nur "cool" ist, weil er seine unsicherheit überspielen will, eine zeit lang hatte ich das auch und mache es phasenweise immer noch unbewusst.